利休百首 - RIKYŪ HYAKUSHŪ

Die sogenannten Rikyū Hyakushũ sind eine Sammlung von etwa 100 Gedichten, die in der Form von waka geschrieben sind (7 - 5 - 7 / 7 - 7 Silben).
Der genaue Titel lautet CHANOYU HYAKU SHũ 茶の湯百首.
Es existieren unterschiedliche Sammlungen von Lehrgedichten zum Chanoyu unter diesem Namen, die teilweise bis zu 300 Regeln enthalten, teilweise nur ca. 100, wobei nicht alle Regeln in den unterschiedlichen Sammlungen übereinstimmen. Vermutlich handelt es sich um eine Sammlung von Merkversen, die möglicherweise in eine Zeit weit vor Rikyũ zurückreichen und die teilweise vielleicht aber auch erst nach Rikyūs Tod verfasst wurden. Möglicherweise sind eine Reihe der Hyakushū, wenn nicht gar die meisten auf Take no Jōo oder Murata Jukō zurückzuführen, wenn sie nicht sogar noch älter sind.

Die Tradition der Sammlung der "100 Gedichte" reicht jedenfalls schon bis in die frühe Heian-Zeit zurück, wo man schon bald die sogenannten Dōka 道歌 Lehrgedichte verfasste. Einige Dōka zum Chanoyu, die vermutlich von Rikyū selbst stammen, finden sich im Namboroku. Dort waren sie auf der Rückseite von einigen Stücken Altpapier notiert. Im ganzen sind es 10 Gedichte, unter anderem die berühmten beiden Gedichte:
roji wa tada
ukiyo no hoka no
michi naru ni
kokoro no chiri no
nado chirasan
Da der taubedeckte Pfad
nichts anderes ist
als ein Weg abseits des Weltgetriebes,
wird er das Herz wohl
von seiner Unreinheit befreien.
Chanoyu to wa
tada yu wo wakashi
cha wo tetete
nomu bakari naru
koto wo shiru-beshi.
Chanoyu: das bedeutet
dessen muß man sich bewußt sein,
nur Wasser erhitzen
Tee bereiten
und ihn trinken
Diese Gedichte sind aber nicht in die 100 Hyakushū eingegangen.

Die 100 Lehrgedichte wurde mit nahezu allen berühmten Namen der Teegeschichte in Verbindung gebracht. So gibt es die Rikyū Hyakushū, die Take no Jū-, Nambo Sūkei, und die Kobori Enshu Hyakushū. So hatte jede Schule, also etwa die Enshū Ryū ihre eigenen Hyakushū. Auf der Halbinsel Kyushu, wo die Urasenke und die Omotosenke keine so große Bedeutung haben wie in der Kaiserstadt Kyōto kursieren eigene Formen von Rikyū Hyakushū, besonders in der Higo-koryū 肥後古流, der "alten Schule", die von sich behauptet, noch den alten Stil Rikyū's zu pflegen.


Die Chanoyu hyakushū wurden vermutlich erst in der frühen Edo-Zeit als Sammlung von 100 Gedichten zusammengestellt. Im Jahr 1783 erschien ein Werk mit dem Titel Chanoyu hisho, herausgegeben von Domon Motosuke. Das Werk enthält eine Abschrift von 92 Gedichten zum Chanoyu, die Matsuya Hisamitsu im Jahr 1708 kopiert hatte. Aber in dieser Sammlung wird keiner der großen Teemeister erwähnt, weder im Titel noch im Text. Diese Sammlung ist nahezu identisch mit den Rikyū Kōji chado waka hyakushū aus dem Jahr 1752. In dieser Ausgabe findet sich ein Nachwort:

Was ich hier niedergeschrieben habe entspricht den Wünschen der Leute, die den Tee studieren möchten. Es sind etwas weniger als 100 Verse in lockerer Form. Ich weiß nicht, wie diese Gedichte entsprechend der Regeln geordnet werden sollten. Sie sollen lediglich als eine Hilfe auf dem Weg dienen. Ich bin hier lediglich meinem üblichen Erzählfluss gefolgt. Keinesfalls sollte es von Anderen gelesen werden.

Hochachtungsvoll Tensho 8 (1580), erster Monat

Hosensai Sen Rikyū (Unterschrift)

Seit dieser Zeit gilt das Werk als eine Niederschrift von Sen no Rikyū, das aber in ca. 10 verschiedenen Versionen kursiert, die zum Teil erheblich voneinander abweichen.

