Sich von selbst durch die Dinge erweisen ist Erwachen
 
Satori im Teeweg

Der Geist des Teeweges: Zen oder Konfuzius?

Kürzlich bin ich mit der Frage nach dem Geist des Teeweges konfrontiert worden.
Schon einmal hatte mich der Rōshi eines Zen-Tempels in Kyoto gefragt, ob ich den Geist des Teeweges verstanden hätte. Damals wollte ich um die Erlaubnis bitten, an den Zazen Übungen teilnehmen zu dürfen. In seinem Tempel liegt das Grab des Teemeisters Oribe. Der Rōshi wusste, dass ich gerade am Unterricht im Teeweg teilnahm. Für mich waren Tee und Zen ein Geschmack, wie es in den alten Zeiten immer hieß. Aber war dieser Geist in den Teeschulen? Ging es dort nicht darum, Regeln zu lernen und deren Sinn nicht zu hinterfragen? Und Zen im Tee? Es war stets ein fröhliches Geplauder und auf der anderen Seite ein striktes Gehorsam gegenüber den Lehrern. War doch der neokonfuzianische Geist Gengensai‘s der wahre Tee-Geist? Und dann die vielen verschiedenen Teeschulen mit den unterschiedlichsten Stilen der Teezeremonie! Ich war verwirrt und antwortete auf die Frage nach meinem Verständnis vom Geist des Teeweges mit einer Gegenfrage: „Welchen Geist?“ Der Rōshi hielt das offenbar für eine typische Zen - Antwort, er lachte und ich durfte am Zazen teilnehmen.

Gengensai und der Neokonfuzianismus

Tee und Neokonfuzianismus? Während der Reformen des Meiji - Tennō waren die traditionellen Künste verboten worden, weil man alle Kräfte sammeln wollte, um den Westen wissenschaftlich, technologisch und wirtschaftlich zu überholen. Gengensai (1810 - 1877) schrieb seinen berühmten Brief über den Teeweg an Meiji Tennō um den Teeweg zu retten:

„Die ursprüngliche Intention des Teeweges ist es, Loyalität, kindliche Pietät und die fünf Tugenden (Wohltätigkeit, Aufrichtigkeit, Rechtschaffenheit, Weisheit und Verantwortungsbewusstsein) zu vermitteln und Bescheidenheit, Schicklichkeit und Genügsamkeit hoch zuhalten, um den Dienst am Frieden und Wohlergehen der Allgemeinheit zu fördern und Menschen zu bilden, die ohne Unterschied von Nähe oder Ferne, von Reichtum oder Armut miteinander umgehen, und die die göttliche Vorsehung für das Schicksal, das Wohlergehen und die Langlebigkeit der kommenden Generationen achten. Weil der Tee ein Weg mit diesen Prinzipien ist, kann man die nach strikten und formalen Regeln gestaltete Tee-Einladung als reinste Form von Tätigkeiten sehen, die Menschen ausüben können, ohne die fünf Teile des Körpers zu schädigen. Alle diese Ideen und Prinzipien sind selbst in der schlichtesten Form einer Tee-Versammlung zum Servieren von dünnem Tee vorhanden.“

Gengensai rückt in diesem Brief den Teeweg in das Licht des Neokonfuzianismus, in dem es um das Wohlverhalten in der Familie und der Gesellschaft geht. Der Teeweg dient dazu, die Menschen zu erziehen, damit sie tugendhafte und ehrfürchtige Staatsbürger werden, die den strikten Regeln folgen, die von den Führern aufgestellt wurden. Das gefiel der Meiji Administration, und der Teeweg nahm einen ungeheuren Aufschwung, vor allem zur Bildung junger Mädchen. Seit jener Zeit sind Frauen im Teeweg weitaus in der Überzahl. Der Tee dient jetzt dazu, ehrfürchtiges Verhalten nach strikten und formalen Regeln in einer neokonfuzianisch geprägten Gesellschaft einzuüben. Derart gebildete Frauen hatten gute Heiratschancen. Noch heute verstehen sich viele alte Teelehrerinnen als eine Art Heiratsvermittlerinnen. Der Teeweg als Heiratsvermittlung? War das der Geist des Tee?

Zen - Tee: Nambōroku

Was bedeutet es, den Tee aus dem Geist des Zen zu üben?

Mit den Worten Rikyū‘s, die in der Schrift des Nambōroku aufgezeichnet sind, können wir den Teeweg als (Zen - ) buddhistische Übung verstehen:

Cha-no-yu im kleinen Raum ist vor allem eine Verwirklichung des Dō (des WEGES) im Geist Buddhas. Sich an der großartigen Konstruktion eines Hauses und an dem Geschmack erlesener Speisen zu freuen, ist eine sehr weltliche Angelegenheit. Uns genügt ein Haus, durch dessen Dach es nicht regnet, und ein Mahl, bei dem gerade der Hunger gestillt ist. 
Das entspricht der Übung Shakyamuni‘s und dem wahren Geist der Teekunst.  Man bringt Wasser herbei, sammelt Brennholz, erhitzt das Wasser und bereitet Tee. Dann bringt man ihn dem Buddha dar, reicht ihn den anderen und trinkt ihn auch selbst. Man arrangiert Blumen und entzündet Weihrauch. Durch all dies formen wir uns selbst nach dem Bild Buddhas und der vergangenen Meister.
Alles andere musst du aus Dir selbst verstehen lernen."

Der Mönch Nambō, der seine Gespräche mit Rikyū aufgeschrieben hat, lebte im Nanshūji, dem „Tempel der südlichen Schule“, der ein Subtempel des Daitokuji in Kyōto war. Der Nanshūji liegt in der Stadt Sakai, der Heimatstadt Rikyū‘s, heute einem Vorort von Osaka. Die Klause, in der Nambō lebte, hatte ihren Namen von einem Meister, der Zen bei dem berühmten Ikkyū studiert hatte. Nambō erzählt, dass es offenbar Streit zwischen diesem Meister und Ikkyū gegeben hatte:

Der Gründer des Shūun An (später Nambō), Giō, praktizierte zunächst Zen unter Meister Ikkyū. Nach einiger Zeit wurde ihre Beziehung sehr schwierig, aber durch die Vermittlung Dritter konnte er seine Zen-Praxis unter der Führung von Ikkyū fortsetzen. Bis dahin hatte er sich Shūun-An genannt, aber Ikkyū wollte, dass er seinen Namen ändern sollte, und so nannte er sich selbst fortan Nambō. Später errichtete er sich eine Hütte, die Shūun An, Nambō oder auch Giō genannt wurde.

Da er mit (Takeno) Jōō (dem Lehrer Rikyū‘s) sehr eng befreundet war, erfreuten sie sich sehr oft an gemeinsamen Gesprächen über den Teeweg. Als Mönch, der die Klause jetzt in der zweiten Generation bewohnt, nahm ich den Namen Nambō an, ein Einsiedler, der nichts anderes tut, als den Tee zu üben.
Wie lächerlich!"

