Ryugin – Gesang der Drachen

Ryūgin – Gesang der Drachen

Draußen vor dem Fenster liegt dichter Nebel.
Das Dorf und die Kirche sind verschwunden, nur die Glocken klingen gedämpft und fern.
Direkt vor meinem Fenster der knorrige Stamm des toten Apfelbaumes, dahinter verhangen im Nebel die Felsenbirne mit ihrem feurig roten Herbstlaub.br /> Sogar das Internet über Funk ist ausgefallen, weil das Signal des nächsten Senders vom Nebel verschluckt wird.
Rundherum: reine Stille!
Es ist, als wäre die ganze Welt verschwunden. Ich werde still und staune!

Im Zen sagt man, dass nun die Zeit des Goldenen Windes kommt. Der Goldene Wind weht das farbige Herbstlaub zu Boden. Die reine Leere erscheint und bald stehen kahle Bäume in winterlichen Weiß. Sie gleichen toten Holzpfählen, die leblos im Nebel stehen. Hölderlin dichtet in einem kleinen Gedicht, das sein Letztes ist, das er noch selbst veröffentlicht hat:

Der Winkel von Hahrdt
Hinunter sinket der Wald,
Und Knospen ähnlich, hängen
Einwärts die Blätter, denen
Blüht unten auf ein Grund,
Nicht gar unmündig.

Der Winkel von Hardt – oder wie Hölderlin schrieb Hahrdt – ist eine Felsformation im Wald beim Dorf Hardt, am Hang gegenüber von Hölderlins Heimatstadt Nürtingen. Wer einmal dort gewesen ist, spürt eine geradezu magische Anziehungskraft dieses versteckten, ‚gesparten‘ Ortes. Der Wald sinkt hinunter. Es ist genau die Zeit des Goldenen Windes. Langsam ziehen die Bäume ihren Lebenssaft zurück und sammeln ihre Kraft in den Wurzeln. Die Blätter werden welk und hängen ‚einwärts‘, ganz in sich zurückgezogen. Aber es ist nicht die Trauer des Abschieds oder des Todes. Sie blühen auf – ‚Blüten gleich‘ – in der vollen und atemberaubenden Schönheit des Herbstes. Bald lösen sie sich, und beim leisesten Windstoß fallen sie ganz von allein. Aber sie fallen nicht in einen bodenlosen Abgrund. Ihnen ‚blüht unten auf ein Grund‘ in prachtvollen Herbstfarben. Die blütengleichen Blätter und der aufblühende Grund neigen sich einander zu in tiefer Zu-Neigung und schenken sich gegenseitig die prachtvoll leuchtenden Farben des Herbstes. Aber es ist die Farbe des Weg-Ganges. Was bleibt, sind die kahlen Bäume des Winters und das farblose Weiß.

Einmal fragte ein Mönch seinen Zenmeister (Tōsu Daidō 819 – 914):
»Gibt es den Gesang der Drachen in den kahlen Bäumen oder nicht?« Drachen singen in kahlen Bäumen? Der Meister antwortete: »Ich sage: Es ist das Brüllen des Löwen in Totenschädeln!«

Die trockenen und kahlen Bäume sind wie die Totenschädel, der Gesang des Drachen ist wie das Gebrüll des Löwen? Das ist umso verwunderlicher, als die Wendung shishi-ku, Löwengebrüll für die Predigt des Buddha gebraucht wird, mit der er die Möglichkeit der Befreiung vom Leiden kündet. Der Gesang des Drachen im kahlen Holz ist nicht anderes als die frohe Botschaft, dass es die Befreiung vom Leiden gibt?!

