IRO - Farbe und Farbtöne

Auffällig ist, daß es in der alten japanischen und chinesischen Sprache nur sehr wenige Worte für differenzierte Farbtöne und ihre Bezeichnungen gibt.
Ursprünglich kamen möglicherweise die Bezeichnungen für die Farben aus der technischen Bezeichnung für gefärbte Stoffe. Da nur sehr wenige Pflanzenfarben zum Färben zur Verfügung standen, die einigermaßen dauerhaft waren, beschränkte sich die Auswahl auf vier Bezeichnungen:
aka - rot, ao - blau, shiro - weiß und kuro - schwarz.
Diese Termini bezeichnen aber weniger Farben in unserem heutigen Sinne als vielmehr Helligkeitswerte, die zugleich auch Gemütszustände sein können:
aka leuchtend, hell (feurig), leidenschaftlich, rot;
ao unklar, vage, unentschieden wie die Farbe entfernter Berge, halbdunkel;
shiro klar, hell, eindeutig sichtbar, eigentlich aber farblos
kuro dunkel, verborgen, geheimnisvoll.
Am auffälligsten zeigt sich dies bei der Bezeichnung für grün - ao, das sowohl blau, grün oder indigo bezeichnet. Noch heute sind unreife Äpfel in Japan "blau" - ao. Erst in der neueren Sprache gibt es midori als Bezeichnung für grün. Farbe und Farbtöne werden nur für vom Menschen Gemachtes und Gefärbtes verwendet. Farbe ist immer eingefärbt, das heißt vom Menschen gemacht. Die Natur, so wie sie von sich aus ist, hat keine Farbe.
Weil die natürlichen Farbtöne, die man in früher Zeit einfärben konnte, immer sehr schnell wieder verblaßten, ist Farbe einerseits von außen eingeprägt und andererseits einem ständigen Wandel und dem Vergehen unterworfen. Farbe ist Vergänglichkeit.

Farbe: Etymologie des Schriftzeichens IRO

Entwicklung des Schriftzeichens 'IRO'

Das chinesische Schriftzeichen für iro (1) zeigt zwei Menschen in einer geschlechtlichen Vereinigung. "Farbe" ist eine sehr heftige und stark emotionale Beziehung des Menschen zu einem Anderen, das heftig begehrt wird. Farbe ist immer mit einer starken emotionalen Bindung an das Andere verbunden.

In der alten japanischen Sprache bedeutet iro (2) , in der sinojapanischen Lesung auch shoku oder shiki, zunächst die Gesichtsfarbe, vor allem die einer schönen Frau. Das Gesicht ist der Teil des Menschen, der in besonderer Weise Beziehung zu dem Gegenüber aufnimmt, es ist die Vorderseite, das, was den Anderen an-geht und an-macht. Weil eine schöne Frau den Mann oft erregt und anzieht, bedeutet iro daher auch "Lust" oder "Begierde". Übertragen bedeutet iro dann jede Erregung des Herzens, die von einem aufreizenden Affekt ausgeht. Jedes Seiende, das den Menschen an-geht hat Farbe, Farbe ist die Art und Weise, wie etwas Seiendes ins Auge fällt. Farbe ist damit aber nicht nur etwas am Objekt: das angegangene Subjekt antwortet immer auch seinerseits mit einer emotionalen Regung. Dadurch gewinnt das eigene Herz "Farbe". Farbe ist aber schlechthin vergänglich. "Die Farbe ist noch frisch, aber die Blätter sind schon abgefallen...!"

Farbe, iro, ist also etwas, das ins Anwesen hervor kommt, ein Gegenüber an-geht und zu einer Reaktion herausfordert, sich verändert, schwindet und sich ins Dunkel entzieht. Ganz wesentlich spricht Farbe das Herz des Menschen an, nimmt es gefangen und läßt es in Trauer über die Vergänglichkeit zurück.

Farbe im Kôkin Wakashû

In der Sammlung Kôkin Wakashu, die im frühen 10. Jhd. im Auftrag des Tennô zusammengestellt wurde, ist folgendes Waka (Gedicht in der Form 5-7-5-7-7 Silben) des Ôshikôchi no Mitsune enthalten:
Dichterwettstreit am Wasserlauf
hana mireba Beim Anblick der Blüten
kokoro sae ni zo ist mein Herz selbst
utsurikeru vom Wandel ergriffen
iro ni wa ideji doch zeige ich es nicht als Farbe
hito mo koso shire sonst wüßten die Menschen davon.