Ein Schüler Gio‘s notierte in seinem Tagebuch, dass Gio oder Nambō, der Gründer der Klause, ein Sohn Ikkyū‘s gewesen sei. Damit ist aus rein historischer Sicht eine sehr enge Verbindung zwischen dem Tee und dem Zen gegeben. Offenbar hatten alle einflussreichen Teeleute aus Sakai im Nanshūji oder sogar bei dem Sohn Ikkyū‘s Zen trainiert. Nun setzten Rikyū und der „zweite"" Nambō diese Tradition fort.

Teeweg - Buddhaweg

Aber was heißt es, dass der Tee nach der Lehre Buddhas geübt wird? Eine „buddhistische Übung“ besteht nicht darin, in einem „religiösen“ Akt ein höheres Wesen zu verehren. Der wichtigste Satz im Nambōroku - Text ist:

みなみな仏祖の行ひのあとを学ぶなり
mina mina Butsusō no gyō-hi no ato o manaburi
„Durch all dies formen wir uns selbst nach dem Bild Buddhas und der vergangenen Meister.“

„Wir formen uns selbst nach dem Bilde und dem Vorbild Shakyamunis (Butsu-sō), des Königssohnes aus Indien aus dem Königs Geschlecht der Shakya, der ein Buddha wurde, und nach dem Vor-Bild der alten Meister, die bereits den Weg vor uns gegangen sind, den Weg zu uns selbst. Wer sind die „alten Meister“?

Der Satz bietet für die Übersetzung einige Schwierigkeiten, zumal einige Worte, die doppeldeutig gelesen werden können, und nicht in Kanji, sondern in Kana geschrieben sind. Wir kennen hier also nur die Aussprache und es gibt im Japanischen sehr viele gleich klingende Worte. Das fragliche Wort im Satz wird ato gelesen. Es kann als ato 後 - Nachfolger, Nachkommenschaft oder auch als ato 跡 - Fußabdruck, Fußspur, Fährte, Hinterlassenschaft, Erbe verstanden werden. Nach einer genauen Prüfung und einigem Nachdenken und Diskussionen mit Anderen würde ich diesen Satz nun übersetzen:

Dieses alles (mina mina) den Fußspuren Shakyamuni‘s (die er gegangen ist) nachfolgend (um) nachahmend (zu) lernen.

Das alles (Blumen stecken, Duft abbrennen, Tee trinken) (um) den Fußspuren Shakyamuni‘s, die er übend (hinterlassen hat), lernen wir durch Nachahmen.
Dort, wo der Buddha Shakyamuni gegangen ist, hat er Fußspuren hinterlassen. Das japanische Wort gyo 行 bedeutet wörtlich „gehen“, wird aber in buddhistischen Texten fast immer als „üben“ verstanden. Wir müssen in unserer Sprache dieses gyō als „üben“ übersetzen, um es von einem unachtsamen Vor-sich-hin-Gehen abzuheben. Shakyamuni ist übend gegangen und hat „Fußspuren hinterlassen. Shakyamuni ist längst schon verschwunden, aber seine Spuren sind noch da.
Shakyamuni hat keine Teezeremonie geübt, aber er ist den Weg heraus aus dem Leiden in die Leidfreiheit gegangen. In allen Menschen liegt die Sehnsucht nach Leidfreiheit von Geburt an. Es ist ein Trieb, der jedem Lebewesen innewohnt und der wie ein roter Faden leitet. Eigentlich liegen die Spuren Buddhas schon in unserem Herzen eingeschlossen, wir müssen uns nur noch aufmachen, und ihnen gehend folgen.

Wir können den Weg in die Leidfreiheit gehen, indem wir Schritt für Schritt in die Fußspuren Buddhas treten, und mit unserem ganzen Sein diesen Spuren folgen. Wir müssen mit Herz-Geist und dem Lein (Shinjin 心身) gehen, das heißt, es genügt nicht, über den Weg nur nachzudenken. Wir müssen ihn mit unserem ganzen Körper und unserem ganzen Herzen gehen und gehen wollen. Dabei machen wir eigene Erfahrungen. Wir spüren, welche Empfindungen dieses Gehen in unserem Körper und in unserem Herzen auslöst. Wir lernen dann zwar durch Nach-ahmen, aber dabei imitieren wir nicht nur einfach den Vor-Gänger, sondern lernen uns selbst kennen. Dann gehen wir den WEG, den schon Buddha gegangen ist, den Buddha-Weg ( Butsu-Dō 仏道). Wir können dabei Shakyamuni nicht imitieren, weil wir, wenn wir den Teeweg oder andere Zen-Wege gehen eine Kunst ausüben, die der Buddha so nicht geübt hat. Budhha hat keine Teezeremonie gemacht, nicht mit dem Bogen geschossen und nicht Shakuhachi gespielt. All diese Künste sind erst von Nachfolgern Buddhas auf dem Buddhaweg geformt worden.

Vermutlich darum hat man sich in Japan entschlossen, das Wort ,ato‘ nicht als Fußspur, sondern als Nachfolger, Nachkommenschaft zu verstehen. Dann üben wir, indem wir die Vorgänger, die ihrerseits Nachfolger Buddhas sind, imitieren. Noch kürzlich habe ich mit einer Japanerin diskutiert, die beteuerte, der Teeweg habe nichts mit dem Buddhaweg zu tun. Ato müsse demzufolge als Nachfolger oder "alte Meister" übersetzt werden, denen wir nacheifern. In der Praxis heißt das, dass man ohne zu fragen dem Beispiel des Lehrers folgt. Das Üben folgt dann strengen Regeln, die man nicht mehr hinterfragt. Das ist die neokonfuzianische Erziehung zum Staatsbürger.
Nach unserer Übersetzung sind wir selbst die Erben Buddhas, die seinen Fußspuren folgen und dabei uns selbst erfahren. „Alles andere müssen wir aus uns selbst lernen“ wie der Nachsatz im Nambōroku lautet

Buddhaweg: sich Selbst lernen

Wir üben also den Tee, um Buddha zu folgen. Wörtlich steht im Text für das, was wir tun, das Verb manabu 学ぶ - lernen, studieren und forschen, nachahmen, sich gewöhnen. Wir lernen, indem wir das nachahmen, was Shakyamuni in seinem Üben vorausgegangen ist. Es geht nicht um „wissenschaftliches Erforschen“ neuer Zusammenhänge, sondern um ein Lernen,das sich selbst verwirklicht. Der Zenmeister Dōgen schreibt in seinem Buch Shōbōgenzo:

Den Buddaweg (Buddha-Dō) zu erlernen heißt, sich selbst (jiko 自己) erlernen. Sich selbst erlernen heißt, sich selbst zu vergessen.

