Rikyû Hyakushu Nr. 2

Das Lernen

Naraitsutsu mitekoso narae narawasu ni yoshiashi iu ha roka narikeri

Fort und fort lernen durch sehen und lernen;
nicht lernen ist törichtes "gut oder schlecht" reden

ならひつつ
見て こそ 習へ
習はず に
よし あし いふ は
愚か なりけり
Naraitsutsu
Mitekoso narae
Narawasu ni
Yoshiashi iu ha
roka narikeri
Lernen, unentwegt (und den WEG ergründen)
Nur durch sehendes Ergründen
Nicht lernen (und den WEG verfehlen):
Gut oder schlecht reden
Ist töricht!

Das erste der einhundert Hyakushu spricht vom WEG und dem sich Einlassen auf den Weg. Im zweiten Gedicht wird über das „Lernen“ gesprochen. Das Verb narai benennt das Lernen. Aber was ist lernen? Für den Schüler des Weges kann lernen nicht darin allein bestehen, all die vielen verschiedenen Regeln und Formen und Fertigkeiten, die man sich auf dem Teeweg erwirbt wie einen Gesetzestext auswendig zu lernen. Tatsächlich sind die vielen verschiedenen Formen für den Anfänger vollständig verwirrend. Es gibt Usucha, den dünnen Tee, Koicha, den dicken Tee, die verschiedenen Arten, die Holzkohle zu legen und das Ganze auch noch in der Winter- und der Sommerform. Bedenkt man die Fülle der Formen und Regeln, die der Schüler in der Urasenke Tradition zu erlernen hat, so scheint tatsächlich das Lernen eine sehr langwierige Sache zu sein.

Im Sôjinboku, einer Sammlung früher Teeschriften die 1626 veröffentlicht wurde, sind im ersten Teil, dem Gyôyô 131 Regeln aufgezeichnet, die bei einer Teezusammenkunft von Gast und Gastgeber einzuhalten sind.

(Der Titel Sôjinboku ist abgeleitet aus der Form des Schriftzeichens für Cha, Tee : 茶. Der obere Teil des Schriftzeichens ist das Radikal für Gras - Sô, das mittlere Radikal wird als Mensch – Jin verstanden und das untere Radikal ist Holz, Moku, in der Zusammensetzung gelesen als Boku. )

Aber damit nicht genug. Gengensai, der Großmeister der Urasenke in der 11. Generation veröffentlichte 1856 ein Buch mit dem Titel „Hogobusuma“, in dem mehr als 850 Arten der Temae – der Formen der Teezubereitung und der verschiedenen Methoden verzeichnet sind.

In einer konfuzianisch geprägten Gesellschaft, wie etwa im alten China oder auch – mit Einschränkungen in Japan – ist das Lernen eines der höchsten Ideale. Der konfuzianische Beamte muss im Besitz des Wissens der gesamten Tradition sein. Er muss die Lieder, die Riten und die alten Überlieferungen kennen und das Wissen durch Prüfungen bestätigt haben. Auch die Samurai sehen in der späteren Zeit ihre Aufgabe im Dienst am Vaterland darin, unablässig zu lernen und sich das Wissen der Welt anzueignen und dann als Lehrer weiterzugeben.
Lehrer und Schüler sind dann aber nur die zwei Seiten desselben Spiels, des „Lern – Spiels“. Im Zhuangzi gibt es eine Geschichte über Konfutse, der als Urbild des Gelehrten dargestellt wird. Er erscheint hier geradezu wie sein westlicher Kollege, der „nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, Und leider auch Theologie durchaus studiert (hat), mit heißem Bemühn“, und der nun „da steht, ein armer Tor, der „so klug als wie zuvor“ und seine Schüler „an der Nase herumzieht“. Er, der selbst das Wesentliche nicht gefunden hat, unterrichtet nun selbst seine Schüler. Verzweifelt klagt er nun, dass ihm all sein Wissen und Können nichts nutzt: „Aber ach! schon fühl ich, bei dem besten Willen, Befriedigung nicht mehr aus dem Busen quillen. Aber warum muß der Strom so bald versiegen, Und wir wieder im Durste liegen?“ Konfutse sagt im Zhuangzi (14.5) von sich selber:

„Ich habe, so darf ich wohl behaupten, lange Zeit die sechs Klassiker studiert –das ‚Buch der Lieder’, das ‚Buch der Geschichte’, das ‚Buch der Riten’, das ‚Buch der Musik’, das ‚Buch der Wandlungen’, und die ‚Frühlings- und Herbst-Annalen’ und ich kenne mich sehr gut aus. Ich habe die Methoden der früheren Könige mit zweiundsiebzig Herrschern diskutiert …“

Aber niemand will ihm eine Anstellung geben und er selbst hat, wie er dem Meister Lao Tan gesteht, trotz all seines Lernens und trotz allen Wissens den WEG nicht verwirklicht.

Als Konfutse 51 Jahre alt war, hatte er noch immer nicht den WEG vernommen. Er wanderte südwärts nach Pei, um Lao Tan (Altes Langohr) zu treffen. „Sieh da, Ihr seid gekommen“ sagte altes Langohr. „Ich habe gehört, mein Herr, dass Ihr ein ehrenwerter Mann aus dem Norden seid. Habt Ihr auch den WEG verwirklicht?“ „Ich habe ihn noch nicht verwirklicht!“ sagte Konfutse. „Wie habt ihr ihn denn gesucht?“ fragte Lao Tan. „Ich habe ihn in Regeln und Satzungen gesucht, aber nach fünf Jahren noch nicht verwirklicht.“ „Wie habt Ihr ihn dann gesucht?“ „Ich habe ihn in Yin und Yang gesucht, aber nach zwölf Jahren hatte ich ihn immer noch nicht verwirklicht.“ „So ist das“ sagte der alte Meister. „Ließe sich der Weg darbieten, so gäbe es niemanden, der ihn nicht seinem Herrscher darbieten würde. Ließe sich der WEG übermitteln, dann würde ihn jedermann seinen Brüdern übermitteln. Ließe sich der WEG weitergeben, so würde ihn jedermann seinen Nachfahren weitergeben. „

Konfutse hatte zunächst versucht, die Regeln und Satzungen zu erkennen, aber nach fünf Jahren musste er einsehen, dass er so den WEG niemals verwirklichen könnte. Ähnlich wird es auch sein, wenn man im Teeweg das Wesentliche in den Regeln sucht. Die Regeln sind nicht Selbstzweck, sie sind aus den Erfahrungen der Teemeister entstanden, die bei der Bewirtung der Gäste gewonnen worden sind. Das Wohl des Gastes und das Eins - werden beim Teilen einer Schale Tee formt die Regeln.

Konfutse versucht denn auch im nächsten Schritt, den Sinn der Regeln und Satzungen zu verstehen, indem er Yin und Yang nachforscht. Sein Versuch, Yin und Yang zu verstehen geht von der Oberfläche der Regeln in die Tiefe, den Grund, aus dem die Regeln und Satzungen entstehen. Aber auch hier konnte er, nun immerhin nach jetzt zwölfjähriger Suche, den WEG nicht verwirklichen.
Meister Kong ist aber immerhin auch ein Meister, darum sieht er nach dieser langen Suche klar, dass er keine Methode kennt, den Weg zu verwirklichen. Darum macht er sich auf und „wandert“ nach Süden. Er sucht jetzt den WEG, indem er aus seiner starren Haltung aufbricht und sich auf den Weg macht zu dem alten Meister Langohr.

Natürlich sind im Laufe eines Teelebens die vielen Formen zu „erlernen“ und zu bewältigen. Der Fortschritt wird sogar mit Kyôjo – den Teediplomen bestätigt. Wenn man alle Diplome erworben hat, könnte man sich im sicheren Besitz des Wissens zurücklehnen und sich als „Meister“ fühlen. Aber der Besitz all dieser Formen gewährleistet noch lange nicht, dass man auf dem WEG ist.
Nicht derjenige, der alle diese Formen beherrscht und sie, einmal erlernt, vielleicht gar noch aus Büchern angelesen hat, ist der wahre Teemensch. Im letzten Diplom der Urasenke heißt es: „Du hast nun alles gelernt, lerne jetzt mit Deinem Herzen weiter!“ In Wahrheit beginnt nun das eigentliche Lernen, das Lernen mit dem Herzen, das ein unaufhörliches Lernen ist, fort und fort, jeh und jeh.