Beim Anblick der Blüten (und ihrer Farbe) wird das Herz von der Schönheit und vom Wandel ergriffen und bekommt selbst "Farbe". Diese seine Farbe ist sicherlich von der selben Vergänglichkeit und Unbeständigkeit wie die der Blüten, die er betrachtet und die seine Ergriffenheit auslösen. Daß der Dichter diese "Farbe" nicht zeigt, liegt daran, daß die anderen Menschen seine Ergriffenheit nicht bemerken sollen. Dies liegt sicher nicht daran, daß "Farbe haben" etwas Verwerfliches wäre. Vermutlich hat das Gedicht eine zweite, verborgene Ebene. Hana, Blüte ist nicht irgendeine Blüte. Die Pflaumenblüte, die im Kôkin wakashû eine große Rolle spielt, wird immer mitume no hana näher bestimmt. Die Pflaumenblüte ist eher unscheinbar und zart. Es ist nicht ihre Farbe, die auffällig ist. Ihr zarter Duft verrät die Pflaumenblüte auch in der Nacht. Sie weckt Sehnsucht nach einem abwesenden, geliebten Menschen, deshalb pflanzt man keinen Pflaumenbaum in den Garten, weil man seinen Duft mit dem des sehnsüchtig Erwarteten verwechseln würde.
Blüte schlechthin ist ein Sinnbild für eine schöne Frau. Im Genji monogatari, den Erzählungen der Hofdame Murasaki über den Prinzen Genji tragen nahezu alle Damen des Prinzen, denen er in Liebesabenteuern begegnet, Blumennamen: Asagao, Yugao usw. Noch Lafcadio Hearn schreibt in seinen "Begebenheiten aus dem Lande Izumo", daß man Frauen gern mit Blüten vergleicht. Ôshikôchi no Mitsune wird sich also, wie es in der höfischen Gesellschaft üblich war, auf Liebesabenteuer begeben haben. Es scheint, daß die höfische Gesellschaft zur Heianzeit diese ständigen Liebeshändel brauchte, damit das Herz blühte und Farbe bekam. Ohne diese Farbe war das Leben grau. Diese Abenteuer waren niemals auf Dauer angelegt. Genji hat durchaus gleichzeitig mehrere Liebesbeziehungen zu den unterschiedlichsten Damen. Deshalb müssen Liebesabenteuer also geheimgehalten werden. Die Farbe, die das Herz durch die Liebesbeziehung gewinnt, ist nicht von Dauer und sie darf nicht gezeigt werden, da sie sonst von anderen bemerkt würde.

Die Subjektivität der Herzensblüte überträgt sich durchaus auch auf die objektive Wahrnehmung.
Tokiwa naru Selbst das beständige
matsu no midori mo Grün der Kiefer -
haru kureba kommt der Frühling,
ima hitoshio no ist ihre Farbe
iro masarikeri schöner als zuvor.

Die Dichterin Ono no Komachi Das Grün der Kiefer, das immer gleich bleibt, "blüht auf", wenn das eigene Herz im Frühling neue Farbe gewinnt.

Ein berühmtes Beispiel für eine unlösbare Verbindung der "objektiven" Farbe mit der "subjektiven" Empfindung des Herzens zeigt ein Waka der Dichterin Ono no Komachi, das im Kokin Wakashu aufgezeichnet ist.

hana no iro wa
utsuri ni keri na
itazura ni
wa ga mi yo nu furu
nagame seshi ma ni

Das Gedicht ist wegen seiner vielen Wortspiele nicht übersetzbar, es sei denn, man gibt eine "objektive" und eine "subjektive" Version. Die beiden ersten Zeilen geben das Thema:

hana no iro
utsuri ni keri na

Die Farbe der Blüte
hat sich verändert

Mit hana sind der Konvention entsprechend nicht irgendwelche Blüten, sondern die Sakura no hana, die Blüten der Zierkirschen gemeint. Ihre nutzlose Fülle und Pracht, ihre reine und zwecklose Schönheit schlägt die Menschen in ihren Bann. Zur Zeit der Kirschblüte ziehen Menschenmassen in die Natur, um die Blüte zu bestaunen und in ihrem Schatten zu essen, zu trinken und zu feiern. Das Fernsehen gibt, ähnlich wie zur Zeit der Laubfärbung im Herbst regelmäßige Lageberichte über den Stand der Kirschblüte und zeigt Karten der Orte, wo die Blüten zu bestaunen sind. Andererseits sind gerade die Kirschblüten äußerst vergänglich: ein einziger starker Regenschauer läßt die Blüten zu Boden fallen und vergehen. Das Moos unter den Bäumen gleicht dann einer winterlichen, schneebedeckten Landschaft. Darum ist gerade die Kirschblüte zum Sinnbild der Vergänglichkeit geworden. Ohne irgend einen Zweck zu erfüllen, entfalten sie ihre überwältigende Schönheit, um beim ersten Regen dahinzuschwinden. Eine schöne, junge Frau kann in ihrer Jugendblüte als hana bezeichnet werden. hana no iro ist dann nicht nur die Farbe der Kirschblüten, sondern die anziehende Farbe einer schönen Frau in der Blüte ihrer Jugend.
..furu nagame .. in der 4. und 5. Zeile des Gedichtes kann als "Fallen des Dauerregens" gelesen werden. Es ist dann der Regen, der die Blüten fallen und ihre Farbe schwinden läßt. Furu, fallen, ist aber zugleich ein Wortspiel und kann bedeuten: man lebt dahin, wird alt, ist nichts Besonderes mehr. Der Dauerregen - nagame - ist gleichklingend mit "starren", etwas mit starken Blick fixieren und festhalten: während die Dichterin sinnlos altert, ist ihr Blick fixiert auf die Blüte der Jugend, die aber längst schon vom Regen zu Boden geschlagen ist. Das Starren auf die "Blüte" und der Versuch, die Lebendigkeit der Jugend und ihre Farbe festzuhalten führt dazu, daß das Leben "fällt" und die Dichterin sich jetzt alt und leer fühlt.

So klingt es fast wie ein Aufschrei, wenn Ariwa no Narihira dichtet:

yo no naka ni Wenn doch mitten in dieser Welt
taete sakura no die Kirschblüte nicht wäre!
nakariseba Es könnte
haru no kokoro wa das Frühlingsherz
nodokaramashi so friedlich sein.

Mitten in der Welt - yo no naka ni ist keine objektive Welt, wie wir sie denken. Yo ist das Geflecht von Beziehungen zu Personen und Dingen, in deren "Mitte" das eigene Herz sitzt. Diese Beziehungen bilden meine Welt. Die Kirschblüten mit ihrer Farbe, seien es reale Blüten oder die Blüten der Liebe zu einer schönen Frau, bringen Sehnsucht, Bewegung, Veränderung und Vergänglichkeit. Daher die Wehmut in allen diesen Gedichten. Was aber, wenn es diese schöne Vergänglichkeit nicht gäbe? Könnte man ohne diese Lust der Farbe und der Vergänglichkeit überhaupt leben? In allen Dichtungen Japans findet sich die Klage über die Vergänglichkeit. Diese Trauer führt aber niemals zur Weltverneinung und zur Weltflucht. Zwar ist alles vergänglich, aber diese Vergänglichkeit birgt die wehmütige Freude über die Schönheit des Augenblicks, sie ist das mono no aware, der Ausruf des Erstaunens ("aware") über das Erscheinen der Dinge (mono).
Fast lustig, eben dem Haiku - ursprünglich "heitere, spielerische Verse" - entsprechend, klingt diese Schönheit der Vergänglichkeit bei Bashô. In seiner Oku no hosomichi, der "Reise durch das Hinterland", notiert er beim Aufbruch aus seiner Banananstauden-Hütte:

Da am Wegrand
die Hibiskusblüte! - Und schon
hat sie mein Pferd gefressen ...

Kaum hat man Zeit zu dem erstaunten Ruf "Aware!" wenn plötzlich die rot leuchtende Hibiskusblüte in ihrer Schönheit am Wegrand aufleuchtet - schon ist sie dem völlig profanen Untergang geweiht.