Jiko 自己, das "Selbst" ist nicht das Ego. Das erste Schriftzeichen Ji 自 zeigt ein Auge unter einer Haarlocke. Noch heute zeigen Japaner, wenn sie von sich reden nicht wie wir mit dem Finger auf das Herz, sondern auf die Nase. "Ich" ist "dasjenige hier, das mit den Augen sieht!" Das zweite Schriftzeichen ko 己 ist ein Ausdruck der Verringerung: "meine Wenigkeit, ich unbedeutender Mensch oder Lump". "Sich selbst" erlernen ist das lernen dessen, der mit seinen Augen die Welt sieht, aber sonst völlig unbedeutend ist, weil es nur auf das Verhältnis zur Welt und den zehntausend Dingen ankommt.

Wir lernen durch Nachahmen? So jedenfalls wurde der Teeweg zur Zeit Rikyū‘s „gelernt“. Es gab kein Lehrer - Schüler Verhältnis. Man kann den Teemeister Oribe eigentlich nicht als Schüler Rikyū‘s bezeichnen. Rikyū war sicher für Oribe ein Vorbild, nach dem er sich gebildet hat, aber Oribe war ein ausgesprochen kreativer Kopf. Oft entschied er während einer Tee-Einladung spontan, den Ablauf zu verändern. Rikyū seinerseits war von den Neuerungen Oribes sehr beeindruckt und ahmte nun seinen „Schüler“ nach. Ein ganz kleines Beispiel ist, dass Oribe begann, die Chaire, die Teedose aus Keramik zu drehen, um den Tee vollständig daraus zu entfernen. Vorher hatte man ihn mit dem Teelöffel heraus geschöpft. Aber da ergibt sich das Problem, dass immer zu viel Tee in der Dose zurückbleibt. Einmal hatte Oribe nur noch wenig Tee in der Chaire, also begann er kurzentschlossen, die Chaire langsam um sich selbst zu drehen und den Tee so in die Teeschale zu schütten. Heute ist diese Form die Regel, es sei denn, man verwendet eine Chaire chinesischen Ursprungs. Da wird noch, wie vor der Neuerung Oribes, der Tee nur heraus gelöffelt.

Heute wird in Japan auch durch Nachahmen gelernt, aber dieses Nachahmen ist im Neokonfuzianischen Geist festgefahren. Änderungen sind nicht erlaubt und es ist auch nicht erlaubt, nachzufragen nach dem „Warum“. Da fehlt aber der entscheidende letzte Satz aus dem Nambōroku:

"Alles andere musst du aus dir selbst heraus verstehen lernen.“

Eine andere Übersetzung dieses Satzes, die sich viel enger am Text orientiert lautet:

Eine tiefere Einsicht wirst du als (unbedeutender) Mönch deiner Erleuchtung entsprechend gewinnen.

Die tiefere Einsicht entspringt aus der eigenen Erleuchtung? Was ist Erleuchtung? Im Text steht das Wort mei 明 oder umgangssprachlich gelesen akari. Das Schriftzeichen zeigt Sonne und Mond. Beiden ist gemein, dass sie leuchten. Akari heißt Licht, leuchten. In buddhistischen Texten wird das Wort als mei gelesen und ist die Übersetzung des indischen vidya. Dieses Wort ist ein indogermanisches Stammwort und kommt sogar in unserer deutschen Sprache vor. Ursprünglich war die Aussprache von vidya mit einem w, es wurde also wid-ya gesprochen: Die Wurzel steckt im deutschen Wort ich „weiß“, Weisheit. Ich weiß etwas nur dann, wenn ich Einsicht habe, gesehen habe. Im Altgriechischen ist das Wort für „sehen, gesehen haben“ oida, das ursprünglich (w)oida gesprochen wurde. Weise bin ich also nur, wenn ich zuvor gesehen habe und Einsicht gewonnen habe. In Indien ist ein Vidya ein „Weiser“, der gesehen hat, aber eigentlich ist es ein Arzt. Der Arzt kann nur heilen aus seiner weisen Einsicht in die Krankheit. Er muss „sehen können“, was den Kranken krank macht.
Das Wort mei 明 ist also, das Hell-Werden der Welt durch Einsicht. Diese Einsicht kann ein ganz einfaches, alltägliches Einsehen und Verstehen meinen, es kann aber auch bis zur tiefsten Einsicht überhaupt führen. Nambō sagt also, dass man lernt, indem man den Fußspuren Shakyamunis nachahmend folgt. Alles weitere gewinnt man aus der eigenen Weisheit und Einsicht aus sich selbst heraus.

Lernen durch Nachahmen

Wie lernt man durch Nachahmen? Einige Schüler wollten einmal eine Videoaufnahme meiner Teezeremonie haben, um daran lernen zu können. Richtig, man lernt durch nachahmen! Aber nach einiger Zeit gaben sie dieses Lernen mit dem Video auf: „Irgend etwas machen Sie anders, aber wir wissen nicht, was!“
Man kann nur das sehen, was man zuvor mit seinem eigenen Leib erfahren hat. Nur dann „verstehen“ wir, was wir sehen. Das „Sehen“, das Weisheit erzeugt, muss zuvor ein Sehen mit den inneren Augen sein, das aus eigener leiblicher Erfahrung stammt. Dann können wir auch mit den Augen sehen und den Ohren hören. Dōgen sagt:

Auch wenn man Leib und Herz (Shinjin) gesammelt Farben (Erscheinungen) anschaut, Leib und Herz gesammelt Töne vernimmt, ist es nicht, so nahe man auch erfasst, wie wenn ein Spiegel das Spiegelbild aufnimmt. Während eine Seite sich erweist, bleibt die andere dunkel.

Lernen durch Nachahmen setzt unbedingt eigene körperliche und Herz-Geist Erfahrungen voraus. Dann ist es so, wie der Spiegel das Spiegelbild ganz und gar in sich aufnimmt oder der Tautropfen den ganzen Mond. So entsteht eine Schulung der Aufmerksamkeit und der Wahrnehmung. Bei meinem Shakuhachi Weg lief der Unterricht immer so ab, dass der Lehrer ein kleines Stück vorspielte und ich ahmte das nach. Aber am Anfang war meine Erfahrung immer wieder: der Lehrer macht irgend etwas anders, so dass sein Spiel anders klingt, als meines. Aber ich konnte einfach nicht verstehen, WAS er anders machte. Erst durch vielfaches Wiederholen lernte ich nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen, was anders war, wie man die Finger setzt oder den Kopf bewegt. Wir Abendländer sind nicht sehr geübt im Lernen durch Nachahmen. Aber in Japan oder in Ostasien lernt man nur auf diese Weise. Einer der besten Flamenco Gitarristen ist ein Japaner. Er hatte sein Spiel gelernt, indem er den besten Spanischen Spieler genau beobachtete und ihn nachahmte. Aber das Nachahmen kann kein blindes Nach-machen sein, es muss ein Verstehen hinzu kommen. Indem wir mit unserem Leib und unserem Herz-Geist nachahmen, machen wir sowohl leibliche als auch „geistige“ Erfahrungen des Verstehens.