Gengensai und die Hyakushū

Die einhundert Hyakushu, wie sie in der Urasenke und der Omotesenke gelesen werden, wurden von Gengensai (1810 - 1877), dem Großmeister der Urasenke in der 11. Generation auf die Fusuma - die Schiebetüren eines Teeraumes geschrieben und stellen vermutlich eine mehr oder wenig zufällige Auswahl dar, die Gengensai für seine Art des Tee-Unterrichtes für nötig erachtete.
Gengensai war aus der mächtigen und weit verzweigten Matsudaira - Familie adoptiert worden, aus der die Tokugawa Shogune u.a. der ersten Shogun Ieyasu stammten. Damit fand die Urasenke Zugang zu den höchsten Kreisen des Kriegeradels.
Gengensai Fusuma

Gengensais Fusuma im Dairo no Ma mit den Hyakushū

Gengensai schrieb eine Auswahl der "Rikyū Hyakushū" auf die Fusuma, die Schiebetüren in einem Raum der Urasenke, der als großer Versammlungs- und Schulungsraum diente, dem Dairo-Ma, dem Raum mit großer Winterfeuerstelle. Es war also nicht Rikyū, der die "Regeln des Teeweges" auf die Wände seines Teehauses im Higashiyama-ku schrieb, wie es fälschlicherweise in dem Wikipedia Artikel über die 'japanische Teezeremonie' heißt. Es ist eben nicht alles richtig, was im wiki steht. Die Angaben hier sind nachzulesen in einem Artikel von Tsutsui Hiroichi, dem wissenschaftlichen Leiter der Urasenke Bibliothek in der Publikation der Urasenke Chanoyu Quarterly Nr 24, die aber leider vergriffen ist.

Gengensai war eine der wichtigsten Gestalten in der neueren Geschichte des Teeweges.
Er wurde im Alter von 9 Jahren vom Urasenke Iemoto der 10 Generation Nintokusai adoptiert, weil dieser keine männlichen Nachkommen hatte. Als Nintokusai 8 Jahre später starb, wurde Gengensai mit 18 Jahren der neue Iemoto der Urasenke.
Er lebte in der Meiji Zeit, einer Epoche voller Veränderungen und Modernisierungen. In dieser Zeit wurden die traditionellen Künste, die überwiegend von Samurai ausgeübt worden waren verboten, weil ja auch der gesamte Samurai-Stand per Verordnung abgeschafft worden war. Die Künste galten als reaktionär und als reine Zeitverschwendung. Es galt, den Westen möglichst schnell in seiner Technologie einzuholen, weshalb alle Kräfte auf dieses Ziel konzentriert wurden. Der Teeweg wurde ebenfalls als Zeitvertreib und Geldverschwendung angesehen. In dieser Situation schrieb Gengensai direkt an Meiji-Tenno einen Brief, in dem er den Teeweg verteidigte.

Gengensais Brief über Chanoyu:

Die ursprüngliche Intention des Teeweges ist es, Loyalität, kindliche Pietät und die fünf Tugenden (Wohltätigkeit, Aufrichtigkeit, Rechtschaffenheit, Weisheit und Verantwortungsbewusstsein) zu vermitteln und Bescheidenheit, Schicklichkeit und Genügsamkeit hoch zuhalten um den Dienst am Frieden und Wohlergehen der Allgemeinheit zu fördern und Menschen zu bilden, die ohne Unterschied von Nähe oder Ferne, von Reichtum oder Armut miteinander umgehen und die die göttliche Vorsehung für das Schicksal, das Wohlergehen und die Langlebigkeit der kommenden Generationen achten.
Weil der Tee ein Weg mit diesen Prinzipien ist, kann man die nach strikten und formalen Regeln gestaltete Tee-Einladung als reinste Form von Tätigkeiten sehen, die Menschen ausüben können, ohne die fünf Teile des Körpers zu schädigen. Alle diese Ideen und Prinzipien sind selbst in der schlichtesten Form einer Tee-Versammlung zum Servieren von dünnem Tee vorhanden.

Nicht in der Kleidung, nicht im Essen oder in den schlichten Teeräumen, nicht in den Utensilien oder Gärten finden sich Exzesses irgend einer Art in der lauteren Praxis. Der Geschmack des Tee scheint überall.

gengensai chado gen-i

Gengensais Chado no Gen-i

Der Schlusssatz des Briefes ist in waka - Form als Gedicht geschrieben. Sie sind hier wegen der leichteren Lesung in modernes Deutsch übersetzt.

