FRIEDRICH HÖLDERLIN

HÄLFTE DES LEBENS

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.
 
Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

In äußerster Knappheit und konzentrierter Verkürzung wird eine große Weite von Emotionen eingefangen. Das kleine Meisterwerk hat geradezu eine japanische Anmutung: fast mit dem Rhythmus eines Haiku: Mit gelben Birnen hänget / Und voll mit wilden Rosen / Das Land in den See ( 7 / 7 / 5 )

Das Gedicht scheint eine naive Naturschilderung zu sein. Vollkommen sinnlich und sehr genau nachvollziehbar werden die Bilder gezeichnet. Vollreife Birnen hängen an den Bäumen, die sich unter dem Gewicht nach unten neigen, darunter blühen in voller Pracht die wilden Rosen und auf dem See schwimmen die Schwäne. Aber die Naivität täuscht. Das Gedicht ist das Ergebnis einer genauen und tiefgreifenden philosophischen Reflektion.

Umkehrung der Philosophie

Es existiert ein eigenartiges Dokument, dessen Handschrift wohl am ehesten Hegel zuzuschreiben ist, die Diktion entspricht aber mehr dem Freund Schelling, während der Inhalt mit einem Brief Hölderlins übereinstimmt, den er an den Herausgeber des "Philosophischen Journals" Immanuel Niethammer in Jena geschickt hat. Vielleicht ist das Papier in einer schwärmerischen Diskussion der drei Freund entstanden. Hölderlin, der nach seiner Zeit in Jena inzwischen in Frankfurt am Hause des Bankiers Gontard Hauslehrer war, schreibt in dem Brief an Niethammer, dass er viel Zeit zu philosophischen Studien habe und dass er ausführlich Kant und Reinhold studiere. Aber:

Die Philosophie ist eine Tyrannin, und ich dulde ihren Zwang mehr, als dass ich mich ihm freiwillig unterwerfe. In den philosophischen Briefen will ich das Prinzip finden, das mir die Trennung, in denen wir denken und existieren erklärt .. (und) den Widerstreit verschwinden .. machen. Wir bedürfen dafür ästhetischen Sinn.

Der ästhetische Sinn ist für Hölderlin keineswegs eine Kunstlehre oder Ästhetik. Er denkt das Wort ganz aus der grieschischen Sprache. Ästhetik ist ganz einfach die sinnliche Wahrnehmung. Hölderlin möchte also den Widerstreit zwischen Denken und Existieren zum Verschwinden bringen, indem er die Sinnlichkeit stärkt. In dem Papier heißt es:

Zuletzt die Idee, die alles vereinigt, die Idee der Schönheit. ...
Ich bin nun überzeugt, dass der höchste Akt der Vernunft ... ein ästhetischer Akt ist und Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind. Der Philosoph muss ebenso viel ästhetische Kraft besitzen, als der Dichter. ... Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie.
Die Poesie bekommt dadurch eine höhere Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war Lehrerin der Menschheit. Ehe wir die Ideen ästhetisch ... machen, haben sie für das Volk kein Interesse.

Unter Menschheit wird hier nicht die Gesamtheit der Menschen sondern viel eher die Menschlichkeit, die humanitas" verstanden, also eben den Menschen, der voll das Wesen seines Mensch-seins zu leben im Stande ist. ( Der Begriff Humanismus deckt diese Vorstellung Hölderlins nicht an, er ist eher ein"pädagischer" Begriff, der "humanistischen" Bildung. Niethammer hat diesen Begriff erst 1808 geprägt.) Wenn die Poesie Lehrerin der Menschheit werden soll, muss sie die Ideen sinnlich machen. Nur dadurch wird die Trennung zwischen Denken und Existieren aufgehoben. Die Sinnlichkeit ist damit zugleich die höchste Geistigkeit, das Ganz- und Eins-Sein. Dieser Gedanke Hölderlin stellt alle bisherige Philosophie vom Kopf auf die Füße. Das ganz und gar sinnliche Gedicht "Hälfte des Lebens" wird so zum höchsten Geist, es lehrt "Menschheit".

Die Ideen sind hier im kantischen Sinne gedacht. Die Vernunft, oder der Verstand, was für Kant das Selbe ist, kann beliebige Urteile bilden. Aber nur solche Urteile, die an der sinnlichen Erfahrung überprüft werden können, sind beweisbar. Freiheit, Gerechtigkeit, Unsterblichkeit oder Gott sind nirgendwo in der sinnlichen, der "realen" Welt vorzufinden, demzufolge auch nicht beweisbar. Sie existieren (nur) als Ideen im Verstand. Die sinnliche Wahrnehmung und der Verstand stehen bie den höchsten Ideen in krassem Kontrast.
Hölderlich meint dagegen, dass die höchste Idee die Idee der Schönheit sein soll. "Der höchste Akt der Vernunft (ist) ein ästhetischer Akt und Wahrheit und Güte (sind) nur in der Schönheit verschwistert". Der ästhtetische, das heißt sinnliche Akt als höchster Akt ist die Verwirklichung der Eudaimonia, oder - wie Kant es sagt - der Glückseligkeit. Dies ist im ersten Teil von "Hälfte des Lebens" dargestellt.
Das Gedicht ist streng dialektisch aufgebaut. Während die erste Hälfte durch die Zu-Neigung und die "Innigkeit" gekennzeichnet ist, steht in der zweiten Strophe alles sprachlos und frostig hart getrennt gegeneinander: "Sprachlos und kalt stehen die Mauern, im Winde klirren die Fahnen". Die Zweite Strophe bildet einen sehr harten, abrupten Wechsel der Stimmung. Unvermittelt folgt auf die innige Stimmung und die trunkenen Küsse der Schwäne der Klageschrei: Weh Mir!