 

Wir lernen aber nicht nur, um uns eine Kunst anzueignen, sondern wir lernen auf dem Buddhaweg:

Den Buddhaweg erlernen heißt sich selbst erlernen, sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen.

Sich Selbst vergessen

Was heißt es aber, den Buddha Weg zu erlernen und sich selbst erlernen. Und dann noch der Nachsatz: Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen? Eine „typische“ Zen Paradoxie, die man nicht verstehen kann? Dōgen gibt einen Hinweis:

Sich selbst vergessen heißt, durch die zehntausend dharma (法) von selbst erwiesen werden. Durch die zehntausend dharma von selbst erwiesen werden heißt, Leib und Herz (Shinjin) meiner selbst (jiko) sowie Leib und Herz der Anderen (Tako) abfallen zu lassen (totsuraku)

Jiko, "sich selbst" meint nicht das Ego wie im westlichen Kulturkreis. Dieses "Selbst" ist in Japan unbedeutend.
Die zehntausend dharma sind hier im Text einfach „alle Dinge“. Sich selbst vergessen heißt, durch alle Dinge von selbst erwiesen werden. Was ist das „erwiesen werden“?

 

Dogen gibt in dem Kapitel ZENKI ein Beispiel, das einiges seiner Sichtweise erhellt. Er versucht deutlich zumachen, was Leben ist:

Leben ist, wie wenn jemand in einem Boot dahingleitet. Auf diesem Boot gebrauche ich ein Segel und lenke mit einem Ruder. Auch wenn ich mich mit einem Stab fort stoße, so trägt mich das Schiff, und ich bin nichts außer dem Schiff. Indem ich in dem Boot dahingleite, lasse ich dieses Boot Boot sein. Diese richtige und treffende Zeit ist auszuprobieren und inständig zu lernen.
....
Beim Boot Fahren ist Leib und Herz-Geist, Umgebung und ich selbst, beides das in sich bewegte Gefüge des Bootes. Die ganze große Erde und der ganze leere Himmel, beides ist das sich bewegte Gefüge des Bootes. Das Ich, das Leben ist und das Leben, das Ich bin, ist auf diese Weise.

Das Bild des Bootes ist sehr vielfältig. Es zeigt die stete Veränderung und die Vergänglichkeit des Lebens, es zeigt aber auch, dass nicht wir es sind, die das Leben fest in der Hand haben, das Leben hat uns in der Hand. Der Dichter Bashō schreibt:

Sonne-Mond: sind unterwegs seit hunderten Generationen - auch die ziehenden Jahre sind Reisende. So auch diejenigen, die ihr Leben in Booten verbringen, oder die Zügel des Pferdes in der Hand dem Alter entgegen ziehen: das Reisen ihr einziger Aufenthalt – Tag für Tag.

Die Menschen sind stets und beständig auf der Reise. Die einen schaukeln auf Booten, die anderen führen das Pferd am Zügel. Beide meinen, sie hätten ihr Leben fest am Zügel, so wie man das Pferd führt. Aber die Reise führt unaufhaltsam dem Alter und dem Ende zu.

Aber das Bild Dōgen‘s zeigt das Verhältnis des Ich und des Lebens und wie wir das Leben „meistern“ können. Das Ich meint, das Boot fahren zu können. Aber es wird getragen vom Wasser und angetrieben vom Wind oder der Stange, mit der das Boot auf dem Fluss gesteuert oder angetrieben wird. Aber das Zusammenspiel von Wind, Wellen, Strömung, Stange oder Ruder, Ufer und mir selbst ergibt, dass ich auf dem Boot dahin gleite. Je mehr der Bootsfahrer sich selbst vergisst und Eins wird mit der Stange, um so sicherer kann er das Boot steuern. Aber dabei wird er nicht zur Stange. Er muss den Fluss, die Felsen, das Ufer und das Boot im Blick behalten. Um das Boot nicht an die Felsen treiben zu lassen, wo es zerbrechen könnte, muss er zugleich ganz und gar das Boot sein. Dōgen drückt das so aus:

Beim Boot Fahren ist Leib und Herz-Geist, Umgebung und ich selbst, beides das in sich bewegte Gefüge des Bootes. Das in sich bewegte Gefüge des Bootes verändert sich ständig, weil sich ja auch die Umgebung und die Umstände stets ändern. Darum muss „die richtige Zeit ausprobiert und inständig gelernt werden“.

Ähnlich wie das Boot Fahren ist es, wenn wir Tee machen oder irgend eine andere Tätigkeit oder Kunst ausüben. Der gesamte Ablauf bildet eine Struktur, die „inständig“ gelernt worden ist. Wir sind ganz im Augenblick, der sich aber stets ändert. Jetzt bin ich ganz beim Teelöffel, aber ich werde nicht zum Teelöffel, obwohl ich mich selbst bei der Handhabung ganz und gar vergesse. Je mehr ich mich selbst vergesse, desto inniger bin ich beim Teelöffel. Aber die Zeitstruktur ändert sich: JETZT muss ich die Teedose nehmen, bzw. die Teedose fügt sich in meine Hand. Dazu muss ich aber den Teelöffel in meinem Herz-Geist loslassen. Wenn ich ihn weiter im Herz-Geist festhalte, kann ich mich nicht wirklich der Teedose zuwenden, weil ich immer noch Teelöffel bin. Der gesamte Ablauf der Teezeremonie ist wie ein Fluss, der das Boot trägt und in den sich die Szenerie ständig verändert. Stets und jeden Augenblick muss ich los-lassen, weil andere Dinge her kommen. Ähnlich ist es etwa beim Klavierspielen oder beim Tennis. Je mehr sich der Tennisspieler selbst vergisst, desto inniger ist er Tennisschläger. Aber zugleich ist er der Ball oder der Spielpartner.

Ähnlich verhält es sich mit dem Tanzen. Je mehr man versucht, über die Schrittfolge nachzudenken und auf die Füße achtet, desto mehr wird man verwirrt, verliert den Rhythmus der Musik, stolpert und tritt möglicherweise dem Partner auf die Füsse. Je mehr man seine Füße und sich selbst vergisst und mit der Zeitstruktur des Tanzes und der Musik eins wird, desto eleganter und gleitender wird der Tanz.

Beim Klavierspielen folgt eine Note der anderen und die Musik bildet die Zeitstruktur, nach der ich die Hände und die Finger auf den Tasten oder die Füße auf dem Pedal bewege. Erst wenn der Ablauf „inständig gelernt“ ist, kann ich die Finger und mich selbst vergessen und ganz zur Musik werden. Ich habe früher viele Konzerte veranstaltet. Einmal spielte ein Lautinist ein sehr schwieriges Stück von Bach. Seine Technik war brillant. Es war wunderbar, mit welcher Präzision er spielte und alle Schwierigkeiten meisterte. Ein wahrer Meister dachte ich. Einige Zeit später spielte ein anderer Lautinist das selbe Stück. Es klang ganz einfach. Es gab keine technische Brillanz, aber es war einfach wunderschöne und zu Herzen gehende Musik. Einfach nur Musik!

