FRIEDRICH NIETZSCHE

Also sprach Zarathustra IV: Mittag

Und Zarathustra lief und lief und fand niemand mehr und war allein und fand immer wieder sich und genoß seiner Einsamkeit und dachte an gute Dinge, stundenlang.
Um die Stunde des Mittags aber, als die Sonne gerade über Zarathustras Haupt stand, kam er an einem krummen und knorrichten Baum vorbei, der von der reichen Liebe eines Weinstockes rings umarmt und vor sich selber verborgen war: von dem hingen gelbe Trauben in Fülle dem Wandernden entgegen.

Da gelüstete ihn, einen kleinen Durst zu löschen und sich eine Traube abzubrechen; als er aber schon den Arm dazu ausstreckte, da gelüstete ihn etwas anderes noch mehr:
nämlich sich neben den Baum niederzulegen, um die Stunde des vollkommenen Mittags (die ja wie die Stunde der Mitternacht ist, weil die Zeit stehen bleibt) und zu schlafen.
..sobald er auf dem Boden lag, in der Stille und Heimlichkeit des Grases, hatte er auch schon seinen kleinen Durst vergessen ... und seine Augen wurden nicht satt, den Baum und die Liebe des Weinstockes zu sehen und zu preisen. ...Zarathustra sprach zu seinem Herzen:

Still! Still! Ward die Welt nicht eben vollkommen? Was geschieht mir doch?
Wie ein zierlicher Wind, ungesehen, auf getäfeltem Meer tanzt, leicht, federleicht, so - tanzt der Schlaf auf mir.
... meine Seele streckt sich aus, lang und länger! sie liegt still, meine wunderliche Seele.
Wie ein Schiff, das in seine stillste Bucht einlief - nun lehnt es sich an die Erde, der langen Reise müde und der ungewissen Meere, ist die Erde nicht treuer?
Wie solch ein Schiff sich dem Land anlegt, anschmiegt - da genügt's, dass eine Spinne vom Land her zu ihm ihren Faden spinnt. Keiner stärkeren Taue bedarf es da.
Wie ein solches Schiff in der stillen Bucht: so ruhe auch ich nun der Erde nahe, treu, zutrauend, wartend, mit den leisesten Fäden ihr angebunden.
O Glück! O Glück! Willst du wohl singen, o meine Seele? Du liegst im Grade. Aber das ist die heimliche, feierliche Stunde, wo kein Hirt seine Flöte bläst.
Scheue dich! Heißer Mittag schläft auf den Fluren. Singe nicht! Still! Die Welt ist vollkommen.

Also sprach Zarathustra und erhob sich wie aus einer fremden Trunkenheit: und siehe, da stand die Sonne immer noch gerade über seinem Haupte. Es möchte also einer daraus mit Recht annehmen, dass Zarathustra damals nicht lange geschlafen habe.


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