DAS VAJRACCHEDIKA PRAJNAPARAMITA SUTRA

In China wird das Sutra kurz "Diamant-Sutra" genannt. Der Diamant (vajra) durchschneidet (cchadika) mit seiner unübertrefflichen Härte und Schärfe Unwissenheit Wahn und Illusion und das daraus entstehende Leiden. Dieses Duchschneiden bringt die Freiheit vom Leiden und von der Unwissenheit und geleitet über das Meer des Leidens hin zum jenseitigen Ufer der vollkommenen Weisheit des alles übersteigenden Verstehens (Prajnaparamita). Das Prajnaparamita ist neben dem Lotussutra, das durch den Tendai Buddhismus in Japan zu immenser Bedeutung gelangte eines der wichtigsten Sutren des Mahayana.

"So habe ich gehört:
1. Lehrrede Buddha's Zu jener Zeit weilte der Buddha im Jetvana - Kloster im Park des Anathapindika in der Nähe von Sravastri; mit ihm waren 1250 Bhikkhus, vollordinierte Mönche.
Als an diesem Tag die Zeit der Almosenrunde gekommen war, legte der Buddha die Mantelrobe an, nahm seine Schale und ging in die Stadt Sravastri. Dort schritt er von Haus zu Haus und bettelte um Almosen. Danach kehrte er in das Kloster zurück, um sein Mittagsmahl einzunehmen. Schließlich legte er seine Mantelrobe ab, stellte die Schale beiseite, wusch seine Füße, richtete sein Kissen und setzte sich nieder."

So beginnt das Prajnaparamita, eines der schwierigsten Sutren, dessen Kern aus einer hochspekulativen und ausgefeilten, geradezu scholastischen Logik besteht, die allerdings mit einem kühnen Sprung jede Logik sprengt und zu einer Erfahrung jenseits jedes Alltäglichen führt. Um so erstaunlicher ist es, daß ein solcher Text mit einer alltäglichen, ja geradezu gewöhnlichen Einleitung beginnt.

Ein exakter Ort und eine genaue Zeit sind angegeben. Der Buddha wird in einer Gemeinschaft von vielen Mönchen gezeigt. Warum legt er dann selbst das Bettelgewand an, vertut seine Zeit mit Betteln, bereitet sich das Mittagsmahl, um es dann, wie jeder gewöhnliche Mensch auch einzunehmen? Sollte man nicht erwarten, daß die Mönchsgemeinde diese alltäglichen Verrichtungen für ihn erledigt, um ihn für die höheren Aufgaben freizuhalten?

Sogar die Füße wäscht sich selbst, bevor er mit seinen Unterweisungen beginnt. Könnte nicht einer der anderen ihm, dem Tathagata diesen Ehrendienst erweisen? Aber Buddha agiert hier wie ein ganz gewöhnlicher Mensch ohne jeden Rang, bedingt durch einen konkreten Ort und eine konkrete Zeit.

Kaum hat er sein Sitzkissen gerichtet, beginnt er seine Belehrungen mit einem gewaltigen Sprung, der alle Begrenzungen und Bedingtheiten durchschneidet.

"Wie viele Arten von Lebewesen es auch geben mag ... wir müssen alle diese Wesen zum endgültigen, vollständigen Nirwana führen, damit sie Befreiung finden können."

Die gewaltige Aufgabe eines Boddhisattva, an die Buddha seine Belehrungen richtet, besteht darin, die ungeheure Vielzahl aller nur denkbaren Lebewesen zur Befreiung zu führen.

Buddha formuliert aber nicht nur: "Wie müssen alle Lebewesen zur Befreiung führen!" In streng indisch – scholastischer Form bestimmt er die Arten der Lebewesen genauer:

" ... ob aus einem Ei oder einem mütterlichen Schoß geboren, aus Feuchtigkeit entstanden oder aus sich selbst heraus; ob diese Wesen nun Form haben oder keine Form, Wahrnehmung haben oder keine Wahrnehmungen, oder ob von ihnen nicht gesagt werden kann, ob sie Wahrnehmungen haben oder nicht ... " Genauer und logisch vollständiger könnte keiner der frühen griechischen Philosophen die Arten der Lebewesen klassifizieren. Unmittelbar nach dieser klar formulierten Aufgabe der Boddhisattvas, an denen sie unermüdlich wirken müssen, schlägt die nächste Bemerkung wie ein Blitz jede Alltäglichkeit zu Boden und die Kernaussage der Prajnaparamita erscheint völlig unvermittelt:

"Wenn die nicht zu zählende, unermeßliche, unendlich große Anzahl der Wesen befreit ist, denken wir nicht, daß auch nur ein einziges Wesen befreit ist."

