Rikyû Hyakushû Nr 1

Das Selbst und der WEG - Lehrer des Weges.
 

その道に入らんと思う心こそ我身ながらの師匠なりけれ
"Sono michi ni iran to omou kokoro koso wagami nagara no shisho narikere."

Sen no Rikyû, dem „Vater” des Teeweges werden eine Reihe von Gedichten zugeschrieben, die Rikyû Hyaku Shû 利休百首.
Diese einhundert ‚Haupt’-Regeln tauchten etwa hundert Jahre nach dem Tode Rikyû’s (+1591) auf. Vermutlich sind sie eine Sammlung von Erfahrungen der Teemeister, die im Geiste Rikyû’s den Teeweg weitergegeben haben. Die meisten der Gedichte sind eine Art von Merkversen, die sich unmittelbar auf die Praxis des Teewegs beziehen, einige aber sind für jeden WEG gültig.
Das Versmaß der Gedichte ist in Anlehnung an die Renga - Dichtung gestaltet, das Versmaß wird aber nicht genau eingehalten. Die Verfasser wollten nicht mit einer anderen Kunst in Konkurrenz treten sondern aus dem Geist ihres Weges gestalten. Die Sammlung beginnt:

Sono michi ni iran to omou kokoro koso wagami nagara no shisho narikere

Die Rede ist von dem WEG, dem , hier wegen des Versmaßes als ‚michi’ gelesen.
Das Herz wünscht (omou kokoro), den Weg ‘einzulassen’ (iran) oder sich in den Weg hinein zu begeben. Genau (koso) dieses Herz ist wagami nagara no shishô – der Lehrer des Selbst.
Shishô - der Lehrer
Shishô, 師匠 ist eigentlich nicht der Lehrer, sondern der geistige ‚Meister’.
Ein berühmter Shisho war etwa Daitô Kokushi 大灯国師 (Großer leuchtender Landes - Lehrer), der Gründer des Daitokuji in Kyôto, des Tempels, in dem auch der große Zen-Meister Ikkyû gelebt und gelehrt hat und mit dem Rikyû in besonderer Weise verbunden war.
Ein Lehrer, ein Sensei 先生, ist einer, der ‚vorher’ oder voraus ‚lebt’, einer, der den WEG vorher gegangen ist und damit die Erfahrungen, die er selbst beim Beschreiten des Weges gemacht hat weitergeben kann, aber er muss nicht notwendig ein Shishô sein. Im Sprachgebrauch ist auch etwa ein Mathematiklehrer ein Sensei. Er vermittelt die Kenntnisse und Fähigkeiten beim Berechnen von mathematischen Formeln und gibt damit seine Erfahrungen auf diesem michi weiter. Auch die Lehrer des Teeweges bezeichnen sich als Sensei. Sie betonen immer wieder, dass sie dem Schüler nur die technischen Fertigkeiten weitergeben können. Um den WEG mit ganzem Herzen gehen zu können, bedarf es mehr als das Beherrschen von Fertigkeiten, die der Sensei vermittelt.

Aber in Rikyû’s Gedicht ist nicht die Rede von der Vermittlung von Fertigkeiten. Der Shishô ist ein Shishô des ‚wagami nagara’ 我身, des Selbst. Aber eigentlich gibt es niemanden, der auf diesen Weg geleiten kann. Nur das eigene Herz, das innig wünscht, sich auf den Weg einzulassen, ist der Lehrer des Selbst, niemand sonst.

Das "Selbst"
Aber was ist das Selbst? Heißt es nicht im Zen, sich selbst finden heißt, sich selbst vergessen? Im chinesischen Buch Zhuangzi (Dschuang Tse) steht folgende Geschichte:

Nanguo Ziqi saß und lehnte sich an seine Armstütze, schaute zum Himmel auf und atmete langsam aus. Er war leer und weit entfernt und schien seinen Begleiter verloren zu haben. Yangcheng Ziyou, der ihm zur Seite stand sagte: 'Was ist das? Können wir wirklich bewirken, dass unser Körper wie verdorrtes Holz und der Geist (das Herz) wie kalte Asche wird? Der sich jetzt an die Armstütze lehnt, ist nicht derselbe, der sich vorhin anlehnte!' Meister Qi sagte: 'Es ist gut, dass du das fragst. Gerade habe ich mein Selbst (Ego) verloren. Kennst du das? Du hörst die Flötentöne der Menschen, aber nicht die Flötentöne der Erde. Du hörst die Flötentöne der Erde, aber nicht die des Himmels!'