Die erste Strophe folgt sehr genau einem Muster, das häufig bei Hölderlin zu finden ist. Man kann deutlich eine Bewegung von oben nach unten feststellen. Ganz oben die Birnen, darunter neigen sich die wilden Rosen zum See, der ganz unten liegt. Die Mitte des Gedichtes wird durch die Schwäne gebildet, die ihre Köpfe noch tiefer bewegen, sie "tunken das Haupt ins heilignüchterne Wasser". Unwillkürlich empfindet man, wie das Bild sich am Wasser spiegelt: je tiefer man geht, desto mehr spiegelt sich das Oben. Das Bild ist in "Menons Klage" noch vollständig ausgebaut. Beim Niedersehen in die Wasser spiegeln sich die silbernen Wolken und das ätherische Blau. Die Schwäne bilden genau die Mitte des Bildes: sie schwimmen auf dem Wasser, haben aber zugleich das Haupt unter dem Wasserspiegel. Genau an der Wasserlinie reflektiert sich das Bild: das erste, was sich widerspiegelt, sind die Schwäne. Darum steht die Zeile "Ihr holden Schwäne" genau in der Mitte der Strophe.
Die selbe Bewegung findet sich etwa in dem kurzen Gedicht "Winkel von Hardt":

Hinunter sinket der Wald,
Und Knospen ähnlich, hängen
Einwärts die Blätter, denen
Blüht unten auf ein Grund, ...

Selbst in seinen späten, unvollendeten Werken bleibt diese Bewegung erhalten. In einem späten Entwurf, der "Griechenland" überschrieben ist, heißt es:

O ihr Stimmen des Geschicks, ihr Wege des Wanderers!
Denn an der (Augen) Schule Blau,
Fernher, am Tosen des Himmels
Tönt wie der Amsel Gesang
Der Wolken heitere Stimmung, gut
Gestimmt vom Dasein Gottes, dem Gewitter.
Und Rufe, wie Hinausschauen zur Unsterblichkeit und Helden;
Viel sind Erinnerungen. Wo darauf
Tönend wie des Kalbs Haut,
Die Erde, von Verwüstungen her...
Großen Gesetzen nachgehet.

Die Stimmen des Geschickes sind es, die den Wanderer - den Menschen, der auf seinem Wege unterwegs ist, vielleicht der suchende Mensch schlechthin - auf seinem Weg geleiten. Es sind viele Stimmen zu hören, die ein großes Konzert bilden: der Himmel tost, die Wolken singen wie die Amsel, Rufe nach der Unsterblichkeit und nach den Helden tönen und die Erde antwortet mit mächtigem Klang wie von Trommeln - auf Kalbshaut. Die Rufe nach Unsterblichkeit und nach den Helden sind es wohl, die den Wanderer auf seinen Weg rufen. Es sind die Rufe der Menschen, die sich aus der Enge des Alltags in die Unsterblichkeit sehnen. Geschult werden sie durch das Hinaufschauen zum Himmel.

"Darf, wenn lauter Mühe das Leben ein Mensch aufschauen (zum Himmel) und sagen, so will ich auch sein?"
(In lieblicher Bläue ...)

Darum ist der Himmel "der Augen Schule Blau".

Immer wieder vollzieht Hölderlin die Bewegung vom Himmel, dem Sitz der Göttlichen weiter zu den Wolken, die den Himmel verdecken, hin zu den Menschen, die ihr Leben ZWISCHEN Himmel und Erde verbringen bis hin zur Erde. Diese Struktur zeigt das innige Zueinandergehören von Himmlischen, Göttlichen, den Sterblichen und der Erde. Im Gedicht "Griechenland" ist das Zueinander - Gehören zugleich ein Hören: jeder trägt seien Teil zur großen "Schicksalssynphonie" bei. Martin Heidegger wird von dieser hölderlinschen Struktur angeregt, den philosophischen Terminus "Das GEVIERT" zu bilden. Das Geviert ist das Spiel der Vier: Himmel Erde, Göttliche und Menschen, die jeweils einander ihr Wesen zuspielen.

Aber die Götter, bzw. die Göttlichen sind in "Hälfte des Lebens" doch gar nicht genannt? Warum das so ist, wird sich erst später zeigen.