Gengensai rückt in diesem Brief den Teeweg in ein völlig neues Licht, in das Licht des Neokonfuzianismus, in dem es um das Wohlverhalten in der Familie und der Gesellschaft geht. Der Teeweg dient dazu, die Menschen zu erziehen, damit sie tugendhafte und ehrfürchtige Staatsbürger werden, die den strikten Regeln folgen, die von den Führern aufgestellt wurden. Das gefiel der Meiji Administration und der Teeweg nahm einen ungeheuren Aufschwung, vor allem als Bildung junger Mädchen. Seit jener Zeit sind Frauen im Teeweg weitaus in der Überzahl. Der Tee dient jetzt dazu, ehrfürchtiges Verhalten nach strikten und formalen Regeln in einer neokonfuzianisch geprägten Gesellschaft einzuüben. Derart gebildete Frauen hatten gute Heiratschancen. Noch heute verstehen sich viele alte Teelehrerinnen als eine Art Heiratsvermittlerinnen.

Gengensai war ohne Zweifel ein äußerst kreativer Kopf, der den modernen Teeweg geschaffen hat. Der Teeweg im Stil der Urasenke ist jedenfalls tiefgreifend von Gengensai geprägt. Vielleicht schrieb er gerade deshalb die Rikyū Hyakushū auf die Fusuma, weil er sich trotz aller Neuerungen und Veränderungen des Teeweges - noch dazu als Adoptivsohn aus dem Matsudaira-Clan - als legitimer Nachfolger Rikyū's ausweisen musste.

Im Jahr 1839 - Gengensai war gerade 29 Jahre alt - beging Gengensai von September bis zum Jahresende feierlich den 250. Jahrestag des Todes Rikyū's. In diesem Jahr wurden fast sämtliche heute noch existierenden Bauten der Urasenke errichtet, das Eingangstor, der Raum mit dem Dai-Ro und den mit den Hyakushū beschriebenen Fusuma, der große Teeraum Totsutotsusai und der Raum Hōsensai. Zu dieser Zeit war der Iemotos der Omotosenke gerade 23 Jahre und der Iemoto der Mushanokoji Senke 9 Jahre alt. Gengensai war also die beherrschende Gestalt des modernen Teeweges. Gengensai's Erinnerungen a Rikyū dienten zur Autorisierung seiner Macht und seines neuen - vorgeblich alten - Teeweges.

Durch Gengensais Bemühungen wurde der moderne Teeweg eine Massenbewegung, der breite Bevölkerungsschichten erfasste. Auch die Massenproduktion von Teegeräten begann erst jetzt.

Zugleich begann die Verschulung des Teeweges. Der WEG wird nun ein Schulungs-Weg, der strikten Regeln und Richtlinien folgt. Der Vorteil für den Schüler ist es, dass Jeder den Weg gehen kann, Schritt für Schritt, weil ohnehin alles genauestens geregelt ist.

Aber es ist die Frage, ob zur Zeit Rikyū's der WEG als ein Schulungs-WEG nach strikten Regeln verstanden worden ist. Dann wären aber auch die Hyakushū nicht als ein Regelwerk, sondern als eine Hilfe auf dem WEG zu verstehen, so wie es in dem Nachwort in den Rikyū Kōji chado waka hyakushū aus dem Jahr 1752 heißt:

Ich weiß nicht, wie diese Gedichte entsprechend der Regeln geordnet werden sollten.
Sie sollen lediglich als eine Hilfe auf dem Weg dienen.

Die Sammlung der Hyakushū ist "ungeordnet", weil der Verfasser meint, dass er nicht weiß, nach welchen Regeln er die Ordnung herstellen sollte. Die Sammlung stellt also noch nicht eine fest geordnete Struktur des Lernens und Unterrichtens dar. Sie folgt dem freien Erzählfluss, so wie es eben dem Verfasser einfällt. Und so wurde wohl auch die Kunst des Tee gelernt und gelehrt: frei fließend je nach der Situation, ohne festen Regeln zu folgen. Darum konnte sich auch die Kunst des Tee weiterentwickeln und verändern und sich den jeweils geänderten Umständen anpassen. Dazu gibt es viele Beispiele in den Hyakushū, die eine völlig andere Praxis als heute üblich zeigen. Der Verschulung hat den Vorteil, dass nun Jeder in der Lage ist, den Weg zu lernen, aber sie hat den Nachteil, dass die Regeln erstarren können und eine Weiterentwicklung verhindern.

Wie dem auch sei, nahezu alle heute veröffentlichen Hyakushū basieren auf der Auswahl und Schreibung von Gengensai's Fusuma Hyakushū. Gengensai hatte dabei wohl alle jene Gedichte weggelassen bzw. den Wortlaut angepasst, die allzu sehr von seiner neuen Praxis des Teeweges abwichen.


autor: g.staufenbiel   | © myōshinan chadōjō / teeweg.de