Im Vorwort des Kokin Wakashu findet sich die Klage, daß "in der heutigen Gesellschaft, wo die Menschen das vorziehen, was "Farbe" (iro) hat (also unmittelbar anspricht und anregt), sich das menschliche Herz in eine Blüte verwandelt hat", damit also selbst unbeständig und wechselhaft geworden ist. Vielleicht wandelt sich "heute" das Herz sogar schneller als die Farbe der Blüten. Ki no Tsurayuki verfaßte folgendes Gedicht auf die Bemerkung, daß nichts so schnell falle wie die Kirschblüten:
sakurabanaIch denke nicht,
toku chirinu mo daß die Kirschblüten
omôezu so früh schon fallen -
hito no kokoro zodes Menschen Herz dagegen wartet
kaza mo fukiaenu nicht einmal das Wehen des Windes ab

Die Herzen der Menschen sind noch nicht einmal so beständig, wie die Farbe der Blüten. Sie können noch nicht einmal warten, bis die Zeit da ist und der Wind die Kirschblüten fallen läßt. Unbeständig hasten sie nicht nur hinter dem Wandel her, er geht ihnen nicht schnell genug und sie treiben den Wandel weiter, bevor es not ist. Damit sich die Menschen nicht noch mehr an den Blüten und den sich wandelnden Farben orientieren, möchte der Mönch Sosei "keinen blühenden Baum in seinen Garten umpflanzen, denn wenn es Frühling wird, nehmen sich die Menschen nur ein Vorbild an der sich wandelnden Farbe" (hana no ki mo / ima wa horiueji / haru tateba / utsurou iro ni / hito naraikeri).

Von der Farbe zur Farblosigkeit

Bereits im IROHA taucht als Konzept der Erlösung und der Befreiung von Traum und Rausch eine Welt ohne Farbe auf. Die Dichterin Ise kennt zwar diese Welt ohne Farbe, aber es scheint ihr unmöglich, daß man in einer solchen Welt leben könnte. Nur die Wildgänse, die Kari, die ihre Heimat im höchsten Norden haben, verlassen Japan im Frühjahr, um in ihre blütenlose Welt zurückzukehren:

harugasumi Den Frühlingsdunst
tatsu o misuete lassen sie unbeachtet, fliegen fort -
yuku kari wa leben denn die Wildgänse
hana naki sato ni in einer Heimat
sumi ya naraeru ohne Blüten?

Der Frühlingsnebel - harugasumi - ist der leichte, duftige Dunst, der über der Landschaft liegt und die Blüten und das beginnende Grün verbirgt. Aber überall liegt bereits ein vielversprechender Duft: der Frühlingsdunst verbirgt und hütet die beginnende Blüte und das Aufbrechen der neuen Farben. Bald wird die neue Farbe in voller Pracht zu sehen sein. Leben die kari, die Wildgänse etwa in einer blüten- und farblosen Welt?
Die Kari, Wildgänse etwa von der Größe von Schwänen sind zwar Zugvögel, aber sie gelten als Sinnbild der Treue. Sie kehren immer wieder in ihre Heimat zurück. Zugleich sind sie monogam und ein Bild der ehelichen Treue. Obwohl gerade im Frühjahr der Frühlingsdunst neue Blüten und Farben, also auch neue Leidenschaften verspricht ziehen sie in großen Formationen, in denen ihre Vereinzelung aufgehoben ist zurück in ihre nördliche Heimat ohne Farben und Leidenschaften.

Rikyû's Lehrer Take no Jôô hatte bereits wabi als neues Ideal des Teeweges gepflegt. Im Nampô-roku befaßt sich der Mönch Nambô mit dem wabi Ideal Jôô's und schreibt, daß für Jôô ein Gedicht des Shin Kokin Wakashu, der "neuen Sammlung der Gedichte von einst und jetzt" ein Gedicht des Fujiwara no Sadaie wabi vollkommen zum Ausdruck bringt:

Fujiwara no Sadaie: miwataseba ...
miwataseba So weit man schaut:
hana mo momiji mo weder Kirschblüten noch roten Ahorn
nakarikeri gibt es da
ura no tomaya no bei der Schilfhütte an der Bucht
aki no yûgure in herbstlicher Abenddämmerung

Es fällt auf, daß zunächst die Pracht der Kirschblüten und des leuchtend rot gefärbten Herbst-Ahorn, des momiji beschworen wird um dann die farb- und blütenlose Welt der Fischerhütte zu rufen. Dadurch wird ein starker Gegensatz erzeugt, der die Farblosigkeit des zweiten Teiles noch stärker hervorhebt.