Meisterkoch Ding

Im Zhuangzi gibt es die Geschichte vom Meisterkoch Ding:

Der Koch Ding zerteilte einen Ochsen für den Fürsten Wen Hui. Was seine Hand berührte, wo seine Schulter sich anlehnte, wo sein Fuß sich hinbewegte, wo sein Knie anstieß, ritsch ratsch, sein Messer (dao) spielte so zischend. Alles war ganz im Einklang, so als ob er den Sanlin-Tanz (den Tanz des Maulbeerbaumhains) aufführte, und er befand sich im Einklang mit der Jingshou-Musik. Fürst Wen Hui sagte: “Sehr gut! Dass die Kunstfertigkeit eine solche Höhe erreichen kann.“

Die einfache und alltägliche Tätigkeit, die Koch Ding ausübt wird zu einem Tanz, weil er ganz und gar im Übereinklang mit dem Ochsen ist. Er ist Eins mit dem Ochsen, wenn er seine Schulter anlehnt, den Fuß bewegt und mit dem Knie anstößt. Diese Wendung verdeutlicht, dass er mit seinem ganzen Körper bei der Sache und im Einklang mit ihr ist. Das Messer (dao), das sich zischend durch die Schnitte bewegt, ist im Wortklang ähnlich wie das Dao, der WEG selber. Die Bewegung des Messers ist der WEG:

Koch Ding legte sein Messer nieder und antwortete: „Wozu Euer Diener neigt, ist das dao (Messer - Weg), es ist hineingegangen (eingedrungen) (jin) in die Kunstfertigkeit (Geschicklichkeit (ji).

Die alltägliche Tätigkeit wird zu einer Verwirklichung des Dao, das Eins ist mit dem Messer. Dabei vergisst der Koch Ding nicht nur sich selbst, sondern auch den Ochsen und sogar das Messer. Er ist hineingegangen (jin), in die Kunstfertigkeit (ji), so wie das Messer in den Ochsen. Anfänglich sah er den ganzen Ochsen. Vermutlich wusste er dann nicht, wie er dieses große Tier zerteilen sollte, er stand ratlos und verwirrt wie ein Ochs vor dem Tore, aber später lernte er „inständig die jeweiligen Zeiten“:

Als Euer Diener anfing, Ochsen zu zerlegen und ihr Fleisch auszulösen , sah er nichts als den ganzen Ochsen. Drei Jahre später sah er nicht mehr den ganzen Ochsen. Nun begegnet Euer Diener ihm mit In-spiration (shen). Sinne und Wissen hören auf und die In-spiration (shen) geht wie sie will (geht ihren Weg). Euer Diener fügt sich der natürlichen Struktur, dringt ein in die großen Fugen, führt (dao) das Messer durch die großen Höhlungen und folgt entschlossen dem, was so ist, wie es ist. So berührt er nie auch nur das kleinste der Bänder und Sehnen, und schon gar nicht ein großes Gelenk.

Koch Ding sieht, nachdem er die Zeiten inständig gelernt hat nicht mehr das Ganze, sondern nur den Augenblick. Die je-weiligen Zeiten des Jetzt bilden eine Struktur des Nacheinander und lassen so Schritt für Schritt das Ganze vorbei ziehen. Jetzt fährt er mit dem Messer in die Spur, die ihm das Dao, das der WEg selbst ist, zeigt. Auf diese Weise schont er sein Messer, weil alles ganz von selbst gleitet, ganz ohne Anstrengung und Gewalt.

Ein guter Koch wechselt sein Messer einmal im Jahr – weil er schneidet. Ein mittelmäßiger Koch wechselt sein Messer einmal im Monat – weil er hackt. Ich habe mein Messer nun schon neunzehn Jahre und habe Tausende von Ochsen damit zerlegt, aber die Klinge ist so gut, als käme sie gerade vom Schleifstein. Es gibt Zwischenräume in den Gelenken, und die Klinge des Messers hat keine Dicke. Wenn du das, was keine Dicke hat, in solche Zwischenräume einführst, dann gibt’s jede Menge Platz – mehr als genug Spiel für die Klinge. Darum ist die Klinge meines Messers nach neunzehn Jahren immer noch so gut wie damals, als sie frisch vom Schleifstein kam.

Der Koch Ding kann sich der Kunstfertigkeit ganz hingeben. Nun tut er alles ganz ohne Anstrengung und ohne das Messer durch Gewalt zu beschädigen. Dōgen sagt dazu, dass die zehntausend Dinge von selbst herkommen und uns erweisen.

Koch Ding hat sich selbst vergessen, und er sieht nicht mehr den ganzen Ochsen, sondern jeweils nur das JETZT. Ebenso können wir unser Leben auch nicht leben, indem wir stets das „Ganze“ im Blick haben. Leben ist wie das Treiben auf dem Boot, bei dem wir jeweils ganz im Augenblick sind, in der „inständig gelernten Zeit“.

Körper und Geist fallen lassen

Ebenso verhält es sich mit dem Zen - Tee. Wir bereiten den Tee in tiefer Konzentration (indisch: Dhyana, chinesisch: Chan, japanisch: Zen) zu, bei dem der Bewegungsablauf immer und immer wieder geübt wird. Man spricht vom Erlernen der Form, dem Überziehen der Form und vom Vergessen der Form. Das Erlernen der Form darf dabei nicht nur mit dem Verstand, sondern muss mit Körper und Geist geschehen. Zenmeister Dogen verwendet regelmäßig die Wendung Shinjin 心身, wörtlich Herz-Geist / Körper. Beim Erlernen der Form ist es wichtig, dass wir Bewegung und Atmung miteinander verbinden, so dass der Ablauf der Form, die Bewegung und die Atmung zu einem harmonischen Ganzen verschmelzen.
Bei Anfängern erlebt man oft, wie sich der ganze Körper verkrampft, weil mit aller Anstrengung über den nächsten Handgriff nachgedacht wird. Sogar die Atmung kommt bei der vollen Konzentration auf die Handgriffe ins Stocken. Die Teegeräte werden vor lauter Anspannung so fest angefasst, dass es sogar schon vorgekommen ist, dass eine Schale zerbricht. Wenn wir aber die Form nicht nur erworben, sondern sogar vergessen haben, dann tanzen wir den Tee in einer Leichtigkeit wie der Koch Ding. Ohne jede Anstrengung, ja sogar „ohne die Hände zu benutzen“ gleiten wir auf dem Zeitgefüge der Teezeremonie und lassen Körper und Herz-Geist fallen, wie Dōgen sagt (心身脱落 shinjin datsuraku Geist-Körper fallen lassen). Wir machen nicht den Tee, der Tee ist das Zeitgefüge, das uns wie das Boot auf dem Fluss oder dem Meer trägt. Der Fluss fließt ohne unser Zutun, aber wir steuern das Boot mit der Stange oder dem Steuerruder. So lassen wir uns von dem Gefüge, das der Tee vorgibt tragen, und gleiten von einem Jetzt in das nächste. Wir müssen sowohl uns selbst als auch die Form fallen lassen, um in diesen Fluss zu steigen.

