Kan - Schranke, Grenze

Das achte Beispiel aus der Kôan – Sammlung Bi Yän Lu (japan. Heki gan Roku) enthält das Kôan
„KAN“ 関.

Zen - Meister Ts’ui-yen (jap.: Suigan) sagt nach dem langen Sommer - Training zu seinen Schülern:
„Meine Brüder seit Beginn des Sommers habe ich viel geredet.
Schaut, ob mir auch nur ein Härchen meiner Augenbrauen geblieben ist.“
Die Antworten seiner Schüler:
Pao-Hao (Hofuku):
„Der Räuber hat ein hohles Herz.“
Ch’ang-ch’ing (Chokei):
„Sie wachsen!“
Yün-men (Ummon – Wolken Tor):
„Kan!“ (関 - Grenze, Barriere)


Ummon
Yün-men (Ummon)
Zeichnung von Meister Hakuin

Den ganzen langen Übungssommer über hatte Tsui Yen geredet und geredet. „Wie hätte man das auch merken sollen, wo er doch immer den Mund auftat!“ bemerkt Meister Yüan Wu, der alle Beispiele des Bi Yän Lu kommentiert hat, zu dem unmöglichen Unterfangen, Zen zu erklären.
„Wissende reden nicht, Redende wissen nicht“ (知者不言。言者不知 Dao De Jing 56).

Dort wo das Unverständnis sich breit macht, ist es so, „als würde der Bauer an seinem Baumstumpf lauern und auf den Hasen warten“. Einmal nämlich hatte ein Bauer zufällig beobachtet, wie ein Hase, der von einem Hund verfolgt wurde, gegen einen Baumstumpf rannte und sich den Schädel einschlug. Seit der Zeit wartet er an eben diesem Baumstumpf auf den nächsten Hasen.

Warum ist Tsui Yen aber um seine Augenbrauen besorgt?
Zen – Meister Dan-Hsja, kam auf seiner Wanderschaft in einer kalten Winternacht in den Hui Lin Ji, dem Gnadenwald-Tempel, wo er eine hölzerne Buddha-Statue verbrannte, um sich zu wärmen. Vom Abt zur Rede gestellt, sagte er:

„Ich habe doch nur nach einem Sarira (Knochen Buddhas als Reliquie) gesucht.“ „Wie soll es denn Knochen geben? Es ist doch nur eine Holzstatue?“ „Wenn es sich nur um Holz handelt, kann ich es auch zum Heizen benutzen!“

Der Abt fand diese Sicht vernünftig und weil ihm auch kalt war, setze sich ans Feuer, um sich zu wärmen. Dabei verlor er jede Vorsicht und kam so dicht an die Flammen, dass er sich die Augenbrauen verbrannte.
Er hatte ohne Empfindung zunächst rein formal argumentiert und eine Buddhastatue als Gegenstand der Verehrung angesehen. Dann verlor er jede Distanz zum Geheimnis des Lebens. Er konnte nicht genug bekommen von der Wärme des Feuers. Ohne jede Vorsicht geht er so nahe heran, dass er seine Brauen verliert. Aber was hätte er denn sehen sollen? War es nicht doch eine Buddhastatue, die verbrannte und nicht nur Holz? Gibt es überhaupt ‚nur’ Holz? Wo das ‚große Wirken’ in Erscheinung tritt, „ergreift es einmal einen Grashalm und macht daraus einen Goldbuddha von 16 Fuß, einmal nimmt es einen Goldbuddha von 16 Fuß und macht daraus einen Grashalm!“

Ts‘ui-Yen hatte einen Sommer lang nicht nur die Meditationen geleitet, sondern auch viel und ohne vorsichtigen Abstand zu halten, über Zen, also schlicht über das Unsagbare – geredet. Natürlich weiß er, dass er als Zen – Meister über das Unsagbare reden muss, denn nur in diesem Paradox kann er seine Schüler über die Grenze aus dem Bereich der Vielheit in die „offene Weite“ des Bodhidharma führen. So sind vielleicht nicht nur seine Augenbrauen verschwunden: „Zum Überfluss sind ihm auch noch die Augäpfel herausgefallen. Sogar seine Nasenlöcher sind verschwunden!“ sagt Yüan Wu dazu.
Außerdem kann er sich nur vorbehaltlos und ohne Vorsicht an das „Feuer“ wagen, denn nur so kann er seinen Schülern helfen, zur „offenen Weite“ zu finden. Seine Frage, ob er überhaupt noch Augenbrauen besitzt, ist eine rhetorische Frage.
Alle drei Schüler werden später selber große Zen-Meister und Lehrer, ihre Antworten sind daher, jede in ihrer Weise, dem Charakter des Schülers entsprechend richtig.

Pao-Hao (Hofuku): „Der Räuber hat ein hohles Herz.“ „Klar, Räuber verstehen einander!“ sagt Yüan Wu dazu. Sowohl Tsui Yen als auch sein Schüler Pao-Hao sind Räuber: sie rauben dem Übenden alles Persönliche, die Gedanken und Gefühle, die das Herz anfüllen und von der großen Freiheit abhalten. Erst das leere, hohle Herz ist wie ein klarer, reiner Spiegel.

Ch’ang-ch’ing (Chokei): „Sie wachsen!“ Die Reden von Tsui Yen waren nicht unecht, sondern echt, „wie ein weißes Jadeszepter“.

Daitôkokushi und das Kôan KAN

Der Ausruf von Yün-men (Ummon) – „Kan“ wird zum wichtigsten Kôan im Daitokuji 大徳寺 in Kyôtô.