Zenmeister Dōgen sagt (Dōgen: Shōbōgenzō, Kapitel 65, Ryūgin.):

»Es gibt Bäume in den Bergen und Tälern, auf den Reisfeldern und in den Dörfern!
Die Bäume in den Bergen und Tälern sind Kiefern und Eichen, die Bäume auf den Reisfeldern und den Dörfern sind himmlische Wesen und Menschen.«

Auch die Menschen sind Bäume. Sie wurzeln im Boden der Tradition und der Überlieferung. Sie tragen Früchte, und die Lebenskraft fließt von den Wurzeln bis in den Himmel und lässt Blüten und Früchte wachsen. Manchmal scheint die Lebenskraft zu schwinden und der Baum wird wie trockenes Holz. Alles Leben, alle Freude scheint gewichen zu sein.
Jemand, der bewegungslos in tiefer Meditation sitzt, sieht aus wie ein lebloser trockener und toter Baum oder ein Totenschädel, der sich nicht mehr bewegt. Er ist scheinbar abgestorben und wie totes Holz oder kalte Asche. Aber wer das so sieht, hat niemals die Stille und die Kraft in der Meditation erfahren. »Solche Menschen denken, kahle Bäume seinen völlig ausgetrocknet und würden den Frühling niemals mehr erleben«, sagt Dōgen. Das bewegungslose Sitzen aber ist wie die Rückkehr in die Wurzeln, der Kontakt mit dem Ursprung des Lebens. Wer so austrocknet, dass er im Frühling keine mehr Blüten treibt, der hat niemals den Gesang der Drachen vernommen.

Einst versorgte eine alte Frau einen jungen Mönch, damit er in seinen Übungen Fortschritte machen könnte. Nach 20 Jahren Übung saß er wie totes Holz oder kalte Asche. Aber die alte Frau war misstrauisch und schickte ihm eine junge schöne Frau. Die schmiegte sich wie eine blühende Ranke an ihn, während er in Meditation saß. Aber er rührte sich nicht und sprach nur die Worte:

Ein alter Baum wächst auf einem Fels im Winter.
Nirgends eine Spur von Wärme!

Als die alte Frau das hörte, wurde sie sehr zornig, ging zur Hütte des Mönches und brannte sie nieder. Wenigstens auf diese Weise kam Wärme in seine Empfindungen!
Zenmeister Ikkyū (Ikkyū Sōjun 1394 – 1481) dichtete als Antwort auf diese alte chinesische Geschichte:

Wollte sich mir / heute Nacht / eine schöne Frau versprechen, / die verdorrte Weide / würde Knospen treiben / wie im Frühling.

Die Zenmeister des alten China haben offenbar sehr oft über den Gesang der Drachen in den dürren Bäumen gesprochen. Jedenfalls überliefert der japanische Zenmeister Dōgen viele ihrer Gespräche über den Drachengesang.

Ein Mönch fragte den Meister:
»Was ist der wahre WEG?«
»In einem kahlen Baum singt ein Drache!«

Aber der Gesang der Drachen ist nicht mit den Ohren zu hören. Dōgen sagt, der Gesang der Drachen stammt nicht aus der Welt der fünf Töne. Die Fünf Töne sind die Tonleiter der pentatonischen Tonleiter. Sie bilden den gesamten Kosmos ab. Es sind keine Stimmen oder Töne, die den Gesang bilden. Eigentlich ist die Wendung Gesang nicht ganz richtig. Das Wort Gin 吟 bezeichnet vielerlei Geräusche vom Singen, Rezitieren, Ächzen, Stöhnen bis hin zum Brüllen und Heulen. Der Gesang in Noh-Theater, der für unsere westlichen Ohren nicht gerade schön und melodisch klingt, wird damit bezeichnet.

Der Drachengesang ist nicht immer schön und lieblich. Gerade die kahlen Bäume des Winters sind der Gesang der Drachen. Die Kahlheit zeigt den Rückgang zu den Wurzeln. Von außen gesehen ist es die Kargheit oder gar der Tod. Aber wer Augen hat zu sehen, weiß, dass es die Rückkehr zum Ursprung ist. Nicht nur der Rückgang in den Ursprung ist der Drachengesang. Dōgen sagt: »Das Keimen des Samens ist auch der Gesang der Drachen!« Das gesamte Leben ist Drachengesang. Auch der kleine Hund zu meinen Füßen, der im Schlaf bellt, weil er im Traum mit anderen Hunden spielt, ist Drachengesang.