Das Gedicht bezieht sich ausdrücklich auf das Suma Kapitel des Genji monogatari. Wegen verschiedener Hofintrigen beschließt Genji, sich freiwillig in das Exil an der Bucht von Suma zurückzuziehen.

In Suma hatten früher einmal ein paar Wohnhäuser gestanden; aber nun war es eine einsame, menschenleere Gegend, sogar Fischerhütten gab es nur wenige. ...
Er wohnte nahe dem Ort, wo einst Arihara Yukihira "betrübt sein Leben gefristet hatte", mitten in den schönen und doch einsamen Bergen, und nicht allzuweit vom Strand entfernt. ... Noch nie hatte er eine solche Wohnstätte gesehen. ... die Hütte mit ihrem Strohdach und den weit ausladenden, mit Binsengeflecht gedeckten Giebel dünkte ihn der außergewöhnlichste Wohnsitz. ..
Hier in der Einsamkeit zu leben, wo alles so anders war, als in der Hauptstadt ... hätte wohl seinen Reiz, wenn ich nur aus freien Stücken gekommen wäre."

In Suma hatte nun der Herbstwind eingesetzt, der wie immer ganz besonders traurig stimmte. Genjis Haus stand zwar ein wenig vom Strand entfernt, aber Nacht für Nacht vernahm er die durch den Wind, von dem Yukihira einst gedichtet hat, er 'wehte über den Paß' herangetriebenen Wellen. Der Herbst an diesem Ort ging wahrhaftig unvergleichlich tief zu Herzen.
Des Reisenden Ärmel / sind nun schon sehr kühl geworden. / Kalt weht der Strandwind von / Suma über den Paß.'

Der erste Teil des Gedichtes ist wie der Abklang eines Frühlingsgedichtes des Mönches Sôsa aus der ersten Sammlung der Gedichte, dem Kokin Wakashu und es benutzt teilweise die selben Worte:

miwataseba Soweit man schaut
yanagi sakura o Weiden und Kirschblüten
kokimazete gibt es überall
miyako zo haru no die Hauptstadt selbst überall
nishiki narikeru ist Frühlingsbrokat

Haru no nishiki, der Frühlingsbrokat ist gewebt aus Weiden und Kirschblüten. Sowohl die frischen grünen Weidenzweige in ihrer Schmiegsamkeit als auch die prächtigen Kirschblüten könnten auf schöne junge Frauen, Lust und Leidenschaft hinweisen. Dennoch bildet der Frühlingsbrokat ein merkwürdig ruhiges Bild. Wie die Fäden eines Brokatgewebes, in das mit bunten Farben Blüten eingewebt sind, binden die Weiden die Kirschblüten. Das Weben von Brokat setzt genaueste Überlegung und Planung voraus. Die Weberin muß das fertige Muster vor Augen haben, bevor sie Faden für Faden und Farbe für Farbe in den Brokat webt. In den Mythen vieler Völker ist dieses Weben eine Tätigkeit, die das Schicksalsmuster in den Brokat des Lebens webt. Penelope webt jeden Tag am reich gemusterten Leichentuch ihres Schwiegervaters. Wenn das Tuch fertig ist, muß sie ihr Warten auf Odysseus aufgeben und einen der Freier heiraten. Aber sie hält die Zeit an, indem sie jede Nacht das frisch Gewebte wieder auflöst. Weberinnen sind in den Mythen vieler Völker Schicksalsgottheiten. Die Nornen spinnen den Lebensfaden, dessen Länge die Dauer des Lebens bestimmen, aber erst Weberinnen weben das Lebensmuster. Auf geheimnisvolle Weise ist in Japan wohl Amaterasu, die Sonne und Urahnen des Tennô, des Himmels-Sohnes eine Weberin und die große Halle des Himmels, in der sie residiert, ist die große Weberhalle. Wie dem auch sei, im Gedicht Sôsa's wird die überschäumende Fülle der Farben und Blüten eingebunden in Frühlingsbrokat, ja die ganze Hauptstadt ist ein einziger Frühlingsbrokat.
Das Gedicht stellt in der Reihenfolge des Kokin Wakashu eine eindeutige Zäsur dar. Im folgenden Gedicht wird nicht mehr die Vergänglichkeit der Blüten und der Farben gesehen. Jedes Jahr wieder duften die Blüten aufs Neue im gleichen Duft und leuchten in der gleichen Farbe. Die Folge der Zyklen mit ihrem immer gleichen Ablauf ergeben im Fluß der Vergänglichkeit etwas Dauerndes. Das Einzige, was sich jetzt geändert hat, ist der Mensch - wieder ist er ein Jahr älter geworden:
iro mo ka mo Farbe und Duft
onaji mukashi ni selbig von alters her
sakuramedo der Kirschblüten -
toshi furuhito zo die Jahre des alternden Menschen
aratamarikeru vergehen und verändern sich.