Allerdings "verletzt" die erste Strophe eine wichtige Regel der Haikudichtung: die Jahreszeit ist nicht eindeutig festzustellen! Die Birnen sind vollreif und gelb - golden. In einer Fassung der Mnemosyne heißt es:

Reif sind, in Feuer getaucht, gekochet
Die Frücht und auf der Erde geprüfet und ein Gesetz ist,
Daß alles hineingeht, Schlangen gleich

Die Früchte sind im himmlischen Feuer "gekocht" und reif, so reif, dass sie auf die Erde fallen und dort "geprüft" werden - Schlangen gleich, die in die Erde hineingehen und wiederkehren. Die Schlangen erneuern sich immer wieder, indem sie sich häuten. So werden die Früchte "geprüft": nur was wirklich reif war, kann nach dem Hineingehen in die Erde unbeschadet, wenn auch verändert wiederkehren. Die Prüfung erbringt, ob die reife Frucht keimen und neue Früchte bringen kann. Damit gehören die "Gelben Birnen" in die Fülle der Reifezeit, aber die wilden Rosen blühen sehr viel früher. Damit ist deutlich, dass hier kein "Bild" einer bestimmten Situation in der Natur gezeichnet ist. In Menons Klage um Diotima heißt es:

Euch ihr Liebenden auch, ihr schönen Kinder des Maitags,
Stille Rosen und euch, Lilien, nenn ich noch oft!

Die Rosen, Kinder des Maitags, sind ein Zeichen der Liebe, die Lilien stehen für die Reinheit. Die wilden Rosen sind - mehr noch als die Rosen - das Zeichen der reinen Liebe, für die Minnesänger sind sie das Symbol der reinen Minne zu der Herrin ihres Herzens. Hier finden sich Anklänge aus der sufischen Mystik. Die reine - unerfüllte - Liebe ist ein Sinnbild für die Liebe zu Gott. Die wilden Rosen sind immer wieder auch der Sitz der "Herrin": Maria im Rosenhag oder im Märchen etwa Dornröschen. Erst als genau der richtige Prinz kommt, öffnet sich der undurchdringliche Rosenstrauch und gibt die schlafende Prinzessin frei, die bisher sicher und verborgen im Zentrum des Strauches geschlafen hatte.
Auch die Schwäne sind das reine Bild der Liebe:

Aber wir, zufrieden gesellt, wie die liebenden Schwäne,
Wenn sie ruhen am See, oder, auf Wellen gewiegt,
Niedersehn in die Wasser, wo silberne Wolken sich spiegeln
und ätherisches Blau unter den Schiffenden wallt.

Das Gedicht ist auf eine sehr eigenartige Weise entstanden. Hölderlin hat an der unvollendet gebliebenen Hymne gearbeitet, die mit den Worten .."Wie wenn am Feiertage ..." beginnt. Er versucht hier, die Aufgabe des Dichters zu reflektieren. Wenn die Dichter reinen Herzens sind, können sie mit bloßem Haupt unmittelbar unter den Gewittern Gottes stehen und das Lied, das dieses göttliche Feuer enthält, an die Menschen weiterreichen, die so gefahrlos dieses Feuer empfangen können.

Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern,
Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen,
Des Vaters Strahl, ihn selbst, mit eigener Hand
Zu fassen und dem Volk ins Lied
Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen.
Denn sind nur reinen Herzens,
Wie Kinder wir, sind schuldlos unsere Hände,

Wenn die Dichter reinen Herzens sind, können sie unversehrt unter dem göttlichen Feuer stehen und ihre Mittlerfunktion als Künder des Göttlichen wahrnehmen. Die Hymne bricht ab mit den Worten:

Doch Weh mir! wenn von
 Weh mir!
  Und sag ich gleich,...
 
Ich sei genaht, die Himmlischen zu schauen,
Sie selbst, sie werfen mich tief unter die Lebenden,
Den falschen Priester, ins Dunkel, dass ich
Das warnende Lied den Gelehrigen singe
Dort ...

Wehe, wenn die Dichter, aus eigener Not oder um sich aus der Enge des Alltags herauszulügen, falsche Bilder des Göttliche schaffen, wehe wenn er sich "ver-wünscht"!
"Darf, wenn lauter Mühe das Leben der Mensch aufschauen und sagen, so will ich auch sein?" Hölderlin gibt eine Antwort mit einer sehr deutlichen Einschränkung: "Ja. Solange die Freundlichkeit noch am Herzen, die Reine, dauert, misset nicht unglücklich der Mensch sich mit der Gottheit!" Was aber, wenn die 'Freundlichkeit' nicht mehr ist? Wenn die Menschen sein wollen wie Gott?
Wenn das Herz nicht rein ist, muss der Gesang misslingen. Man projiziert, um der eigenen Not zu entkommen, Wunschbilder, die in die Irre leiten. Nietzsche schreibt:"

Nachdem ich lange genug den Philosophen zwischen die Zeilen und auf die Finger gesehen habe, sage ich mir: man muss noch den größten Teil des bewussten Denkens unter die Instinkt-Tätigkeiten rechnen, und sogar im Falle des philosophischen Denkens.