Der chinesische Meister Zhuangzi beschreibt, wie der Meister Nanguo Ziqi – Meister ‚Buntgescheckt vom Südweiler‘ – in Meditation auf seine Armlehne gestützt zum Himmel aufschaut, langsam ausatmet und sich leer macht. Plötzlich war er in tiefer Meditation versunken und hatte scheinbar jedes Bewusstsein seines Ich-Begleiters, seines Ego verloren.
Meister Yan Cheng Zi-You – nach einer Übersetzung heißt er ‚Herr Wanderer von völliger Gemütsruhe – der vor ihm stand und ihm aufwartete, war erstaunt, als er den Meister sah, wie dessen Herz oder Geist »wie tote Asche oder trockenes Holz« wurde. Alle Leidenschaften und persönlichen Gefühle, Ängste und Sorgen waren von ihm abgefallen und er sprach:

Gerade habe ich mich selbst verloren. Du magst die Flöten der Menschen gehört haben, aber nicht die Flöten der Erde. Du magst die Flöten der Erde gehört haben, aber nicht die Flöten des Himmels.

Herr Wanderer verstand nicht, was die Flöten des Himmels sein sollen. Er kannte nur die Flöten der Menschen, die wie »aufgereihte Bambusrohre« sind. Je lauter diese Flöten klingen und ihren Lärm verbreiten, desto weniger vermag man die Flöten des Himmels zu vernehmen. Bevor ihm Meister Nanguo die Flöten des Himmels erklärte, schilderte er ausführlich eine andere Art von Musik, die Flöten der Erde:

Der Große Klumpen – die Erde – stößt einen Lebensatem (Ki) aus, den man Wind nennt. Solange er nicht bläst, geschieht nichts. Hebt er jedoch zu blasen an, dann beginnen Myriaden Löcher zu heulen. Hast du nie sein Seufzen gehört?
Die Spalten und Klüfte der aufsteilenden Berge, die Löcher und Hohlräume der riesigen Bäume von hundert Spannen Umfang: Sie sind wie Nasenlöcher, wie Münder, wie Ohren, wie Sockel, wie Becher, wie Mörser, wie die Kuhlen, in denen sich Pfützen und Teiche bilden. Der Wind bläst über sie hinweg und macht das Geräusch von sprudelndem Wasser, von sirrenden Pfeilen, schreiend, keuchend, rufend, weinend, lachend, grollend. Die erste Böe singt Ayii, der folgende Windstoß singt Houuu. Eine leichte Brise ruft eine kleine Antwort hervor, ein heftiger Sturm lässt einen mächtigen Chor erschallen. Verebbt das Stürmen, so sind alle Höhlungen still. Hast du nicht die Blätter gesehen, wie sie in tönendem Nachhall erzittern?

Meister Nanguo beschreibt ganz offenbar den Gesang der Drachen. Der ist nicht wie der Gesang der Menschen. Aber wer die Drachen gehört hat, singt fortan anders. Dōgen sagt: »Die Menschen, die das Singen der Drachen hören, und auch selbst singen können, unterscheiden sich sowohl von einem singenden Drachen als auch von einem singenden Menschen! Die Melodie ihres Gesanges ist der Drachengesang selbst. In einem kahlen Baum und in einem Totenschädel gibt es kein Innen und kein Außen – kein Selbst und keine Anderen! Hier ist das Jetzt der Ewigkeit!« Wer den Drachengesang gehört hat, wird Eins mit Allem! Er singt fortan aus dieser Einheit, in der es keine Angst vor dem Anders-Sein, kein Misstrauen und keine Missgunst mehr gibt.

So hatte auch Meister Nanguo seinen Ich-Begleiter, sein Selbst verloren. Er war Eins geworden mit dem Hören der Töne des Himmels. Aber die sind noch anders als das Tönen der Erde, die er vorher beschrieben hatte. Die Flöten des Himmels klingen unhörbar und tonlos! Der Herr Wanderer, der dem Meister Nanguo Ziqi aufwartete, fragte denn auch noch einmal nach:

Die Töne der Erde – di lai – sind keine anderen als all jene Höhlungen, die ihr beschrieben habt. Die Töne der Menschen – ren lai – sind die der aufgereihten Bambusröhren. Darf ich fragen, was die Töne des Himmels – tien lai – sind?