Das Bild des bunten Brokatstoffes ist aber weniger mit dem Frühjahr als viel mehr mit dem Herbst verbunden. Feuerrot leuchtender Ahorn mischt sich mit goldgelb brennendem Ginko vor dem Hintergrund eines strahlend blauen Himmels zu einer atemberaubenden Pracht. Man muß einmal erlebt haben, welche Menschenmassen in die Bergdörfer um Kyôtô strömen, um diesen Herbstbrokat zu bewundern (falls man ihn vor Menschenmassen überhaupt noch zu Gesicht bekommt). Überall werden kleine Stände und Buden aufgebaut, wo man Tempura aus Momiji (mit Teig überzogen und frittiert) essen kann oder seine Udon- oder Sobanudeln mit frittiertem oder gekochtem Momiji serviert bekommt. Wenn man Weihnachten und Ostern als die Höhepunkte unseres Jahreskreises betrachten kann, so sind Hana-mi, die Schau der Kirschblüten und Momiji-mi, das Genießen der Herbstfärbung sicher die Höhepunkte des japanischen Jahres. Die rot gefärbten Blätter des Ahorn - momiji - bilden einen Brokat auf dem Fluß Tatsuta. Der Tatsuta-Berg in der Povinz Nara ist berühmt für seine prächtige Herbstfärbung. Deshalb ist er der Sitz der Tatsuta-Hime, der Prinzessin Tatsuta, die - selbst ein Kami - den Kami den Herbstbrokat in die Berge webt und den momiji, den rotgefärbten Herbstahorn als Opfer darbringt. Rauhreif und Tau bilden den yama no nishiki - den Berg - Brokat. Die momiji fallen tief in den Bergen, wo sie niemand sieht, als trüge man yoru no nishiki - Nachtbrokat. Vor allem aber taucht ein neues Motiv auf, das in keiner der anderen Jahreszeiten vorhanden ist, nämlich die Kami, die Götter in ihrem Wirken. Mibu no Tadamine dichtet:
kamunabi no Zum Hain des Tempels
mimuro no yama o am Mimuro - Berg
aki yukeba im Herbst gehend,
nishiki tachikiru mit Brokat bekleidet
kokochi koso sure fühle ich mich ganz und gar.

Kamunabi ist ein Hain von oft sehr hohen Bäumen, die einen Shintoschrein umgeben und den heiligen Hain bilden. Noch bevor die shigure, die kalten Regen des zehnten, des "götterlosen Monats" fallen, beginnt sich das Laub des Kamunabi, des heiligen Hains zu färben. Der Name des Mimuro-Berges kann gedeutet werden als mi-muro: "erhabener Ort". Der Mimuro-Berg ist der Ort, wo der Schrein steht, der von einem heiligen Hain umgeben ist, also ein Ort der Kami, der Götter. Der Dichter hat die Empfindung, ganz und gar in Brokat eingekleidet zu sein. Hier ist es nicht sein eigener Brokat, sondern der Herbstbrokat des Hains, das ganz von ihm Besitz ergriffen hat.
Zu der Zeit, als das Gedicht entstanden ist, gab es das Nô-Theater in dieser Form noch nicht, dennoch erinnert es an die Einkleidung des Shite, des Hauptschauspielers im Nô-Theater, der vor seinem Auftritt völlig in den Brokat seines Kostüms eingenäht wird. Der Brokat des Kostüms ist viel zu groß geschnitten, als daß er für eine lebende Person passen würde. So muß das Kostüm eingeschlagen und mit schnellen Stichen fixiert werden, damit sich der Schauspieler überhaupt in den viel zu großen Gewändern bewegen kann. Andererseits ist er jetzt so sehr mit dem Kostüm der Figur, die er jetzt darstellen wird vernäht, daß er sich aus eigener Kraft überhaupt nicht mehr daraus befreien könnte. Anschließend betrachtet er dann im Spiegelraum solange die Maske, die er tragen wird, bis er völlig mit seiner Rolle verschmolzen ist.
Der Herbstbrokat, der den heiligen Berg gefärbt hat, ist völlig zum eigenen Brokat geworden. Hier ist nicht mehr von iro, der Farbe die Red, wie in den Frühlingsgedichten. Der Brokat ist gewebt aus dem Lebensfaden. Das Muster ist erst gegen Ende des Lebens erkennbar, wenn der Brokat fertig gewebt ist. Der Herbstbrokat, in den sich der Dichter eingekleidet fühlt, ist der gleiche Brokat, den Tatsuta-Hime oder auch der Herbst selbst den Kami als Opfergabe darbringt, um für eine gute Reise zu bitten.
Kamunabi no Der Herbst
yama o sugiyuki überschreitet nun den Berg,
aki naraba wo der Götter Kräfte wirken -
tatsutagawa ni zo so bringt im Fluß von Tatsuta
nusa wa tamukuru er Opfergaben dar.