Oder noch viel drastischer:

Pfui über die Mahlzeiten, welche jetzt die Menschen machen...! Selbst wenn hochangesehene Gelehrte zusammenkommen, ist es dieselbe Sitte, welche ihren Tisch füllt .. und aufregende Getränke müssen die Schwere im Magen und Gehirn .. vertreiben... Pfui, welche Künste und Bücher werden der Nachtisch solcher Mahlzeiten sein! ..(Die reiche Klasse in England hat ihr Christentum nötig, um ihre Verdauungsbeschwerden und ihre Kopfschmerzen ertragen zu können!)

Hölderlin ringt um die Reinheit seines Denkens, das gerade nicht - im schlimmsten Fall "aus geblähten Eingeweiden" oder verletztem Herzen herrührt. Im "Gang aufs Land" heißt es:

... es sei als in der bleiernen Zeit. Dennoch gelinget der Wunsch, ... Nur dass solcher Reden und auch Der Schritt und der Mühe Wert der Gewinn und ganz wahr das Ergötzliche sei.

Zwar ist auch "Schwärmerei und Leidenschaft gut", aber das Leiden ist mindestens ebenso eine notwendige Voraussetzung dass "der Wunsch gelinge".

Das tiefe Gefühl der Sterblichkeit, des Veränderns, seiner zeitlichen Beschränkungen entflammt den Menschen, dass er viel versucht, übt alle seine Kräfte, und läßt ihn nicht in Müßiggang geraten. und man ringt solange um Chimären, bis sich endlich wieder etwas Wahres und Reeles findet zur Erkenntnis und Beschäfftigung. In guten Zeiten giebt es selten Schwärmer. Aber wenns dem Menschen an großen reinen Gegenständen fehlt, dann schafft er irgend ein Phantom aus dem und jenem, und drückt die Augen zu, dass er dafür sich interessieren kann, und dafür leben."
(Wenn der dichter einmal des Geistes mächtig..., Stuttgarter Folioheft)

Die Ausrufe WEH MIR! werden zum Kristallisationspunkt für eine Reihe weiterer Gedichte, an deren Ende "Hälfte des Lebens" steht. Die zweite Strophe von "Hälfte des Lebens" beginnt genau mit diesen Worten! Aber ein zweites Gedicht, das eigenartigerweise in keiner Hölderlinausgabe zu finden ist, entstand ebenfalls um des "WEH MIR!". Es ist auf dem selben Blatt geschrieben wie die Hymne, die Texte sind ineinander verwoben. Hölderlin schreibt darüber dem neu entstandenen Gedicht: Die Rose.

Die Rose  
 
holde Schwester!
 
 
Wo nehm ich, wenn es Winter ist
 
   Weh Mir!
Die Blumen, dass ich Kränze den Himmlischen
      winde?
Dann wird es sein, als wüßt ich nimmer von Göttlichen,
Denn (wenn) von mir gewichen sei des Lebens Geist,;
 Wenn ich den Himmlischen die Liebeszeichen
    und sa(h)g ich gleich
    Die Blumen im (nackten) kahlen Felde suche
  und dich nicht finde.
 
Ich sei genaht, die Himmlischen zu schauen

In "Hälfte des Lebens" findet sich genau diese Klage wieder: "wo nehm ich, wenn es Winter ist, die Blumen" aber es findet sich kein Hinweis mehr darauf, wozu er die Blumen braucht. "Es ist, als wüßt ich nimmer von Göttlichen!" Des "Lebens Geist" ist gewichen und die Verzweiflung ist jetzt so tief, dass nicht einmal mehr die Erinnerung an die Fülle und Innigkeit gewahrt wäre!

Es ist viel darüber spekuliert worden, ob Hölderlin hier seine persönliche Verzweiflung und seinen Schmerz formuliert. Natürlich kann kein Dichter oder Denker unabhängig von persönlicher Erfahrung schreiben. Ein später Entwurf trägt den Vermerk "Von der Apriorität des Individuellen über das Ganze" - ohne persönliche Erfahrung ist das "Ganze" nicht zu verstehen, bleibt jedes Denken abstrakt und trocken. Aber ein Denken, das nur im Persönlichen Verhaftet bleibt, wird nicht frei. Erst, wenn es gelingt, das Allgemeine daraus abzuleiten, gewinnt es Freiheit und Größe.
Hölderlin hatte in der Zeit immer die Werke Pindars auf dem Tische liegen. Er hat bei Pindar "den Wechsel der Töne" studiert. Die Hymne "Wie wenn am Feiertage.. " folgt im Muster dem Aufbau eines sophokleischen Chorliedes mit Strophe und Antistrophe. So kann auch "Hälfte des Lebens" als Strophe und Gegenstrophe gelesen werden. Das heißt, Hölderlin reflektiert den Aufbau sehr genau und folgt keineswegs bewusstlos einer persönlichen Stimmung des Scherzes und der Trauer.
Auf den selben Blatt findet sich um dei Worte WEH MIR! eine Gruppe von Drei Gedichten. Ganz linkst steht "Die Rose", in der Mitte "Die Schwäne" und rechts "Der Hirsch". Die gesamte Gruppe ist überschreiben mit:
Die letzte Stunde /     Im Walde. D. E. Sattler, der Herausgeber der Historisch Kritischen Ausgabe von Hölderlins Werken hat den (sehr schwer lesbaren) Handschriftenbefund in folgender Weise dargestellt:

In der ganz rechten Spalte hat Hölderlin das Gedicht "Im Walde" notiert, dessen Anfang so lautet:

Im Walde.
 
Der Hirsch.
Du edles Wild.
 
Aber in Hütten wohnet der Mensch,
und hüllet sich ein ins verschämte Gewand,
denn inniger ist's, achtsamer auch
und dass er bewahre den Geist,
wie die Priesterin die himmlische Flamme,
dies ist sein Verstand.

Offenbar löst bei Hölderlin der Gedanke des falschen Priesters, der sich unrein den Göttlichen nähert eine ganze Reihe von verschiedenen Reflektionen aus, die er auf dichterische Weise verarbeitet. Unmittelbar vor dem "Weh mir" notiert er die Schwäne, die trunken von Küssen das Haupt ins Wasser tunken. Daneben entsteht die Gegenübersetzung des "edlen Wildes" und des Menschen, der in Hütten wohnet und sich ins verschämte Gewand hüllt. Das Edle Wild ist der Hirsch, der in den dunklen Wäldern lebt. Er ist eins mit der Natur und ruht und birgt sich in der dunklen Kühle des Waldes, die ihm Schutz gibt. Aber der Hirsch ruft sofort das Bild des Jäger hervor, der dem Wild nachstellt. So heißt es in der "Elegie", die um die gleiche Zeit entstanden ist:

so flieht das getroffene Wild in die Wälder,
Wo es um Mittag sonst sicher im Dunkel geruht;
Aber nimmer erquickt sein grünes Lager das Herz ihm
Wieder und schlummerlos treibt es der Stachel umher.

Das Bild des Jägers dürfte Hölderlin hier durchaus vorgeschwebt haben. In der Hubertuslegende wird berichtet, wie Hubertus am Karfreitag einen stolzen Hirsch im Walde verfolgte, bis der Hirsch stehen blieb. Ein leuchtendes Kreuz erschien zwischen seinem Geweih und der Hirsch sagte: "Ich erlöste dich und dennoch verfolgst du mich!"
Der Hirsch ist Christus selbst! Hubertus war so erschrocken, dass er seine Waffen fortwarf, sich aus Zweigen und Gräsern eine Hütte tief im Walde baute und dort als christlicher Einsiedler betete und meditierte: "Du edles Wild - aber in Hütten wohnet der Mensch"
Die Legende kommt erst im 14. /15. Jahrhundert in das Abendland. Sie geht auf eine alte buddhistische Legende zurück. Bevor Buddha als Prinz Gautama zur Welt kam, war eine seiner Inkarnationen ein Hirsch namens Sarabha. Er wurde vom König gejagt und floh tiefer in den Wald. Vom Jagdeifer und von Gier, das Tier zu töten verblendet stürzte der König in eine tiefe Schlucht, aus der er nicht wieder herausfand. Voller Mitleid ging Buddha - Sarabha zum König und trug ihn auf seinem eigenen Rücken aus der Schlucht und brachte ihn in seine Residenz zurück. Manche Bilder zeigen diesen gewaltigen Hirsch im Kreise einer großen Herde. Um ihn zu kennzeichnen, malte man ein Kreuz über seinem Kopf. Ein solches Dokument wurde von Jesuitischen Missionaren ins Abendland gebracht, wo man dann den Hirsch wegen des Kreuzes über seinem Kopf als Verkörperung von Christus deutete.

Das "edle Wild" ist ganz und gar eingebettet in die Natur. Es ruht im Dunkel des Waldes. Wird es verletzt, so "bereitet ... die Erde ihr stärkendes Heilkraut". Nur die Wunde, die der Mensch geschlagen hat, will nicht heilen: der Mensch selbst ist zerrissen von diesem unheilbaren Leid. Die Dreigliedrigkeit des Textes, der um das WEH MIR entsteht, ist kein Zufall. Hölderlin hat sehr genau über seine Dichtung reflektiert und die Strukturen philosophisch durchdacht. Im Stuttgarter Foliobuch, dem selben Heft, in dem sich der Entwurf "Wie wenn am Feiertage" findet, steht folgender Text:

Das lyrische, dem Schein nach idealische Gedicht ist in seiner Bedeutung naiv. Es ist eine fortgehende Metapher EINES Gefühles.
Das epische, dem Schein nach naive Gedicht ist in seiner Bedeutung heroisch. Es ist die Metapher großer Bestrebungen.
Das tragische, dem Schein nach heroische Gedicht, ist in seiner Bedeutung idealisch. Es ist die Metapher einer Intelektuellen Anschauung.