Der Daitokuji wurde 1327 von Shûho Myôchô (1282 – 1337), besser bekannt unter seinem Namen
Daito Kokushi 大灯国師 (Grosser leuchtender Lehrer des Landes),
gegründet und nach ihm benannt. Der Tempel diente dem Exkaiser Hanazono sowie dem Kaiser Godaigo, die Daito bei der Gründung des Tempels gefördert hatten, als Ort der Andacht und Übung.

Daitokokushi
Daitôkokushi
als Landstreicher
unter der Gojo-Brücke

Daito wurde mit elf Jahren Mönch und studierte buddhistische Philosophie. Mit 22 Jahren traf er erstmals auf den großen Lehrer Daio Kokushi 大応国師 (1235 – 1308), der ihm das Koan „Kan“ gab. Daito konnte das Koan, auch nach einem harten dreijährigen Training, nicht lösen. Es beschäftigte ihn noch lange Jahre, in denen er unentwegt an dem Kôan arbeitete. Er war völlig verzweifelt, weil er das Kôan nicht lösen konnte.

Kan, oder nach einer anderen Lesung Seki, ist das Tor an der Grenzbarriere, an dem die Durchreisenden kontrolliert werden. Dieses Tor ist so fest verschlossen, dass nicht einmal eine Maus einen Durchschlupf finden könnte. Es liegt nicht in der Macht der Reisenden, die in ein anderes Reich hinüber wollen oder vielleicht auch müssen, dieses Tor zu öffnen, dafür ist es zu fest verriegelt und zu gut bewacht. Je mehr man sich bemüht und anstrengt, auf die andere Seite zu gelangen, desto fester geschlossen scheint es zu sein. Das Reich auf der anderen Seite lockt mehr und mehr, dort ist die große und offene Weite, die Freiheit und die Ruhe, hier ist die Welt der Hast und Zerrissenheit, des Streites und der Auseinandersetzung.

Aber es gibt keine Möglichkeit, den Durchgang in den anderen Bereich zu erzwingen. Auch keine List und kein Trick hilft. Ein Samurai hatte sein ganzes Leben geübt, den Schrei des Hahnes im Morgengrauen nachzuahmen. Als er versuchte, den Wächter der Osaka Grenzbarriere, einer der am schwierigsten zu überwindenden Grenzschranken der Edozeit mit diesem Hahnenschrei zu täuschen, bemerkte dieser den Trick sofort. „Es gibt keine Möglichkeit, die Osaka – Schranke, die Grenzbarriere zum Satori, zu überschreiten, indem man in der Nacht den Hahnenschrei nachahmt.“

Kan ist nicht nur die Schranke, die ein Gebiet vom anderen trennt, es ist auch die Trennung von Innen und Außen. Der Eingangsbereich des japanischen Hauses heißt Gen-Kan 玄関. 玄 Gen ist das Unscheinbare, Dunkle und Verborgene, das Geheimnisvolle und Mysteriöse. Im Inneren des Hauses, in dem für den Fremden geheimnisvollen Dunkel, ist der Ort der Ruhe. Kein Außenstehender kann die Schranke zum Inneren des Hauses übertreten und die Ruhe stören. Jeder, der hindurchgehen darf, ist hier zu Hause. Er hastet und irrt nicht mehr außen in der Fremde herum, er hat den Ort der Ruhe gefunden, der sein eigener Ort ist.

Nach vielen Jahren der Meditation über „Kan“ gelang Daitô Kokushi der plötzliche Durchbruch, als ihm eines Tages ein Schlüssel zu Boden fiel. Es war, als hätte dieser entglittene Schlüssel mit einem Schlag den Riegel vom Durchgang in den anderen Bereich geöffnet. Seine Zen Erfahrung war so klar und sicher, dass er nicht anders konnte, als ein Gedicht zu verfassen, das er seinem Lehrer übergab:

一 回 雲 関 透 過 了
南 北 東 西 活 路 通
夕 処 朝 遊 没 賓 主
脚 頭 脚 底 起 清 風
itsukai ûnkan o to kashi owari
nanbokutôsai katsuru tsûsu
sekisho chihô yû hinshû o botsu
kiyaku tô kiyakutei seifû o
Ein einziges Mal die Wolken-Sperre vollständig durchdringend hinübergegangen:
Süden Norden Osten Westen: lebendiger Weg weitet sich
abends am Ort, morgens spielend: Verschwinden von Gast und Gastgeber
Fuß Kopf Fuß – von unten bis oben reiner Wind

Die Barriere ist verschwunden, alle Richtungen sind weit und offen. Der lebendige Weg weitet sich nach Norden, Süden, Osten und Westen, in alle Richtungen. Es gibt weder Grenzbarriere noch Nicht-Barriere.
Zwar weitet sich der Weg in alle Richtungen, aber eigentlich gibt es auch keine Richtungen mehr, so wie es weder Gast noch Gastgeber gibt, da alle Unterschiede, die ein Einzelnes ausgrenzen, verschwunden sind.
Am Abend ruhend, heimgekehrt an den Ort des Ursprunges, kann er beliebig wieder hinausgehen und in alle Richtungen umherziehen, da es weder ein Innen noch ein Außen gibt.
Wie in der Geschichte vom Hirten, der auszog, um seinen Ochsen zu finden, ist er heimgekehrt und hat vergessen, dass er je seinen Ochsen, sein eigentliches Selbst verloren hatte.

Daitô Kokushi hat nach dieser Erfahrung 20 Jahre unter der Gojo-Brücke in Kyoto gelebt. Unter die Bettler gemischt übte er dort Zazen, um seine geistige Reife weiter zu trainieren.

 

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