In diesem Bild geht der Herbst über den Götterberg mit seinem Schrein - Wald hinweg. Auf seiner Reise nach Westen, der Richtung des Todes und der Nacht hinterläßt er noch bunte Streifen aus Brokat an den Bäumen, die wie Opfergaben - nusa, die man für eine gute Reise an die Bäume geknüpft hat.

Die Farbe des Herbstbrokates hat einen völlig anderen Charakter als die Farbe der Blüten im Frühjahr.

Die Frühjahrsfarben sind voller Leidenschaft und schnell vergänglich.
Der Herbstbrokat mit seinen Mustern ist aus den Lebenslinien des Menschen gewebt. So kommt das Muster erst im Herbst, an seinem Lebensabend zum Vorschein. Der Herbstbrokat, der immer mit dem Bild der Reise verbunden ist, verweist auf das Ende des Lebens und den Übergang in den Bereich der Farblosigkeit des Winters.

Die weiße Farbe des Winters - die Farblosigkeit - muß nicht nur mit dem Tod verbunden sein. Vielleicht wird diese Farblosigkeit auch in einem "Reifeprozess" des Menschen erreicht, der die Fäden seines Schicksals in den Herbsbrokat gewebt hat und nun in den Bereich der leidenschaftslosen Farblosigkeit gelangen kann.

Wabi und Farbe

Nach dem Tod Oda Nobunagas, in dessen Diensten Rikyû als Teemeister gestanden hatte, übernahm Hideyoshi die Macht in Kyôtô. Der Priester des Kasuga-Schreines in Nara berichtete, wie sich Hideyoshi in Osaka niederließ und die verschiedensten Künste übte, am meisten schätze er aber den Teeweg. Deshalb hatte er drei Teemeister aus Sakai in sein Schloß berufen: Sen no Rikyû, Tennôji-ya Sôgyu und Na-ya Sôkyû. Nachdem Rikyû in den Dienst Hideyoshi's getreten war, wurde sein Stil bis "zu den untersten Kreisen" (shimo ga shimo ni itaru made) gepflegt und populär. Rikyû verabscheute aber jede Pracht und er ordnete seinen Anhängern an

eri kaete
sumizome nunoko
iro no wataobi
tabi ôgi
atarashiku seyo

den Kragen ihres Unterkimonos zu wechseln, Sumi-gefärbte Baumwollkimonos von neutraler Farbe und neue Gürtel, Tabis und Fächer zu tragen.
"Von nun an erfreute sich die graue Farbe größter Popularität und große Mengen von grauem Baumwollstoff wurde aus China importiert."
Dieser Sumi (Tusche)-gefärbte neutrale Farbton ist als Rikyû-Grau in die Teegeschichte eingegangen. Die gesamte Genroku-Ära (1688 - 1704) schwärmte für Grau in allen Schattierungen, silber-grau, indigo-grau, tauben-grau, braun-grau und eben Rikyû-grau. Es gab also grau in allen Schattierungen, aber das Wesentlich ist, daß keine leuchtenden und tiefen Farbtöne mehr geduldet wurden, daß diese Farben als ordinär und geschmacklos galten. Rikyû's Geschmack für das Farblose, der jetzt den Zeitgeschmack bestimmte, stammt aus seiner Vorliebe für wabi, dem Schlichten und Einfachen im Gegensatz zu kabi, dem Prachtvollen.