So spricht auch Rikyû’s Gedicht nicht von „narai – lernen“, das irgendwann einmal abgeschlossen ist, sondern von naraitsutsu. Naraitsutsu ist ein Lernen, das fort und fort schreitet ohne jemals stehen zu bleiben. Vermutlich endet dieses „Lernen“ niemals. Das gesamte Leben ist narai, Lernen. Aber dieses Lernen hat eine andere Qualität als das intellektuelle Lernen von Regeln oder Formen.

Der alte Meister Langohr weiß, warum das Lernen des Meisters Kong – Konfutse nichts gefruchtet hat:

„Wenn im Inneren kein ‚Gastgeber’ ( Shû) ist, ihn (den WEG) zu empfangen, wird er nicht verweilen, wenn außen keine Zeichen sind, ihn zu leiten, wird er nicht ‚gehen’. Wenn das, was aus dem Inneren hervor kommt außen nicht aufgenommen wird kann, der Weise es nicht (heraus)voran bringen. Wenn es im Inneren Niemanden gibt, der es aufnehmen könnte, dann wird der Weise es nicht anvertrauen.

Zhuangzi hat sicherlich nicht an den Teeweg gedacht, als er diese Zeilen geschrieben hat. Aber das Paar Gastgeber und Gast spielt nicht nur im Teeweg eine große Rolle.
Im Teeweg ist diese Verteilung der Rollen essentiell. Der Gastgeber ist derjenige, der alles vorbereitet, die Gäste erwartet und in der rechten Weise den Tee serviert. Bei einer gelungenen Einladung finden die Herzen derart zusammen, dass der Unterschied von Gast und Gastgeber verschwindet: MU HIN SHU.

Die Kombination von Gast und Gastgeber erscheint bereits im Dao De Jing Kapitel 69, wo es heißt:

Ich mache nicht den Herrn ( Gastgeber) sondern bin Gast.
吾 不 敢 為 主 而 為 客.

Hier handelt es sich um eine strategische Vorgehensweise bei der Eroberung eines anderen Gebietes. Der Feldherr handelt im Nicht-Handeln. Würde er sich im fremden Gebiet als Herr aufspielen, so würde er Gegenkräfte hervorrufen und bald unterliegen. Eigentlich ist der Ausdruck Shû - 主 nicht der Gastgeber, wie es später im Teeweg immer gebraucht wird, sondern der Herr, der Haushaltsvorstand, der Arbeitgeber, der Chef. Im Kloster ist es derjenige, der das gesamte Klosterleben regelt und ordnet, der entscheidet wann meditiert wird, was gekocht und gegessen wird, wer wo wohnt. Aber im Dao De Jing führt sich dieser „Herr“ gerade nicht wie ein Herr, sondern wie ein Gast auf. Er ist, obwohl er eigentlich die Macht dazu hätte, derjenige, der sich zurückhält und sich als Gast in dem fremden Land fühlt. Es geht nicht um Ausübung der Macht, sondern darum, achtsam auf das zu hören, was das fremde Land mit seinen anderen Sitten und Gebräuchen der Bewohner vorgibt. Genau das gilt auch für den Klostervorsteher. Er handelt nicht aus eigener Machtbefugnis, sondern weil er dem WEG dient. Aus seiner Erfahrung des Weges kann er, auf den Weg hörend und achtend, seine Entscheidungen treffen. So ist auch der Gastgeber im Teeweg zwar derjenige, der alles vorbereitet und, wenn die Gäste angekommen sind durchführt. Dies tut er aber nicht, um „Macht“ auszuüben oder um zu zeigen, dass er das Ritual perfekt „beherrscht“. Der Gastgeber trifft alle seine Vorbereitungen, inem er uf den Weg hört, ihn in seinem Herzen vernimmt und ihm in allen seinen Handlungen entspricht. Er bereitet dem Weg die Bahn, auf dass dieser selbst "wegen" kann. Beim gemeinsamen Bereiten einer Schale Tee verschwindet der Gastgeber und nur noch der verwirklichte Weg kommt zum Vorschein.
Die Wendung 没 賓 主 HIN SHU O BOTSU, Verschwinden von Gast und Gastgeber verwendet Daito Kokushi in seinem Gedicht, das er schreibt, nachdem er das Kôan KAN gelöst hatte. In der Vollkommenen Freiheit der Verwirklichung verschinden alle Grenzen und Barrieren – KAN – und ebenso der Unterschied zwischen Gast und Gastgeber.
Aber der „Gastgeber“ bereitet dieses Ereignis vor, indem er sich ganz dem Weg öffnet. So vorbereitet kann er die Wegmarken setzen, indem er die Blumen und die Hängerolle auswählt, die Teedose füllt, das Wasser holt, das Feuer entzündet und – wenn die Gäste eingetroffen sind - den Tee schlägt. So findet die Innere Haltung ihre Entsprechung im Äußeren.

