Der Geist und die Buddhanatur
Hölderlin im Gespräch mit Zenmeister Dōgen
Gerade sind wir zurückgekehrt aus Kärnten.
Im Hotelresort Feuerberg haben wir zu dritt eine Woche lang Seminare gegeben. Wir haben meditiert, Teezeremonien vorgeführt und unterrichtet und über Hölderlin und Dogen philosophiert. Das Hotel liegt auf fast 1800 Metern Höhe auf dem Gerlitzen Berg.
Das altslawische Wort gorelice bedeutet ‚brennen‘. Man hat früher oben am Berg weithin sichtbare Feuer angezündet. Es gibt Funde aus keltischer Zeit, die darauf hindeuten, dass hier Opferzeremonien stattgefunden haben. Aber Herr Berger, der Besitzer des Hotels ‚brennt‘ noch immer voller Leidenschaft für sein Hotel und den geistigen Gehalt im Hause.
Wir haben dort oben einen originalen japanischen Teeraum mit einer feierlichen Zeremonie eingeweiht und auf den Namen Horai-An getauft. Der Horai-San ist der Berg, auf dem die Glücksgötter wohnen. ‚An‘ ist eine kleine Klause des Rückzuges, in der man zur Besinnung kommt und den inneren Frieden finden kann.
An den Vormittagen haben wir über Hölderlin gesprochen und am Nachmittag über Zenmeister Dogen. Vermutlich werden sich die Germanisten mit Grausen abwenden, wenn sie hören, dass da jemand Hölderlin mit einem Zenmeister in Verbindung bringt. Immerhin hat Dogen um das Jahr 1200 in Japan gelebt und Hölderlin im 18. Jhdt. in Deutschland. Wo sollten da Verbindungspunkte sein? Ja, ich habe sogar ein ganzes Buch darüber geschrieben, in dem ich mich mit dem Verständnis der Zeit bei Hölderlin und Dōgen befasse: Im Garten der Stille. Natürlich sind beide völlig unabhängig voneinander. Hölderlin hat niemals vom Zenmeister Dōgen gehört. Aber beide denken den Menschen aus seinem innersten Wesen heraus ganz und gar menschlich. Und die Menschen hatten um 1200 dieselben Sehnsüchte und Hoffnungen wie noch heute. Zu allen Zeiten sehnen sich die Menschen nach Nähe und Geborgenheit nach Ganzheit und inneren Frieden.
In einer theoretischen Schrift, die Hölderlin nicht zur Veröffentlichung gedacht hatte, in der er aber versuchte, für sich selbst seine Gedanken zu ordnen, schreibt er über den Geist. Der Text, der sich als ein einziger Satz über fast 2 Seiten hinzieht, beginnt:
»Wenn einmal der Dichter des Geistes mächtig …«
Der Geist ist kein Gespenst, das körperlos und abgehoben über allem Materiellen schwebt. Er ist nicht das ‚Ganz-Andere‘, abgehoben und abgetrennt von der Wirklichkeit des Materiellen. Wir alle SIND Geist, und zwar ganz und gar. Auch dieser `rote Klumpen Fleisch hier` wie Dōgen sagt.
Für Hölderlins Studienfreund Hegel verwirklicht sich der Geist selbst im Gang der Geschichte. ALLES ist Geist. Am ‚Anfang‘, der aber nicht historisch war sondern immer ist, ruht der Geist in sich selbst. Theologisch gesprochen ist das der Zustand im Paradies. Gott, Mensch und Natur sind Eins. Aber in einem stetigen Prozess tritt die Entfremdung ein. Mann und Frau werden getrennt. Ihnen gegenüber steht Gott, fremd und furchtbar mit seinem Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu kosten. Aber Adam und Eva müssen notwendig vom Baum der Erkenntnis essen, damit sie Menschen werden. Und sie sahen, dass sie nackt waren. So werden sie sich selbst entfremdet und schließlich aus dem Paradies vertrieben.
Am Anfang ist der Embryo geschützt und geborgen im Mutterleib. Aber er muss heraus in die kalte Welt des Getrennt-Seins. Der Säugling ist noch ganz eins mit der Mutter. Aber später erkennt er die anderen Menschen als fremd und erlebt sie als Bedrohung. Und spätestens in der Pubertät kämpfen wir mit den Eltern, um uns aus der ‚unerträglichen‘ Nähe zu befreien und wir selbst zu werden. Aber selbst in der Entfremdung zu den Eltern bleiben wir innig miteinander verbunden: Wir tragen dieselben Gene in uns.
Aber die Sehnsucht nach dem Eins-Sein und dem Paradies sitzt uns Menschen unauslöschlich im Herzen. Kleist hat in seiner Erzählung über das Marionettentheater geschrieben, dass wir trotz aller Sehnsucht nach der ursprünglichen Einheit und dem Paradies nicht wieder zurückkönnen in den Urzustand. Der Eingang zum Paradies ist von dem Engel mit dem Flammenschwert versperrt. Der Säugling kann, selbst wenn er es wollte, nicht wieder zurück in die dunkle Geborgenheit des Mutterleibes. Wir alle müssen – aus dem Paradies der Kindheit vertrieben – im Schweiße unseres Angesichtes unser Leben verdienen. Aber vielleicht ist ja die längst verlorene Geborgenheit der Kindheit auch nur ein Traum?