Aus dem Studium von Platons "Symposion" hatte Hölderlin die Methode vom "Wechsel der Töne" entwickelt. Im Symposion, der Siegesfeier des Tragödiendichters Agathon, halten verschiedene Teilnehmer Reden auf Eros. Jeder spricht nach seiner Eigenart. Selbstverständlich wird die Rede des Komödiendichters Aristophanes "komisch". Er erzählt, dass die Menschen früher einmal vollkommen waren. Vollkommen aber ist nur die Kugel. Darum waren die Menschen auch kugelförmig mit vier Armen, vier Beinen und zwei Köpfen und sie bewegten sich auf ihren acht Gliedmassen wie ein Rad vorwärts. Als sie den Göttern zu gefährlich wurden, weil sie sein wollten wie die Unsterblichen, ließ Zeus sie in der Mitte auseinanderschneiden. Jetzt haben sie nur noch zwei Arme, zwei Beine und einen Kopf. Aber die Sehnsucht nach dem anderen Teil, mit dem zusammen sie wieder vollkommen sein können, ist unauslöschlich in sie eingepflanzt. Diese, so könnte man mit Hölderlin sagen, dem Schein nach komische Geschichte ist im Kern tragisch! Am Schluß des Symposions sind alle betrunken und eingeschlafen, nur noch Sokrates, Aristophanes und Agathon - der Komödiendichter, der Tragödiendichter und der Philosoph sind noch wach und diskutieren über die Dichtkunst. Sokrates versucht den beiden Dichtern die Aussage abzutrotzen, dass ein und die selbe Person in der Lage sein müsse, sowohl Tragödien als auch Komödien zu dichten. Ja, nur derjenige Tragödiendichter sei wahrhaft kunstvoll, der auch Komödien schreiben könne. Aber auch Aristophanes und Agathon schlafen betrunken ein. Nur der Philosoph bleibt wach. Als der Morgen tagt, erhebt sich Sokrates, verrichtet ein Morgengebet und geht ins Gymnasium, um die philosophischen Gespräche fortzusetzen!
Diese Forderung greift Hölderlin im Stuttgarter Folioheft auf. Er notiert hier:

Der tragische Dichter tut wohl, den lyrischen, der lyrische den epischen, der epische den tragischen zu studieren. Denn im tragischen liegt die Vollendung des epischen, im lyrischen die Vollendung des tragischen, im epischen die Vollendung des lyrischen. Denn wenn schon die Vollendung von allem ein vermischter Ausdruck von allen ist, so ist doch eine der drei Seiten in jedem die hervorstechendste.

Das tragische, lyrische und epische sind drei Weisen des Dichtens, wie Hölderlin das in der griechischen Dichtung vorfand. Er bildet daraus die drei "Töne", das Heroische, das Idealische und das Naive. Diese "Töne" sind für ihn nicht nur Stimmungen, sondern sie sind Bestandteil einer dreistufigen Dialektik. Das "Heroische" ist das Kämpferische. Es muss in seinem Inneren aber Einsicht in das Idealische haben, sonst bleibt es blind und weiß nicht, wofür es kämpft. Das Idealische ist das Reine, in sich Vollkommene. Es ist aber in sich so abgehoben vom Leben, dass es wirkungslos bliebe, wenn es im Kern nicht das "Naive" enthielte. Das Naive ist die Verwirklichung des Idealischen im Alltäglichen. Das Naive, das nicht die Erinnerung in sich behält, dass es aus dem Kampf des Heroischen, das um die Verwirklichung des Idealischen kämpft hervorgegangen ist, ist dumpf. Die erste Strophe etwas von "Heimkunft" ist dem Ton nach Heroisch. Drin in den Alpen ist noch helle Nacht, das Dörflein schlummert, aber ganz tief unten kämpft und tost das Chaos und bringt unerschöpfliche Gaben hervor. Die zweite Strophe steigt auf zum Idealischen: Ganz droben aber, über dem Schnee, im reinen Licht wohnt der Vater "allein". Der Vater ist allein, weil es hier in diesen Höhen ohnehin nur noch das Eine gibt. Aber er ist auch All - Ein, "längst schon Alles und Eines genannt!" Mitten in der Strophe beginnt der Wechsel zum Naiven: Der Vater scheint Leben zu geben geneigt, erfreut vorsichtig die Herzen der trauernden Menschen und schickt neues Leben hinunter. Das Naive schildert, wie der Dichter über den Bodensee setzt und wieder die heimatlichen Fluren betritt, wo alles neu blüht und grünt und alles vertraut "scheint".