Nanguo Ziqi schaut erst zum Himmel hinauf. Es ist, als würde er von dort, von der offenen Weite des leeren Himmels sein Maß nehmen, bevor er ausatmet und loslässt. Er wird leer wie der offene, weite Himmel. Aber wer ist sein Begleiter, den er verloren hat? Ist es das, was ihm unentwegt vorsagt: „Du sollst …, Du musst …, Du darfst nicht ….“ Oder das was sagt: „Die Knie tun weh, der Rücken schmerzt, der Atem stockt und fließt nicht, …“ ? Nanguo Ziqi sagt, ich habe gerade mein Selbst verloren. Auf jeden Fall scheint er, solange der Begleiter da ist, nur die Flötentöne der Menschen zu hören. Wenn er diesen Begleiter verloren hat, der ständig dazwischen redet, wird der Körper wie verdorrtes Holz und der Herz-Geist wie kalte Asche, ein Standartbild im chinesischen Daoismus für den erwachten Weisen.

Holz ist eines der fünf Elemente. Lebendiges Holz kämpft. Es spaltet die Erde, um vor ans Licht zu drängen, es wird größer und stärker. Aber es muss leiden, weil Metall das Holz spaltet und wieder klein macht. Holz nährt das Feuer. Feuer ist Leidenschaft, aber auch das helle Licht des Erkennens. Ruhm leuchtet hell im Licht des Feuers. Aber das Feuer haftet am Holz und verzehrt das Holz. Wenn keine Nahrung nachwächst, erlischt auch der helle Ruhm, weil das Feuer alle Substanz verzehrt.
Totes Holz steht nicht mehr in diesem Kreislauf des gegenseitigen Kampfes von Nähren und Verzehren, von Spalten und Gespalten-werden.
Wenn das Feuer der Leidenschaften im Herzen ausgebrannt ist, wird das Herz wie kalte Asche. Es brennt nicht mehr nur kein Feuer, auch alle Farbe, die für das Brennen der verzehrenden Leidenschaften steht, ist verschwunden, das Herz wird aschfarben – farblos.
Erst, wenn die persönliche Leidenschaften ausgebrannt und Feuer und 'Farbe des Herzens erloschen ist, kann der Weise die 'Flötentöne des Himmels' hören. Vorher ist sein Herz betäubt von den Flötentönen der Menschen. Erst wenn er aufhört, sich von den hektischen und wilden, meist misstönenden Flötentönen des Menschen betäuben zu lassen, kann er die Flötentöne der Erde hören. Und erst, wenn sein Ego verschwunden ist, der 'Begleiter', der immer dazwischen redet, kann der Weise die Töne des Himmels hören, die 'von selbst so' sind, die niemand macht.

Das wünschende Herz - omou kokoro
Aber in Rikyû’s Gedicht heißt es, das omou kokoro 思う心 ist der Shisho, der wahre Meister. Omou kokoro ist das denkende Herz. In der chinesischen Sprache ist es das Herz das denkt, nicht das Gehirn. Das Herz ‚denkt’ auch mathematische oder logische Probleme. Aber in diesem Fall heißt es eher ‚kangeru’ 考える und nicht omou. Mit omou bezeichnet man eher das Wünschen, Hoffen, innige Sinnen, so wie etwa Dichter oder Liebende sinnen. Chin-Shi 沈思, 'tief einsinkendes Denken' ist Meditation.

Ein chinesisches Sprichwort sagt:

飲水思源 nomu mizu - omou minamoto
Wasser trinken - denken Ursprung.
Wenn du Wasser trinkst, gedenke des Ursprungs, der Quelle.

Dieses Denken ist nicht nur ein Denken, dass zu Kenntnis nimmt, dass da eine Quelle oder ein Ursprung ist. Dieses Denken ist ein Ge-denken, es ist erfüllt vom Dank, einem Dank der den Ursprung hütet und ihm immer verpflichtet bleibt.

Aber sind es die Gefühle und Empfindungen, die das Herz leiten? Ist das so empfindende und fühlende Herz der Shisho? Wird man "Selbst", wenn man sich von seinen Gefühlen, nicht aber vom Verstand leiten lässt?
Im Text von Zhuangzi heißt es aber gerade, dass das Herz wie kalte Asche ist. Das Feuer des leidenschaftlichen Wünschens und Wollens ist erloschen. Erst dann hört er die "Flöten des Himmels".