Form / Nicht-Form

In Zazenshin (Bambusnadel des Zazen) schreibt Dōgen über die Form des Zen im Sitzen, das Zazen. Alles, was er schreibt gilt genau so für alle Künste, in denen man feste Formen übt, den Tenmae im Teeweg oder den Katas in den Kampfkünsten:

An der Form (des Sitzens) festzuhalten bedeutet, dass ihr sie auch ablehnt und damit verunreinigt. In Wirklichkeit ist es unmöglich, nicht an der Form des Sitzens festzuhalten, da ihr ja als sitzender Buddha praktiziert. ... Eure Anstrengung, (Über Form und Nicht-Form hinauszugehen) nennen wir das Fallenlassen von Körper und Geist (心身脱落 shinjin datsuraku). Wer noch niemals Zazen (Chado, Kyudo ...) praktiziert hat, hat diese Wahrheit nicht. Sie existiert in dem Augenblick, wenn ihr sitzt (übt), existiert im Tun des sitzenden Menschen, existiert im Tun eines sitzenden Buddha, existiert in einem Buddha, der zu sitzen lernt (学座仏 gaku za butsu ).

Das Festhalten an der Form heißt auch, dass man Angst davor hat, den „wahren Geist“ zu verlieren, wenn man die Form verlässt, es heißt aber auch, dass man immer wieder Phasen hat, in denen man die Form ablehnt, weil sie zu starr ist. Aber ohne Form kann man keinen WEG gehen, jedenfalls keinen Buddhaweg. Die Auseinandersetzung mit der Form ist zugleich eine Auseinandersetzung mit sich selbst.

Einmal kam jemand zu mir und spielte mir auf seiner Shakuhachi Improvisationen vor. Als er dann mein Spiel hörte, war er ganz erstaunt, welche Möglichkeiten die einfache Bambusflöte hat. Aber er lehnt ab, das traditionelle Spiel zu erlernen, weil er fürchtete, dann „seine Spontaneität zu verlieren“. Viele Menschen lehnen den Teeweg ab, weil ihnen die Formen zu starr sind und sie sich eingeengt fühlten. Aber die Form ist wichtig, um das Fallenlassen von Form, Körper und Herz-Geist zu üben.
In Keramikkursen habe ich gesehen, wie Leute mit dem Nudelholz den armen Ton solange auswalzten, bis er jedwede Festigkeit verloren hatte. Die Tonplatten, die so entstehen, kann man nicht mehr in irgend eine beabsichtigte Form bringen. Wenn dann Grünkohl ähnliche, wilde Gebilde entstanden, so hielten das die „Künstler“ für Kunst. Aber das ist gerade die Formlosigkeit, die aus dem Nicht-Üben entsteht. Das ist kein Erwachen, sondern ein Irren.

SHU HA RI

In den japanischen Kunstwegen, vor allem in den Kampfkünsten, aber auch im Teeweg gilt die Einteilung des Weges in drei Stufen:

守格 shu-kaku, 破格 ha-kaku, 離格 ri - kaku

oder in der Kurzform: SHU - HA - RI, das Erwerben der rituellen Form, das Durchbrechen der Form und das Verlassen der Form. Kaku bezeichnet die Stufe der Übung. SHU ist die Stufe des Anfängers, Ha, des Fortgeschrittenen und Ri des Meisters. Der Anfänger beginnt mit SHU, dem Erlernen oder Erwerben der Form. Dazu ist es nach der japanischen Tradition nötig, Vorbildern nachzueifern und sich streng an deren Vorbild zu halten. Darum wird der Satz aus dem Nambōroku in der Regel übersetzt als:

Durch all dies formen wir uns selbst nach dem Bild Buddhas und der vergangenen Meister.

Die „vergangenen Meister" sind Nachfolger Buddhas, die uns voraus den Fußspuren Buddhas gefolgt sind, die aber auf einem der Kunstwege ihre Meisterschaft erlangt haben.
In der zweiten Stufe, dem HA kann man die Form loslassen und variieren, weil man bereits über genügend Erfahrung verfügt, um aus eigener Erfahrung zu üben.
Die dritte Stufe des RI ist die Stufe des Meisters, der die Form vollkommen verinnerlicht hat und sie deshalb vergessen kann.

Vom SHU HA RI spricht das letzte der Gedichte Nr 102 aus der Sammlung der 100 Gedichte Rikyū‘s:

規矩 作法 守りつくして破るとも離るゝとても本を忘るな
kiku sahō: Shu ritsukushi Haru tomo Riruru totemo hon o wasure

In freier Übersetzung:

Die Regeln der Methode (der Konvention) erlernen, durchbrechen und verlassen ist der Ursprung des vollkommenen Vergessens.

Im letzten Jahr war ein Gast aus Korea hier und ich zeigte ihm, wie ich mit meinen Schülern die Atmung und den Rhythmus der Bewegungen einübe. Er sagte, dass er es für unmöglich hielte, jede der Einzelheiten so genau zu kontrollieren. Aber das Kontrollieren der Genauigkeit hat das völlige Vergessen der Form zum Ziel, weil ich durch das "inständige" Üben von Körper und Herz-Geist eins geworden bin mit der Form.

Das Vergessen der Form spielt schon im frühen Daoismus Chinas eine große Rolle. Im Zhuangzi gibt es eine Geschichte, in der Meister Konfuzius seinen ehemaligen Schüler Yan Hui besucht:

"Ich mache Fortschritte", sagt Yan Hui.
"Was meinst du damit?" fragte Konfutse. "Ich habe die Riten und die Musik vergessen!"
"Nicht schlecht, aber du hast es noch nicht erfasst!"

Eines anderen Tages traf Yan Hui wieder Meister Konfutse und sagte: "Ich mache Fortschritte!".
"Was meinst du damit?"
"Ich habe Menschlichkeit und Rechtschaffenheit vergessen!"
"Nicht schlecht, aber du hast es immer noch nicht erfasst!"
Eine Zeit später traf Yan Hui wieder Konfutse und sagte: "Ich mache Fortschritte!"
"Was meinst du damit?"
"Ich sitze und vergesse!"
"Was meinst du mit 'sitzen und vergessen'?" fragte Konfutse.
"Ich schneide meine Glieder und meinen Rumpf ab" sagte Yan Hui, ""blende meine Intelligenz ab, lasse meine Form zurück, nehme von meinem Wissen Abstand und werde eins mit dem 'transformierenden Durchgang'. Das ist es, was ich mit 'sitzen und vergessen' meine!"

"Wenn du eins wirst", sagte Konfutse, "dann hast du keine Vorlieben mehr. Wenn du transformiert wirst, gibt es keine Konstanten mehr für dich. In Wirklichkeit bist du der Ehrenwerte; erlaube mir also, dein Schüler zu werden!"