Hölderlin hat seine selbst aufgestellte Forderung, der Dichter müsse die anderen Dichtungsarten studieren soweit getrieben, dass er gleichzeitig an einer heroischen, einer idealischen und einer naiven Dichtung - dem Empedokles, dem Hyperion und Emilie an ihrem Brauttag - arbeitete. Beim Fortgang seiner Arbeit an der Hymne "wie wenn am Feiertage" stößt er offenbar auf ein Problem. Er weiß nicht, wie er den Gesang fortsetzen und beenden soll. In bewährter Manier versucht er, den Gedanken im heroischen, im idealischen und im naiven Ton fortzusetzen. Dies sind die drei Teile, die er "Die Rose", "Die Schwäne" und "Der Hirsch" überschreibt. Aber er hat sich inzwischen weiter entwickelt. Die Töne sind nicht mehr unvermischt. Man kann keinem der drei Ansätze rein einen der Töne zuteilen: "Denn wenn schon die Vollendung von allem ein vermischter Ausdruck von allen ist, so ist doch eine der drei Seiten in jedem die hervorstechendste".

Die Rose beginnt freundschaftlich mit dem Anruf: "Holde Schwester!", geht aber sofort in den tragischen - heroischen Ton über: "Wo nehm ich, wenn es Winter ist die Blumen". Es bleibt aber nicht bei der Klage, sondern geht in eine gewissermaßen heroische Handlung über: "Wenn ich ... Die Blumen im kahlen Felde suche und dich nicht finde". Als Heroische Handlung muss sie im Kern idealisch sein, sonst bleibt das heroische blind. Deshalb ist es sehr wichtig, dass der Suchende weiß, was er und wozu er es sucht: "dass ich Kränze winde den Himmlischen ... als Liebeszeichen:"

Die Rose
holde Schwester!
Weh Mir!
Wo nehm ich, wenn es Winter ist
Die Blumen, dass ich Kränze den Himmlischen winde?
Dann wird es sein, als wüßt ich nimmer von Göttlichen,
Denn von mir gewichen sei des Lebens Geist,
Wenn ich den Himmlischen die Liebeszeichen
Die Blumen im kahlen Felde suche
und dich nicht finde.

Unmittelbar neben dem Ausruf: "holde Schwester" stehen im Mittelteil die Zeilen

Die Schwäne
Und trunken von
Küssen taucht ihr
das Haupt ins
heilignüchterne kühle Gewässer.

Ein ganz naives Bild, das getränkt ist vom Idealischen der vollkommenen Innigkeit. Die Schwäne werden dann von Hölderlin in der Endfassung zum ersten Teil von "Hälfte des Lebens" ausgebaut. Aber warum entsteht ohne Übergang aus diesem seeligen Bild das WEH MIR! ?

Waren die Menschen nicht achtsam genug? Haben sie den Zustand des Paradieses aus Unachtsamkeit verspielt? Die rechte Spalte scheint dies nahezulegen. Genau neben dem Bild der seeligen Innigkeit stehen die Zeilen:

Aber in Hütten wohnet der Mensch, und hüllet sich ein ins verschämte Gewand, denn inniger ist, achtsamer auch und dass er bewahre den Geist ... dem Menschen der Verstand gegeben!"

Wenn der Mensch achtsam den Geist hütet ist er dann noch inniger als die Schwäne in ihrer Innigkeit? Dient der Verstand dieser Achtsamkeit? Dann verspielt er die Innigkeit nur aus Unverstand und Unachtsamkeit? Verstand ist also nicht die gewöhnliche Gabe derer, die "treuherzig gestehen, dass ihnen alles dunkel ist, sobald es über Tabellen und Register hinausgeht".

Der Geist: Einigkeit und Unterscheidung

In einem gewaltigen philosophischen Entwurf, in dem Hölderlin eine Philosophie der Dichtung versucht, der mit den Worten beginnt: "Wenn einmal der Dichter des Geistes mächtig ..." heißt es:

Wenn einmal der Dichter des Geistes mächtig ist, wenn er die gemeinschaftliche Seele, die allem gemein und jedem eigen ist, gefühlt und sich zugeeignet, sie vestgehalten, sich ihrer versichert hat, ... wenn er eingesehen hat, dass ein nothwendiger Widerstreit entstehe zwischen der ursprünglichsten Forderung des Geistes, die auf Gemeinschaft und einiges Zugleichseyn aller Teile geht, und zwischen der anderen Forderung, welche ihm gebietet, aus sich heraus zu gehen, ...