Das Ein-Lassen - Herz und WEG
Murata Shukô's "Kokoro no fumi"
Schon der Vorläufer Rikyû’s im Teeweg, Murata Shukô warnt davor, das Herz zu seinem Lehrer zu machen. In seinem berühmten Brief „Kokoro no Fumi“, dem ‚Brief über das Herz’ schreibt Murata Shukô als ersten Satz:

Nichts wird dich mehr in der Übung dieses Weges (Do 道) hindern als Selbstzufriedenheit und Anhaften am Selbst. Es ist völlig falsch, auf Könner (kôsha) neidisch zu sein und auf Anfänger (shoshin no mono) herabzublicken. Vielmehr soll man die Gesellschaft von Könnern suchen und wissen, dass man ihrer Führung bedarf, und man soll sich bemühen, Anfängern zu helfen.

Murata Shukô nennt im zweiten Satz ein ganz wesentliches Problem auf dem WEG: der Neid.
Das Herz ist neidisch auf Könner und voller Verachtung gegenüber Anfängern. Das alltägliche Herz ist voll von negativen Wünschen und Gefühlen. Aber auch so genannte positive Gefühle können hinderlich sein. Ein inniger Wunsch, auf dem Weg weiterzukommen, kann in die Verzweiflung führen, wenn die erhofften Erfolge ausbleiben. Wenn das anfängliche Feuer der Begeisterung erlischt, bleibt aber nicht das Herz, das wie kalte Asche ist. Es bleibt die Enttäuschung – die Enttäuschung, den falschen Weg gewählt zu haben oder auch nur den falschen Lehrer.

Murata Shukô beendet seinen Brief mit dem berühmten Satz:

kokoro no shi to wa nare, kokoro wo shi to sezare
Werde zum Meister deines Fühlens und Denkens (kokoro: Herz), lass nicht dein Fühlen und Denken dein Lehrmeister sein.

Das Alltagsherz mit all seinen Ängsten, Wünschen und Nöten kann kein guter Shishô sein. Die meistens völlig ungeklärten Empfindungen und Gefühle leiten das Herz in die Irre. Aber dieses Alltagsherz meint Rikyû in seinem Gedicht nicht, wenn er davon spricht, das eigene Herz sei der Meister.
Das wünschende Denken des Herzens richtet sich nicht auf irgendetwas, sondern darauf, den WEG einzulassen, bzw. sich auf den Weg einzulassen:
michi ni iran / to omou kokoro.
Das Herz wünscht, in den Weg hineinzugehen. Oder wünscht es, den Weg in sich hinein zu nehmen?

Aber welcher Weg ist gemeint?
Sono michi: jener Weg.
Man könnte vermuten, es sei einer der vielen verschiedenen Wege gemeint, in Rikyû’s Fall natürlich der Cha-Dô, der Tee-WEG. Aber die saubere Aufteilung der verschiedenen Kunst – Wege oder der Wege des Bushi ist erst ein Ergebnis einer späteren Zeit.

Sono ist eine Richtungsanzeige. Es ist etwas weder bei Mir, noch bei Dir. Sono ist entfernt von Mir und Dir. Sono michi heißt, das Herz und Weg etwas völlig Verschiedenes sind. Das Herz wünscht den Weg, der etwas Fremdes, Anderes ist. Damit ist eine Anfangssituation aufgezeigt. Noch befindet sich das Herz nicht auf dem Weg, aber es möchte dorthin kommen. Wenn sich das Herz auf den Weg einlässt, kann es das nur, wenn es ihn in sich hineinlässt. Herz und Weg werden Eins. Sie sind wie Spiegel: Eines spiegelt das Andere. Das Herz, das so spiegelnd Eins mit dem Weg geworden ist, hat alles Persönliche vergessen. Es ist der WEG selbst.
Dieses Herz ist der wagami nagara no shishô, der Lehrer des „Selbst“, das aber kein Selbst mehr ist.
Lässt man sich ganz und gar auf den Weg ein, vergisst man vollkommen sich selbst und wird Eins mit dem Weg. Im Teeweg vergisst man sich Selbst, um vollkommen bei den Dingen zu sein. Heidegger nannte das, man ist ganz und gar be-Dingt.
Wenn ich den Teelöffel nehme, bin ich ganz bei dem Löffel, nein - ICH bin überhaupt nicht mehr, nur noch der Löffel ist da. Je mehr ich mich sebst vergesse, desto mehr ist der Teelöffel DA. Je mehr nur noch der Teelöffel da ist, desto mehr bin ich ganz bei mir. JETZT!