Wenn ALLE Wesen befreit sind, ist KEIN Wesen befreit?! Warum?

"Wenn ein Bodhisattva an der Vorstellung festhält, daß es ein Selbst, eine Person, ein Lebewesen oder eine Lebensspanne existiere, dann ist er kein echter Bodhisattva."

Ein einzelnes Wesen ist nach dem Alltagsverständnis durch Grenzen gekennzeichnet, durch die es klar von Anderen unterschieden ist. Befreiung ist dann klar von der Unfreiheit unterschieden. "In Wirklichkeit gibt es kein unabhängig existierendes Objekt des Geistes, das höchster, vollkommen erwachter Geist genannt wird".

Dies ist derselbe Gedanke, der auch im Tao Te King ausgesprochen wird: sagt man ‚gut‘, so setzt man im Unterschied dazu ‚schlecht‘, sagt man ‚hoch‘, setzt man damit ‚niedrig‘. Das, was der Buddha hier anspricht, ist nicht mit Logik erfaßbar, es entspringt der meditativen Erfahrung der Unbegrenztheit und Freiheit. Als Boddhidharma nach China kommt, so will es die Legende, antwortet er ganz im Geist der Prajnaparamita auf die Frage des Kaisers Wu Di nach dem "höchsten Sinn der heiligen Wahrheit": "OFFENE WEITE! NICHSTS HEILIGES!"

Die offene Weite Offene Weite kennt keine Abgrenzungen oder Unterscheidungen. Es ist der Zustand des EINS – Seins mit ALLEM oder wie es Heraklit sagt des "Hen Panta". Darum handelt es sich auch nicht um etwas "Heiliges", denn das Heilige grenzt das Profane aus.

Der Gedanke der Grenzenlosigkeit wird weitergeführt: "Wenn ein Boddhisattva sich in Freigebigkeit übt, stützt er sich auf kein Objekt, das heißt, er stützt sich auf keine Form, keinen Klang, keinen Geruch, keinen Geschmack, kein Berührbares und kein Dharma." Wenn sich der Geist nicht auf Zeichen stützt, die ja immer ein abgegrenztes Einzelnes sind, wird " das Glück, das daraus entspringt "weder vorstellbar noch ermeßbar" sein.

In der Befreiung, die Buddha anspricht, gibt es keine solchen individuellen Grenzen mehr: "Glaubst du, daß es möglich ist, den Raum in östlicher Richtung zu vermessen, ... in westlicher, südlicher, nördlicher Richtung, nach oben und nach unten hin? .. Er kann nicht vermessen werden!"

Der Raum ist nach indischer Vorstellung die Leere ohne jede Begrenzung und damit die Möglichkeit, daß ein Etwas innerhalb von Grenzen aufscheinen kann.

Genau gesehen kann auch kein Glück aus dem grenzenlosen Geist entspringen, denn Glück ist das Gegenteil von Unglück. Wenn es keine Befreiung gibt, kann es auch keine Lehren geben, die zu dieser Befreiung führen: "Ihr müßt wissen, daß alle Lehren, die ich Euch gebe, ein Floß sind. Alle Lehren müssen aufgegeben werden, ganz zu schweigen von den Nicht -Lehren." Ein Floß ist ein Notbehelf, etwas an das man sich klammern kann, um nicht im Meer der Unendlichkeit unterzugehen.

Mit einem weiteren gewaltigen Blitzschlag und einem Kopfsprung gelangt Buddha im Diamantsutra aus der Unendlichkeit zurück in die Konkretion des Alltags. "Wenn ein Sohn oder eine Tochter die dreitausend Chiliokosmen mit den sieben kostbaren Schätzen füllen würde, ...würde das nicht großes Glück bewirken? " Großes Glück wird aber nicht nur bewirkt, wenn die Unendlichkeit der dreitausend mal zehntausend Kosmen mit Schätzen gefüllt wird. Selbst wenn auch nur eine einzige Person die Lehren dieser Sutra – sei es auch nur eine Gatha mit vier Zeilen - annimmt und verwirklicht, ist das Glück, das daraus entspringt größer, als wenn die Unendlichkeit der Kosmen mit den sieben Schätzen angefüllt würde, weil alle Buddhas und die höchste Befreiung aus diesen Lehren hervorgeht."