Zunächst läßt Yan Hui alle Form mehr und mehr abfallen, er übt das Staduim des HA, des Zerstörens und Abwandelns der Form. Aber das genügt noch nicht. In der drastischen Sprache der chinesischen Daoisten schneidet Yan Hui "seine Glieder und seinen Rumpf" ab. Im Zen wird Boddhi Dharma, oder wie er in Japan heißt Daruma oft als Kugelrunde Puppe ohne Arme und Beine dargestellt. Er hat seine Gleider und seinen Rumpf abgeschnitten. Meister Dōgen sagt dazu, "Körper und Herz-Geist fallen lassen". Während des Sitzens hat Yan Hui alles fallen gelassen, Körper und Herz-Geist, sein Wissen, seine Vorlieben und Abneigungen. In diesem Zustand IST er ganz einfach. Er ist eins mit dem "tranformierenden Durchgang", das chinesische tong Wort ist verwandt mit dem Dao. Yan Hui wird eins mit dem steten Wandel der Dinge, Dōgen würde sagen, er hat inständig die jeweilige Zeit gelernt und ist nun im Fluß des Jetzt. Nachdem er diese Stufe erreicht hat, möchte Meister Konfutse sein Schüler werden.

Diese Stelle zeigt, dass es im Konfuzianismus auch nicht nur um die Form geht. Die Form dient dazu,m die größtmögliche Harmonie mit den zehntsausend Dingen zu erlangen, wenn auch durch die äußere Einhaltung der Form. Aber die Stufe des Vergessens ermöglicht dann ohne Form, die ja aber dennoch eingehalten wird - Yan Hui "SITZ", das heißt er übt das Loslassen. Das ist der Zustand, in dem die Form, die mühsam erworben wurde wieder vollkommen verlassen ist.

SHU HA RI ist keineswegs so zu verstehen, dass der Anfänger den wahren Geist des Weges noch nicht erfasst und verwirklicht hat. Im Kapitel Zazenshin unterscheidet Dōgen ebenfalls drei Stufen auf dem Übungsweg, den „sitzenden Menschen, den sitzenden Buddha und den Buddha, der das Sitzen erlernt:

Eure Anstrengung, (über Form und Nicht-Form hinauszugehen) nennen wir das Fallenlassen von Körper und Geist (datsuraku shinjin). Wer noch niemals Zazen (oder einen der Kunstwege) praktiziert hat, besitzt diese Wahrheit nicht. Aber sie existiert in dem Augenblick, wenn ihr sitzt (übt), sie existiert im Tun des sitzenden Menschen, existiert im Sitzen eines Buddha und sie existiert bei einem das Sitzen lernenden Buddha. Das Sitzen eines (gewöhnlichen) Menschen ist nicht das Selbe, wie das Sitzen eines Buddha.

Lernender Buddha

In dem Augenblick, wo sich ein Mensch hinsetzt um zu Üben, ist er - so Dōgen - ein Buddha, wenn auch ein Buddha, der das Sitzen übt. Wenn der „gewöhnliche Mensch" sitzt, das heißt der Mensch, der sich ohne Form im Alltag treiben läßt, so ist das kein Üben, sondern einfach ein Sitzen, das in der Regel nicht um das Sitzen eigens "weiß". Für Buddha ist es wichtig, dass ich, wenn ich sitze zugleich weiß: "Jetzt sitze ich" und wenn ich stehe zugleich weiß: "Jetzt stehe ich". Dies ist die Übung der Achtsamkeit im Alltag. Aber im Alltag sind wir von den Dingen getrieben, wir sitzen zwar, aber mit den Gedanken sind wir nicht beim Sitzen.
Wenn ein „gewöhnlicher Mensch„ eine Schale Tee breitet, so sieht das ähnlich aus wie bei einem Übenden, aber es ist eben kein Üben. Wenn er aber sitzt, um zu üben, so ist er bereits ein Buddha, der das Sitzen lernt, ein „gaku-za Butsu“ 学座仏.

Der Anfänger hat Schwierigkeiten mit der Form, aber auch beim Anfänger stellen sich Augenblicke ein, in denen er Körper und Geist fallen lassen kann. Ich erinnere mich noch daran, wie ich anfing, den Teeweg zu erlernen. Das Falten des seidenen Fukusa war so kompliziert und wollte einfach nicht gelingen. Ich setzte mich zu Hause hin und faltete und faltete. Plötzlich fiel aller Zweifel und alles Nicht-Können von mir ab, und in einem Zustand völliger Glückseligkeit ging das Falten des Seidentuches ganz von selbst. Das war so wunderbar einfach, dass ich lange Zeit saß und einfach immer und immer wieder das Falten genoss.
Die Form ist so lange geübt worden, bis die Dinge wie von selbst geschehen. Dōgen schreibt im Kapitel Genjō kōan:

Sich selbst (jiko 自己) tragend die zehntausend dharma übend erweisen, das ist Irren; die zehntausend dharma kommen von selbst herbei und erweisen übend mich selbst (jiko), das ist Erwachen.

Satori

Die zehntausend dharma sind „alle Dinge“. Sie kommen von selbst herbei, ohne dass ich sie willentlich zwinge, zu kommen, damit ich sie üben kann. Wenn die Dinge von selbst her kommen, sind wir in einem Zustand der vollkommenen Selbstvergessenheit, weil wir ganz und gar bei den Dingen sind, und dabei Körper und Herzgeist fallen lassen, und uns selbst vergessen. Der Zustand der Selbstvergessenheit, der Vergessenheit der Form, ja der Vergessenheit der Anderen, in dem wir ohne jede Mühe und Anstrengung in vollkommener Selbstvergessenheit den Tee tanzen, ist der Zustand des erwachten Buddha, das ist, wie Dōgen schreibt „Erwachen“.

Erwachen heißt „Satori“, das Dōgen in diesem Text mit der Lautschrift さとり schreibt. Satori wird oft als „Erleuchtung“ übersetzt. Aber das kommt aus der missverstandenen Gleichsetzung von Zen und abendländischer Mystik. In der Mystik geht es um „spirituelle“ Erfahrungen, die mit einem Lichterlebnis gleichsetzt werden. Der Ursprung liegt in der platonischen Philosophie der Ideen. Im Höhlengleichnis vergleicht Platon die Menschen mit Gefangenen, die tief in einer Höhle an eine Felswand gefesselt sind und die ihren Kopf nicht bewegen können. Hoch über ihnen, hinter ihrem Rücken, in einer Richtung also, in die normalerweise niemand blicken kann, tragen Helfer Abbilder der Dinge. Ein Feuer ganz im Hintergrund der Höhle wirft Schatten an die Wand, die den Menschen gegenüber liegt. Sie sehen diese Schatten und meinen, das seien die Dinge in ihrer Wirklichkeit. Die „wahre Wirklichkeit“ kann aber nur erkannt werden, wenn es zuvor gelingt, sich von den Fesseln zu befreien und die Blickrichtung umzukehren, weg von den vermeintlich wirklichen Dingen. Die Menschen, die so befreit worden sind, erkennen die Struktur und können allmählich, wenn sie sich langsam an das helle Licht gewöhnt haben, nach oben steigen, aus dem Gefängnis der Höhle hinaus. In der „wahren Welt“ angelangt, sehen sie zum ersten mal die Dinge im vollen Licht der Sonne, die Ideen, eigentlich die eidola ειδολα, die Formen und Ur-Bilder, um schließlich die Sonne selbst, die Idee der Ideen sehen zu können. Die Blickrichtung in dieser „mystischen“ Erfahrung ist also weg von den Dingen des Alltags, die nur Schattenbilder von Abbildern der wahren Ideen sind.