JETZT bei den Dingen sein.
Es gibt dann kein Vorher und kein Nachher.
Teeschüler fragen oft, „Wann muss ich …?“ Die Antwort: „JETZT nicht!“
Wenn ich darüber Shakuhachi spiele und darüber nachdenke, wann dieser eine, schwierige Ton zu spielen ist, der immer daneben geht, ist das Herz aus diesem Eins-Sein heraus gefallen.

Anfängergeist
Die Anfangssituation, die in Rikyû's Gedicht gemeint ist, wird nicht dadurch behoben, dass sich das Herz einmal auf den Weg einlässt. Ist der WEG einmal in das Herz eingelassen, hört die Anfangssituation nicht auf. Jedes Mal neu muss sich das Herz dem Weg öffnen. Man hört nicht etwa auf, sich in dieser anfänglichen Situation zu befinden, wenn man ein „Fortgeschrittener“ wird.
Für den Fortgeschrittenen wird die Situation nur immer schwieriger. Der Anfänger hat dem Fortgeschrittenen gegenüber den großen Vorteil, dass er von einer anfänglichen Begeisterung getragen wird, die möglicherweise dem Fortgeschrittenen auf seinem Weg abhanden kommt. Dazu kommen die Probleme, die Murata Shukô in seinem Brief angesprochen hat: der Neid auf die, die mehr können und die Verachtung für die, die Anfänger sind. Ja, solange wir im bloßen Lernen – wollen verharren, sind wir noch keine Meister des WEGES.

Mögen wir immer vom Anfängergeist erfüllt bleiben.

Was kann es Schöneres geben, als völlig selbstvergessen eine Schale Tee zu bereiten. Jetzt die Natsume reinigen, jetzt den Teelöffel. Jetzt den Tee in die Schale geben, jetzt Wasser auffüllen. Oh, wie der Tee duftet. Aber nicht Ich bin es, der den Tee zubereitet. Getragen vom Weg ist da nichts anderes als der Tee. Das ist keine Tee - "Zeremonie". das ist CHA - ZEN, Tee - Zen.

Nicht Ich bin es, der den Bambus spielt, der Atem stömt und der Ton erklingt. Das ist nicht Musik auf der Shakuhachi, das ist CHIKU - ZEN, Bambus - Zen

Im Zhuangzi steht eine kleine Geschichte von Konfuzius und seinem Schüler Yan Hui.

„Yan Hui sagte: „Hui macht Fortschritte!“
Kongzi sagte: „Was meinst du damit?“
Yan Hui: „Hui hat Mitmenschlichkeit und Gerechtigkeit vergessen.“
„Nicht schlecht! Aber das ist es noch nicht!“

Am anderen Tag sahen sich die zwei wieder und Yan Hui sagte:
„Hui verbessert sich!“
„Was meinst du damit?“
„Hui hat die Riten und die Musik vergessen.“
„Nicht schlecht! Aber das ist es noch nicht!“

Später sahen sich die zwei wieder und Yan Hui sagte:
„Hui verbessert sich.“
„Was meinst du damit?“
“Hui sitzt und vergisst.“
Kongzi sagte bewegt: „Was meinst du mit ‚sitzen und vergessen’?“
Yan Hui sagte: „Die Gliedmaßen fallen lassen, Hören und Sehen lassen, die Form verlassen, ablassen vom Wissen, von selbst Einswerden mit dem großen Durchgang, das heißt >sitzen und vergessen<.“

Kongzi sagte:
„Damit eins geworden sein, heißt keine Vorlieben haben, dadurch verändert sein, heißt nicht mehr unveränderlich zu sein. In Wirklichkeit seid ihr verehrenswert. Bitte lasst mich der Schüler werden.“

(Kapite l6.9)

Der Mönch Nambô hatte einst die Gespräche mit Rikyû aufgeschrieben. Von Ihm wissen wir, wie Rukyû den WEG verstanden hat. Nambô schließt seine Aufzeichnungen mit einer Lobpreisung und schreibt:

"Alles was Rikyû über „den Teeweg gelehrt hat, ist zugleich die Verwirklichung des Weges der Gründer und des Buddha. Er sei gepriesen, gepriesen!“

茶の道かとをもへば、即、祖師仏の悟道なり。殊勝々々。

* Anmerkung:
Nach der Geschichte im Zhuangzi bekam der jetzige Großmeister der Urasenke (XVI. Generation) 1982 von Rôshi Nakamura Sôjun vom Daitokuji den buddhistischen Namen Zabo-sai, „sitzen und vergessen“.
Die Endung –sai im Namen tragen alle Großmeister der Urasenke als Kennzeichen der Laienpriesterschaft.