Hier kommt die völlig paradoxe Logik des Diamantsutra zum Vorschein:

Weil Tugend und Glück in Ihrem Wesen NICHT Tugend und Glück sind, kann man sie Tugend und Glück nennen. Weil die Befreiung in ihrem Wesen NICHT Befreiung ist, kann man sie Befreiung nennen.

Weil die Zeichen, an denen man den Buddha erkennt, keine Zeichen sind, kann man den Buddha erkennen wie er, wenn es die Zeit vorschreibt, seinen Bettelmantel nimmt, von Haus zu Haus betteln geht, das Mittagsmahl bereitet, seine Füße wäscht und sich nieder setzt zu Lehrgesprächen oder – wenn er kein Mönch ist: ißt, wenn er hungrig ist, schläft, wenn er müde ist. Gerade in der unmittelbaren Alltäglichkeit zeigt sich die vollkommene Befreiung.

Ein chinesischer Zen – Meister formulierte dies so: "Bevor ich anfing, Zen zu studieren, waren die Berge Berge und die Flüsse Flüsse. Als ich Zen studierte, waren die Berge nicht Berge und die Flüsse nicht Flüsse. Jetzt, nachdem ich Zen studiert habe, sind die Berge Berge und die Flüsse Flüsse."

Vor dem Beginn der Übungen ist die Welt das, was das Subjekt durch seine subjektive Wahrnehmung aus seinem Gegenüber "macht". In dem berühmten Beispiel erscheint bei einem nächtlichen Waldspaziergang durch meine eigene Ängstlichkeit ein Seil als Schlange. Ein Baum ist nicht einfach ein Baum. Meine subjektive Sehweise läßt mir "meinen" Baum erscheinen. Ein Forstwirtschaftler, ein Biologe, ein Maler, ein Verliebter sehen jeweils einen anderen Baum. Meine jeweilige Absicht, meine Ausbildung, mein subjektives Erleben prägen die Art meiner Wahrnehmung von Welt. Der wahre Baum ist nicht etwa die Summe aller subjektiven Vorstellungen, die von dem Baum möglich sind. In der meditativen Erfahrung verschwindet die Grenze zwischen Subjekt und Objekt – sowohl der Baum als auch ich selbst sind verschwunden. Dann plötzlich bin nicht mehr ich es, der sich den Baum vorstellt, der Baum ist viel zuvorkommender: vor jeder Vorstellung von mir hat er sich bereits mir vorgestellt - aber nicht mehr als der Baum für etwas, sondern einfach nur als Baum. (Martin Heidegger: Was heißt Denken)

"Die Welt ist nicht die Welt – darum kann man sie die Welt nennen."

Das Diamantsutra vereinigt in sich die höchste Spekulation mit der unmittelbaren Konkretion des Alltag. Der Alltag allerdings ist verwandelt. Es gibt nicht mehr das Leiden an den engen Grenzen und den sich täglich wiederholenden Formen. Die Dinge sind nicht eng und einschnürend, weil die "Dinge nicht die Dinge sind". Wer die Regeln der Übungswege, zum Beispiel die engen und genauen Formen des Teeweges als feste Regeln nimmt, die es unbedingt einzuhalten gilt, erlebt sie als Selbstzweck, einengend und unfrei machend. Der Teeweg wird zu einem festen Regelsystem, in dem sich zwanghaft veranlagte Menschen sicher fühlen können und in ihrer Zwanghaftigkeit bestätigt sehen. Die Angst, einen Fehler zu machen, der Stolz, etwas "besser" zu können als Andere engen ein und machen unfrei. Die Regeln sind ein Floß: sie helfen, die ersten unsicheren Schritte über den Abgrund zu gehen. Springen wir kopfüber in das Meer der Unendlichkeit und erleben die Freiheit. Die Regeln sind dann etwas ganz natürliches und harmonisches, das uns hilft, "eine Schale Tee zu trinken".

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