Wenn die zehntausend Dinge dagegen von selbst herkommen, wie Dōgen sagt, und uns übend erweisen, geht die Blickrichtung gerade nicht weg von den Dingen, sondern die Dinge erscheinen so wie sie sind, ohne dass wir sie mit unserem eigene Ego in der Wahrnehmung verändern: „sich selbst tragend die zehntausend Dinge übend erweisen zu wollen ist Irren“. Wir schauen nicht weg von den Dingen, sondern nehmen sie so wahr, wie sie wirklich sind.
Das heißt konkret für einen Anfänger des Weges, dass er verwirrt sein kann, weil er mit Kraft und Gewalt die Dinge handhaben will. Er ist verkrampft und die Dinge verweigern sie sich, indem sie sich dem Zugriff sperren. Sehr deutlich wird dies z.B., wenn ich die Zenflöte, die Shakuhachi spiele. Wer versucht, mit Gewalt zu blasen, um einen Ton zu erzeugen, der wird von der Shakuhachi belehrt: „So nicht!“. Sie quietscht und faucht, aber gibt keinen Ton. Im Teeweg sperrt sich das seidene Fukusa und wirft unschöne Falten. Beim Tennis spielen konzentriert sich der Anfänger so auf die richtige Haltung des Schlägers, dass er darüber verkrampft und nie den Ball trifft. Erst, wenn wir ganz los lassen und die Dinge von selbst herbei kommen, werden die Bewegungen weich und fließend, alles geschieht ganz von selbst.

Das chinesische Zeichen für Satori 悟 besteht aus dem Bild für Herz oder Herz-Geist 心 shin und dem Zeichen für Ich, ware 吾. Das Herz ist wie ein Spiegel, in dem sich die Dinge spiegeln und die Dinge sind ein Spiegel, in dem sich das Herz spiegelt. Das Üben poliert den Herzensspiegel, der nun ganz rein und ohne Verzerrungen des Ego die zehntausend Dinge widerspiegelt. Das ist gerade nicht eine Erfahrung des Ego, sondern das vollkommene Los-Lassen und Vergessen von Körper und Herz-Geist. Im Teeweg beginnen wir jede Teezubereitung, indem wir den Hishaku, die Schöpfkelle wie einen Spiegel halten, der das Herz (Herz - Geist) spiegelt. Diese Haltung heißt kagami hishaku - Spiegel Schöpfkelle.

Der Maler Paul Klee schildert ein Erlebnis, das er während seines Militärdienstes hatte. Ein freundlicher Kommandant hatte ihn in die Zahlstube versetzt, wo er, wenn kein Zahltag war, an seiner Staffelei saß und malte. Eines Tages war er vollkommen in seiner Malerei versunken, als er plötzlich unterhalb seiner Staffelei Militärstiefel sah und aufschrak. Aber dann bemerkte er, dass dies seine eigenen Stiefel waren. Er war derart in der Malerei aufgegangen, dass er alles andere vergessen hatte und Eins mit der Malerei geworden war.

Buddha werden - Der Herzensspiegel

Den Buddhaweg üben heißt sich selbst üben, sich selbst üben heißt, sich selbst vergessen. Üben wir also Tee oder eine der anderen Künste, um selbst Buddha zu werden?

Im Kapitel Kokyō , der „alte Spiegel“ zitiert Dōgen eine alte Zengeschichte:

Meister Baso lebte in einer einfachen Hütte und praktizierte dort zehn Jahr täglich Zazen. Man kann sich vorstellen, was eine Regen-Nacht in der nur mit Schilf bedeckten Hütte bedeutete. Selbst wenn der Schnee den kalten Boden bedeckte, unterbrach Baso seine Praxis nicht.
Eines Tages ging (Zen-Meister) Nangaku zu Basos Hütte und fragte: „Was macht Baso in diesen Tagen?“
Baso antwortete: „In diesen Tagen macht Baso nichts anderes als Zazen.“
Nangaku: „Was beabsichtigst du damit?“
Baso: "Ich beabsichtige, duch Zazen ein Buddha zu werden!“
Nangaku hob einen Ziegelstein auf und rieb ihn an einem Felsen neben Baso‘s Hütte.
Baso fragte: „Was macht der Meister da?“
Nagngaku: „Ich poliere einen Ziegel!“
Baso: “Was beabsichtigst du damit?“
Nangaku: „Ich poliere ihn, um einen Spiegel daraus zu machen!“
Baso: „Wie kannst du durch polieren aus einem Ziegelstein einen Spiegel machen?“
Nangaku: "Wie kannst du durch Zazen zu einem Buddha werden?“

Dōgen meint, dass wir in dem Augenblick, wo wir uns entschließen zu üben, schon unsere Buddhanatur verwirklichen Wenn wir üben, um etwas bestimmtes zu erreichen, haben wir schon die Spur Shakyamunis verloren.

Einen Ziegelstein zu polieren, um daraus einen Spiegel zu machen ist ein nutzloses Unterfangen. Den Buddhaweg üben, um Buddha zu werden ist ebenso ein nutzloses Unterfangen. Aber wenn wir in den Zustand der Selbstvergessenheit gelangen, die Psychologie nennt das den Flow-Effekt, dann SIND wir Buddha. Je mehr wir uns bemühen, den Buddhaweg zu erlernen, um etwas zu werden, desto mehr haben wir den Weg verfehlt.

Der buddhistische Name des großen Teemeisters Rikkyu 利休 setzt sich aus den zwei Schriftzeichen Ri 利, Nutzen, Ertrag, Gewinn und 休 kyū Ruhen, Ausruhen zusammen. Ri ist eigentlich der Ernteertrag von abgeschnittenem Gras, kyu zeigt einen Menschen, der mit dem Rücken an einen Baum lehnt. Erst, wenn wir aufhören, an Gewinn und Nutzen zu denken, können wir die Spur des Buddha verwirklichen. Der Teeweg ist eine vollkommen nutzlose Tätigkeit, die keinerlei Gewinn bringt!
Wie schrieb der Mönch Nambō?

"Als Mönch, der die Klause jetzt in der zweiten Generation bewohnt, nahm ich den Namen Nambō an, ein Einsiedler, der nichts anderes tut, als den Tee zu üben.
Wie lächerlich!"


autor: g.staufenbiel   | © myōshinan chadōjō / teeweg.de