Die "ursprünglichste" Forderung des Geistes ist die "Gemeinschaft und (das) einige Zugleichseyn aller Teile". Aristophanes hat dies - als Komödiendichter - durch das Bild der Kugelmenschen ausgedrückt. Es gibt aber - jedenfalls heute nicht - keine "Kugelmenschen" mehr. Das war einmal, vor langer, langer Zeit! Dennoch lebt der Wunsch nach der Ganzheit, nach dem Innigen weiter, und das nicht nur im Märchen. Sie ist eine Grundsehnsucht des Menschen, es ist die Sehnsucht nach dem Paradies, aus dem wir immer schon vertrieben wurden. Aristophanes schildert, wie die Menschen, wenn sie ihre "zweite Hälfte" gefunden haben, einander festhalten, alle anderen Tätigkeiten vor lauter Seeligkeit unterlassen, ja sogar aufhören zu essen um dann zu sterben. Daher besteht die Notwendigkeit, dass sie wieder in die Trennung auseinander gehen müssen.
Heinrich von Kleist schreibt in seiner Abhandlung über das Marionettentheater:

... seitdem wir von dem Baum der Erkenntnis gegessen haben. Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist

Die Menschen haben vom Baum der Erkenntnis gegessen, weil sie "sein wollten wie Gott". Tatsächlich gewinnen sie etwas, das sie überhaupt erst zu Menschen macht: sie erkennen ihre Ausgesetztheit und Bedürftigkeit: "sie sahen, dass sie nackt waren". Aber der Weg zurück in das ursprüngliche Paradise ist versperrt. Die Innigkeit des Anfangs ist nicht durch Rückwäts - gehen in die "guten alten Zeiten" zu erlangen. Den Menschen bleibt nur der Wege nach vorn.

Das "einige Zugleichseyn aller Teile" ist nicht aus Unachtsamkeit des Menschen, der mit seinem Verstand die himmlische Flamme nicht genügend gehütet hätte verlorengegangen. Die zweite "Forderung des Geistes", die genauso wesentlich zum Geist gehört, ist, "herauszugehen". Im "Grund zum Empedokles" heißt es:

Die tragische Ode fängt im höchsten Feuer an, der reine Geist die reine Innigkeit hat ihre Grenze überschritten, sie hat diejenigen Verbindungen des Lebens, die notwendig also gleichsam ohnediß zum Contact geneigt sind, und durch die ganze innige Stimmung dazu übermäßig geneigt werden, nemlich ...
das Bewußtseyn,
das Nachdenken,
oder die physische Sinnlichkeit
nicht mäßig genug gehalten und so ist durch Übermaß der Innigkeit der Zwist entstanden ...

Die Grenze der Innigkeit ist das Zuviel an Innigkeit. Das Innige muss nun notwendig in die Trennung auseinandergehen. Der erste Teil von "Hälfte des Lebens" ist die reine Innigkeit. Es ist nahezu das Paradies, nicht zerfallen in die Vielheit, sogar Himmel und Erde sind innig beieinander: der Himmel spiegelt sich in der Tiefe des Wassers. Nach Hölderlins Dialektik muss notwendig diese Innigkeit, die der Sehnsucht nach dem Eins-seyn aufbrechen in die Differenz der Vielheit. Jeder Mensch macht in seinem Leben diese Entwicklung durch. Der Embryo entwickelt sich und muss, wenn die Zeit dazu gekommen ist hinaus in die Vereinzelung, muss lernen, wenn er überleben will, selbst zu atmen und selbst Nahrung aufzunehmen. Mutter und Kind sind zunächst innig verbunden, aber spätestens in der Pubertät beginnt der Mensch sich frei zu kämpfen. Er muss heraus aus der schönen Geborgenheit in die Vereinzelung, nur so kann er eine eigenständige Persönlichkeit werden. Aber mit wie viel Kampf ist das Verbunden, mit wie viel Schmerz nicht verstanden zu werden und allein zu sein!

Es ist ja auch keineswegs so, dass der Zustand der Unterscheidung ein einmaliger Proszess ist.

Hälfte des Lebens ist keine tragische Ode. Es beginnt nicht im "höchsten Feuer" der Unterscheidung, sondern mit der Innigkeit. Aber die Unterscheidung muss - lebensnotwendig - kommen! Aber die Sprachlosigkeit und Kälte im zweiten Teil ist fast unerträglich und körperlich zu spüren. In einem Seminar hat eine Teilnehmerin diese Kälte so intensiv empfunden, dass sie sich übergeben musste. Nach dem wunderschönen Bild des ersten Teiles jetzt diese brutale Trostlosigkeit!
Ist es wirklich "nur" die notwendige Trennung, die der Geist fordert oder doch eine absolute Trostlosigkeit? Kann es nach dieser Winterkälte überhaut noch weiter gehen? In seiner Zeit im Tübinger Turm notiert Hölderlin ein merkwürdiges Gedicht:

Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen,
Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! verflossen,
April und Mai und Julius sind ferne,
Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne!

Spricht hier ein Verzweifelter, der mit der Welt abgeschlossen hat? Ist der Winter nicht die Zeit des Todes und der ausweglosen Verzweiflung?

Die fast trostlose Härte von "Hälfte des Lebens" entsteht durch das völlige Fehlen des Bezuges zu "den Himmlischen".

Dieser Text wird weiter bearbeitet.
Zu bearbeiten: Notwendigkeit des "Fehls"

"... das Entstehen des Gedankens im Gespräch und Brief ist Künstlern nötig"
19.02.2003


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© beim Autor Gerhardt Staufenbiel, Myōshinan Chadōjo