Im Nambôroku berichtet der Mönch Nambô, daß Rikyû nicht wie sein Lehrer Take no Jôô das berühmte Gedicht des Fujiwara no Sadaie allein auswählte, um den Geist des wabi auszudrücken. Sadaie's Gedicht

miwataseba So weit man schaut:
hana mo momiji mo weder Kirschblüten noch roten Ahorn
nakarikeri gibt es da
ura no tomaya no bei der Schilfhütte an der Bucht
aki no yûgure in herbstlicher Abenddämmerung

ist geprägt vom Kontrast der prächtigen Welt der Hauptstadt und des Palastes. Die farbige Welt ist zurückgelassen, sie ist aber immer noch in einer großen Trauer präsent. Es zeigt das Lebensgefühl eines Menschen, der gewohnt ist, in Reichtum und Pracht zu leben. Jetzt hat er diese Pracht, sei es freiwillig oder gezwungen, zurückgelassen. Ähnlich wie Genji lebt er nun in der einsamen Fischerhütte. Allein, die Erinnerung an die Pracht bleibt erhalten. Take no Jôô meinte, daß nur derjenige, der die Pracht und den Reichtum kennt, wahrhaft das Ideal des wabi leben könne.

Rikyû war diese Auffassung des wabi zu eng. Erst das Gedicht des Fujiwara no Ietake trifft für ihn den wahren Geist des wabi:

hana wo nomi Zeigte man doch den nur die Kirschblüten
matsuran hito ni erwartenden Menschen
yamazato no im abgeschiedenen Bergdorf
yukima no kusa no die Gräser unter dem schmelzenden Schnee
haru wo miseba ya im nahenden Frühling

Das Gedicht ist nicht von der wehmütigen Schwere der Herbststimmung und des Verlustes geprägt. Die Welt der Paläste ist vollkommen verschwunden, nicht einmal die Erinnerung ist in irgend einer Weise da.
Das Bergdorf - yamazato - ist ein vollkommen abgeschiedener Ort, der völlig weltentrückt weit in den Bergen verborgen liegt. Genji lebte in seiner Verbannung am Strand von Suma. Zwar ist diese Gegend verlassen und einsam, sie ist aber voller Erinnerungen, weil vor ihm bereits andere Adelige hier in Verbannung lebten und ihre Empfindungen in Gedichte gefaßt hatten. Sogar wenn der Wintersturm an seiner Fischerhütte rüttelt, kann er Gedichte seiner Vorgänger zitieren.

Das Bergdorf hingegen ist so versteckt, daß niemand aus literarischen Reminiszenzen leben kann. Alles entstammt der eigenen, unmittelbaren Erfahrung. Alles ist weiß und farblos, also auch frei von jeder vorgeprägten Emotion. Sogar die Gräser, die der Dichter zeigen möchte, sind unsichtbar unter dem Weiß des schmelzenden Schnee verborgen. Yuki ma, ist nicht der Zwischenraum, der entsteht, wenn der Schnee schmilzt und erste Stellen der Erde frei gibt. Verborgen unter dem Schnee beginnt die Schmelze und kleine Hohlräume werden freigegeben, wo die Gräser, noch nicht sichtbar unter der Erde neu austreiben. Wabi ist die Welt der Stille und des kaum Wahrnehmbaren. Nichts stört die Ruhe und Konzentration, alles wird rein und urspünglich.

Diese farblose Welt der Leere und des Verborgenen, in dem nicht Ein Ding existiert - mu ichi motsu, ist die Welt des wabi, wie sie Rikyû verstand. Für diese Welt des wabi gilt der Kernsatz des Hannya Shin gyô:

色不異空 - 空不異色
Shiki soku ze ku - ku soku ze shiki

Farbe ist nicht verschieden von der Leere - Leere ist nicht verschieden von Farbe.
Anmerkungen:
(1) Akiyasu: Kanji Gogen Jiten (Etymologisches Lexikon der chinesischen Schriftzeichen
(2) Iwanami: Kogo shiten (Lexikon des Alt-Japanisch
Das IROHA |  iro

Roy Andrew Miller
Die japanische Sprache
Geschichte und Struktur
ISBN 3-89129-484-0