Hoûnsai Daisôsho schreibt:

Wenn Sie dem Teeweg aus eigener innerer Überzeugung folgen, wird Ihre tägliche Übung nicht nur Übung bleiben. Dann wird Ihr Bemühen um einen bestimmten Ablauf in der Zubereitung des Tee oder das, was sie über den Bewegungsablauf als Gast lernen, ganz spontan in Ihrem Alltag zum Ausdruck kommen.
Mein Vorgänger Tantansai lehrte: "Übung und die eigentliche Zubereitung des Tee in einer Zusammenkunft müssen eins sein. Führt Euch vor Augen, was getan werdenmuss, und handelt entsprechend.

Das rechte Lernen setzt voraus, dass Innen und Außen zusammenstimmen. Wenn das Herz nicht ist, wie ein Gastgeber, der sorgfältig und erwartungsvoll alles für den kommenden Gast vorbereitet, wird alles Lernen von Formen und Regeln nutzlos bleiben. Wenn nur das Herz sich dem Weg öffnet, ohne sich im Äußeren zu verwirklichen, kann sich der Weg nicht entfalten. Für den Schüler auf dem Teeweg heißt das, dass er die Formen nicht als Regelwerk erlernt um sich dann sklavisch daran zu halten. Er wird aber auch dann nicht auf dem Weg weiterkommen, wenn er meint, seine innere Haltung sei richtig, aber er beherrscht die äußere Form nicht. Die Form und die innere Haltung müssen zusammenpassen.
Das hängt auch mit dem Aufbau unseres Gehirnes und des vegetativen Nervensystems zusammen. Wenn die langsam fließenden Bewegungen, die sichere Haltung im Sitz und der Fluss des Atems zusammen stimmen, sind der Sympathikus (Energie und Spannung) und der Parasympathikus (Entspannung) im Gleichgewicht. Das Denken und die Wahrnehmung werden schwächer oder hören völlig auf und der Übende wird wie ein leerer Spiegel. Diesen Zustand nennt Meister Dôgen im Kapitel Bendowa des Shôbogenzo „shinjin datsuraku – Körper und Geist fallen lassen“ (Shin: Herz, Geist; Jin: Körper; datsuraku: fallen lassen).

Sôshitsu Sen, der 15. Großmeister der Urasenke schreibt:

Chadô, der Tee – Weg muss durch die Bewegungen des eigenen Körpers, durch eigene Erfahrung erlernt werden. Er kann nicht erlernt werden, indem (nur) man andere beobachtet, ihnen zuhört und sie dann imitiert. Mein Vorgänger als Großmeister schärfte mir ein, dass der Tee-Weg einzig und allein durch die Bewegungen meines eigenen Körpers erlernt werden kann, durch das Sammeln von Erfahrungen, die in den Körper eingelagert werden. Letztendlich muss der Wunsch, den Tee-Weg zu erlernen, dem eigenen Herzen entspringen; andere können ihn uns nicht aufzwingen.