Das Leer-Werden ist die Voraussetzung dafür, dass die Töne in dieser Leere klingen können. Sind die Höhlungen und ×ffnungen der Erde angefüllt, so klingen sie nicht. Die Töne der Erde sind die Geräusche, die der Lebensatem, der Wind erzeugt, wenn er über die Höhlungen fährt. Die Frage ist, welche Höhlungen tönen, wenn es um die Musik des Himmels geht. Die Wendung tien lai – Flöten des Himmels – wird auch für schöne Poesie verwendet. Die Poesie ist wie der Gesang des Lebensatems, des Windes am Himmel. Der Meister Nanguo Ziqi beantwortet die Frage nach dem Ursprung der Himmels-Töne mit einer entscheidenden Wendung:

Die Töne des Himmels – tien lai – blasen auf 10 000 verschiedene Weise und sie bewirken sich selbst – zi ji. All dies ergibt sich selbst – zi qu, wer sollte dies betreiben?

Die Töne des Himmels sind von selbst so! Da ist niemand und nichts, was sie erzeugen oder betreiben würde, sie sind einfach. Die Töne der Erde sind die Antwort auf den Lebensatem, die Töne des Himmels sind einfach da. Eigentlich sind die Töne des Himmels auch überhaupt nicht hörbar. Wir hören immer nur die Töne des Menschen, die oft so laut sind, dass sie alles andere übertönen. Verstummen die Töne des Menschen, so fliehen wir oft in das laute Getön des alltäglichen Getriebes, weil wir die Stille, die sich dann auftut, nicht mehr ertragen können. Die Stille spricht nicht mehr zu uns, weil wir durch das tägliche Getöse taub geworden sind.

Im Gesang »Der Archipelagos« schildert Hölderlin, wie die Menschen in rastlosem Treiben gefangen sind und sich selbst in gewaltigem Lärm des rastlosen Machen-Müssens betäuben:

Aber weh! es wandelt in Nacht, es wohnt, wie im Orkus,
Ohne Göttliches unser Geschlecht. Ans eigene Treiben
Sind sie geschmiedet allein und sich in der tosenden Werkstatt
Höret jeglicher nur und viel arbeiten die Wilden
Mit gewaltigem Arm, rastlos, doch immer und immer
Unfruchtbar, wie die Furien, bleibt die Mühe der Armen.

Die Menschen sind ‚allein‘ also ausschließlich ans eigene Treiben geschmiedet und dadurch ‚allein‘ und einsam. Sie sind unfrei und ausschließlich an ihr rastloses Treiben gekettet. Dadurch sind sie allein, ohne echte Bindung an die Anderen oder das Göttliche. Der tosende Lärm der rastlos tobenden Werkstatt übertönt nicht nur die Töne der Erde, sondern auch die unhörbaren Töne des Himmels. Wie sollten die Menschen da in der Lage sein, das Singen des Drachen zu vernehmen?
So fragte auch einst ein Mönch ganz besorgt den Meister Sōzan:

»Ich frage mich, ob es einen Menschen gibt, der das Singen des Drachen hören kann!«
Sōzan antwortete:
»Auf der ganzen Erde
gibt es niemanden, der es nicht hört!«

Erstaunlich! Wenn die Menschen mit ihrem eigenen Getöse die tonlosen Töne des Himmels und des Drachengesanges übertönen, gibt es dennoch nicht einen einzigen Menschen, der den Drachengesang nicht hört? So erstaunlich das klingen mag, aber der Gesang des Drachen ist das Strömen des Atems und das Fließen des Blutes. Bei einer Gelegenheit antwortete ein Meister auf die Frage:

»Was ist das Singen des Drachen in einem kahlen Baum?«
»Das Blut des Lebens versiegt niemals!«

Wieder ein anderer Mönch fragte:
»Was singt der Drache in einem kahlen Baum?«
»Immer mehr Freude!«

Das Singen der Drachen ist das natürliche Wirken von Wasser und Wolken, das Fließen des Lebens und die Luft, die durch die Nasenlöcher strömt. Die zehntausend Melodien, die der Drache singt, ist nicht ein Reden über Prinzipien und die Wahrheit, es ist »das Quaken der Frösche, dass Freude bleibt und das Singen der Würmer, dass es ein Wissen gibt. Das Singen der Drachen ist immer und überall, aber wir können es nur wirklich mit unserem ganzen Wesen hören, wenn wir zuvor den Schritt zurück aus dem rasenden Machen in die Stille wagen.

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