Die ständig wiederholten Bewegungen mit dem eigenen Körper, das Sitzen am Boden, der Einklang mit dem Atem, der Fluss der Bewegungen prägt sich tief im Körper ein und wird gespeichert. Solange eine Tenmae, eine Form nur mit dem Kopf gespeichert wird, stellt sich das Erlebnis der tiefen Stille und des Friedens im Herzen niemals ein. Jaku, die Stille ist eine Erfahrung, die nur mit dem ganzen Körper und dem ganzen Herzen erfahren werden kann, oder wie Dôgen sagt, indem man „Körper und Geist fallen lässt. Hat man diesen Zustand erreicht, so kommt es nicht mehr darauf an, „keine Fehler“ mehr zu machen.
In Japan gibt es die Formel SHU HA RI – erwerben und aneignen, zerstören, vergessen. Für den Anfänger ist es wichtig, die Form mit dem Herzen und dem Körper zu erwerben, eins zu werden mit der Form. Auf der zweiten Stufe kann man auf den korrekten Ablauf, der den Regeln entspricht verzichten. Variationen sind erlaubt, ja sogar das Brechen der Regeln. In den alten Zeiten waren die Teemeister ausgesprochen spontan. Wenn Rikyû Dinge gesehen hat, die ihm gefielen, hat er überlegt, wie er sie in seine Teezeremonie einbauen kann. Einem der Teemeister war im tiefen Winter das Wasser im Kaltwassergefäß gefroren und es hatte sich eine dünne Eisschicht gebildet. Spontan entschloss er sich, das Kaltwassergefäß ohne Deckel in den Teeraum zu tragen. Vor dem Schöpfen des kalten Wassers zerbrach er dann die dünne Eisschicht mit dem Stil des Hishaku, der Schöpfkelle. Wenn der Meister in der letzten Stufe die Form „vergisst“, heißt das nicht, dass er eine völlig neue, nie da gewesene Form verwirklicht. Man hat die feste Form auf dem langen Weg des Lernens derart verinnerlicht, man ist zu der Form geworden, dass immer nur Variationen entstehen. Das Vergessen der Form ist ein Vergessen von sich selbst und ein Aufgehen im „Wasser holen, Feuer anzünden und Teeschlagen.

Mitekoso - Lernen durch Sehen
Sôshitsu Sen schreibt, man könne nicht lernen, indem man andere beobachtet und nachahmt. Es sei wichtig, mit dem eigenen Körper die Bewegungen zu üben und die Erfahrungen des Teeweges zu machen. Aber in Rikyû’s Gedicht heißt es:

Naraitsutsu
Mitekoso narai
Lernen (und den WEG ergründen)
Nur durch sehendes Ergründen
Das Lernen ist ein „sehendes“ Lernen (mitekoso narai). Ist da nicht ein Widerspruch?

Aber „sehendes„ Lernen ist für den Anfänger, wenn überhaupt, nur bedingt möglich. Der Anfänger sieht nur die äußere Form. Später sieht man vielleicht einen Unterschied zwischen dem Anfänger und dem Könner, aber man kann kaum sagen, worin dieser Unterschied besteht. Es ist unmöglich für den Anfänger, etwa aus Videoaufnahmen zu lernen. Natürlich gibt es Schüler, die das versuchen. Aber nach einiger Zeit merken sie dann, dass sie nicht „sehen“ können. Irgendetwas macht der Meister im Video anders, aber was ist es? Wenn die Erfahrung mit dem eigenen Körper nicht vorhanden ist, kann man nicht erkennen, worin die Besonderheit dieser einen harmonisch fließenden Bewegung liegt. Nicht umsonst sagte Sôtan, das der Tee von Hand zum Auge, vom Mund zum Ohr, vor allem aber von Herz zu Herz übermittelt wird, ohne auch nur ein einziges Wort aufzuschreiben. Schriftliche Aufzeichnungen können vielleicht helfen, den komplizierten Ablauf zu erinnern, aber sie ersetzen niemals die eigene Erfahrung, die man mit Körper und Geist gemacht hat. Das Sehen ist kein Sehen nur mit den Augen sondern auch mit dem Herzen, dem Geist. Aber auch dann bleibt die Wahrnehmung unvollkommen, wie Meister Dôgen meint:

(Selbst) wenn wir mit Körper und Geist vereint eine Farbe sehen oder mit gesammeltem Körper und Geist eine Stimme vernehmen, so nehmen nehmen wir immer nur einen Teil wahr und wir verdunkeln den anderen. Dies ist niemals wie Etwas das ganz im Spiegel erscheint, niemals wie der Mond im Wasser.

Man sieht immer nur Teilaspekte des Ganzen, auch wenn man mit Körper und Geist vereint, also nicht nur mit den bloßen Augen sieht. Schaut man beim Üben des Teeweges auf die Hände, sieht man vielleicht nicht den Rücken, schaut man auf die Bewegung, sieht man vielleicht nicht die Atmung. Konzentriert man sich auf einzelne Aspekte einer ganzen Teeinladung, versteht man vielleicht nicht den Gesamtzusammenhang. Erst wenn man das Ganze gesehen hat, kann man vollständig sehen. Viele Zusammenhänge bei den komplizierten Abläufen versteht man auch erst, wenn man das Ganze kennt.
Ich weiß noch, wie ich als Anfänger meinen Lehrer kritisiert habe, weil er immer den gesamten Ablauf einer Tenmae unterrichtet hat. Ich war der Meinung, man sollte doch einzelne Handgiffe üben, bis man diese volständig verstanden hat. Diese Lehr-Methode sei sicher die effektivere. Aber er meinte, man müsse immer das Ganze üben. Nur vom Ganzen her könne man die einzelnen Teile verstehen. Außerdem kommt es im Teeweg nicht auf die Effektivität des Lernen an. Es sollen überhaupt keine "Fertigkeiten" vermittelt werden.

Meister Dôgen vergleicht die Sicht auf das Ganze mit dem Tautropfen, in dem sich der Mond spiegelt:

Erwachen ist wie die Spiegelung des Mondes im Wasser. Der Mond wird nicht nass, das Wasser bleibt unberührt. Das Licht ist weit und groß, trotzdem spiegelt es sich in einer kleinen Pfütze. Der ganze Mond, ja der ganze Himmel finden im Tau am Gras oder auch nur in einem Tropfen Wasser Platz.
Um die Tiefe des Erwachens und die Höhe auszuloten, erforscht die Länge und Kürze dieses Augenblicks in Ozeanen und Bächen. Beobachtet die Weite und Enge des Himmels und des Mondes.

Erst wenn man den "ganzen Mond" in dieser kleinen Einzelheit sieht, den ganzen Ozean der Zeit in diesem Augenblick erfährt, kann man eigenlich "Sehen". Ein kleinliches Abschätzen von Fehlern oder auch gut gemachten Dingen ist zu eng für die ganze Erfahrung. Darum heißt es in Rikyû's Gedicht:

よし あし いふ は 愚か なりけり
Narawasu ni Yoshiashi iu ha roka narikeri
Nicht lernen (und den WEG verfehlen):
Törichtes Gut oder Schlecht reden

Im Kapitel "Herbstfluten" des Zhuangzi wird mehrfach die Geschichte vom Frosch erzählt, der in seinem Brunnenloch sitz und diese Brunnenloch für die ganze weite Welt hält: "Man kann mit dem Frosch, der fest am Grund seines Brunnens sitzt nicht über den Ozean sprechen, denn er sitzt fest in seinem Reich."

"... Hier ist wirklich gut sein", sagte der Frosch zu einer Schildkröte vom Ostmeer.
"Will ich mal ausgehen, dann hüpfe ich auf dem Brunnenrand umher; dann komme ich zurück und ruhe mich in den Löchern aus, wo die Ziegeln aus der Brunnenwand herausgebrochen sind. Ich steige ins Wasser, bis es mir zu den Achselhöhlen reicht und es mein Kinn trägt. Wenn ich durch den Schlamm wate, bedeckt er meine Füße und meine Zehen sinken ein. Schaue ichmich um, dann sehe ich Krebse und Kaulquappen, doch keiner könnte es mit mir aufnehmen. Außerdem gehört das ganze Wasser in diesem Loch mir ganz allein und alle Freuden des zerfallenen Brunnen stehen mir zur Verfügung. Das ist wirklich das Größte. Warum schaut ihr nicht einmal herein, mein Herr, und überzeugt euch selbst."
Doch bevor die Schildkröte auch nur den linken Fuß ins Wasser gesetzt hatte, war sie mit dem rechten Knie schon stecken geblieben. . Nachdem sie sich wieder befreit hatte, zog sie sich ein wenig zurück und erzählte dem Frosch dann vom Meer.
.... Alsder Frosch in dem zerfallenen Brunnen das hörte, erschrak er so sehr, dass er kaumnch wußte, wie ihm geschah.

Der Zenmeister Ikkyu, der einer Legende nach den Teemeister Murata Jukoo zum Schüler hatte, und der auf die Idee gekommen sein soll, den Tee als WEG auszuüben. war vom leeren und sinnlosen Treiben der Mönche im Daitokuji - Tempel entsetzt. Sie hatten zu seiner Zeit offenbar das Ganze aus den Augen verloren und betrieben nur noch eifrig die Zeremonien und Rituale, ohne zu wissen wozu. Erst wenn sich die Übungen des Zen im alltäglichen Leben verwirklichen würden, dann hätteZen seine Erfüllung gefunden. In einem Gedicht, in dem er auf die Geschichte aus dem Zhuanzi Bezug nimmt, verspottet Ikkyu das ganze, sinnlose Treiben:
Wer gewohnt ist, große Fische zu fangen
Lacht über das Gebahren der Frösche.
Sie wühlen im Schlamm,
Gewichtig, eilig, immer geschäftig;
Am Grunde des Brunnens
Wähnen sie sich
Ehrfurchtgebietend und groß.
Bemitleidenswert! -
Die Welt der Priester
Ist nichts weiter
Als ein Brunnenloch.

Bei allem Lernen darf man niemals das Ganze aus dem Auge verlieren, dem Verwirklichen des Weges.

Auch Meister Dôgen spricht vom "lernen". Im Kapitel Genjôkôan des Shôbôgenzô heißt es:

Den Buddhaweg ergründen (zu lernen) heißt sich selbst ergründen (zu lernen), sich selbst ergründen heißt, sich selbst vergessen

Dôgen verwendet hier das Verb narau -習, lernen. Das Lernen ist aber kein Erlernen von Regeln. Es geht nicht darum, zu lernen, in der richtigen Weise zu sitzen, zu liegen, zu essen, zu schlafen. Es geht darum, sich selbst zu „lernen“, das heißt aber, sich selbst zu vergessen. Dieses Lernen beinhaltet zwar das Studium der Schriften, es ist aber auch, vielleicht vor allem, die tägliche Praxis der Übungen.
Dôgen berichtet, wie er selbst in China den Zen studierte und sein Meister zu ihm sagte, das Üben und die Erfahrung nicht zwei aufeinanderfolgende Dinge sind. Das fortgesetzte Üben ist bereits die Erfahrung. "Man sollte auch nicht zwischen Anfängern und Fortgeschrittenen, zwischen Heiligen und gewöhnlichen Menschen unterscheiden. ... Ein Meister sagte: jemand, der den WEG sieht, übt den WEG. Denkt daran, dass ihr, selbst wenn ihr schon zur Wahrheit erwacht seid, immer weiter üben müsst." Naraitsutsu, das fortwährende Lernen währt ein ganzes Leben. Esführt nie zu einem endgültigen Ziel. Das ganze Leben ist Lernen.


autor: g.staufenbiel   | © myōshinan chadōjō / teeweg.de