Kleist sagt, dass es vielleicht eine Hintertür zum Paradies gibt, die noch offen steht. Die können wir nur erreichen, wenn wir immer weiter vorwärtsgehen, und so irgendwann wieder die Einheit gewinnen.
In der Nachfolge Hegels hat der dänische Philosoph Kierkegaard gesagt: »Der Mensch ist Geist.« Und er fragt sofort:
»Was aber ist der Geist? Der Geist ist das Selbst! Was aber ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält.«
Das Selbst ist keine feste Größe, ein für allemal unveränderlich. Wir verhalten uns zu uns selbst und indem wir uns so zu uns verhalten, sind wir: Selbst. Meistens – so Kierkegaard – versuchen wir verzweifelt, Selbst zu sein. Wir spüren, dass etwas fehlt, um wirklich ganz und eins mit uns zu sein. Wir sind ver-zwei-felt und mit uns selbst ent-zweit. Wir sind uns selbst fremd.
Die Verzweiflung sieht nicht so aus, dass wir uns die Haare raufen, das Gewand zerreißen und heulend am Boden wälzen. Es ist eine ‚stille Verzweiflung‘, die sich meistens hinter einer Munterkeit verbirgt. Kierkegaard erzählt von Jonathan Swift, der als alter Mann in demselben Irrenhaus lebte, das er einmal gestiftet hatte. Den ganzen Tag stand der vor dem Spiegel, betrachtete sein Bild und sagt vor sich hin:
„Armer alter Mann! Da gehst du in einer stillen Verzweiflung!“
Swift ist `irre` geworden. Er erkennt sich selbst in der Reflexion des Spiegelbildes nicht mehr. So wie wir alle uns nicht wirklich kennen. Wir betrachten uns wie einen Fremden ohne uns zu erkennen. Manchmal versuchen wir verzweifelt, uns selbst zu verwirklichen, indem wir uns ein Auto kaufen, ein Haus bauen, viel Geld verdienen oder ein ehrenvolles Amt anstreben. Immer aber bleibt ganz tief im Herzen das Wissen, dass dies alles nicht genügt. Vielleicht geht es uns allen so wie Swift, der in seinem eigenen Irrenhaus lebt?
Die Verzweiflung nennt Kierkegaard die ‚Krankheit zum Tode‘. Diese Krankheit ist nicht tödlich, aber sie begleitet uns bis zum Tod. Es gibt kein endgültiges Heilmittel, nur die stete Bemühung, uns selbst immer wieder neu zu verwirklichen.
Im alten China gibt es die Geschichte vom Hirten, der seinen Ochsen verloren hat. Sie wird in einer Folge von Bildern, den Ochsenbildern erzählt und ist auch in Korea und in Japan sehr bekannt. Verzweifelt sucht der Hirt nach dem Ochsen, aber er kann ihn nirgendwo da draußen in der Welt finden. Der Ochse ist das verlorene Selbst. Erst nachdem der Hirte gelernt hat, den Ochsen nicht mehr draußen zu suchen, findet er ihn endlich und bringt ihn nach Hause. Aber dann merkt er, dass er überhaupt keinen Ochsen mehr braucht: Er ist zu Hause, bei sich. Was hat sich dann für uns verändert? Eine japanische Teemeisterin hat die Geschichte vom Hirten so interpretiert: »Am Ende meiner Bemühungen bin ich erwacht und ich merke, dass ich derselbe Idiot bin wie zuvor. Aber es macht mir nichts mehr aus!«
»Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist, wenn er die gemeinschaftliche Seele, die allem gemein und jedem eigen ist, gefühlt und sich zugeeignet, sie festgehalten, sich ihrer versichert hat, …«
Der Geist ist die gemeinschaftliche Seele, die allen gemein ist. Mit Seele meint Hölderlin die Empfindung, das lebendige Gefühl. Sie ist allem gemein und jedem eigen. Die Seele muss offenbar erst angeeignet, gefühlt werden, um ihrer sicher zu sein. Man muss sie festhalten und sich ihrer versichern, man muss sie wissen, damit sie ganz zu eigen wird. Warum muss man sich ihrer versichern und sie sich aneignen, wenn sie ohnehin all-gemein ist?
Aber wie oft weichen wir den eigenen Empfindungen aus, die uns den Fehl anzeigen und betäuben uns mit dem Lärm der alltäglichen Besorgungen! Erst wenn wir die gemeinschaftliche Seele gefühlt und uns zugeeignet haben, sind wir ihrer sicher.
Zenmeister Dōgen sagt, indem er Buddha selbst zitiert:
»Alle Wesen haben voll und ganz die Buddhanatur.«
Im Chinesischen und Japanischen bedeutet das Wort ‚Haben‘ zugleich auch Sein. Wir können den Satz deshalb auch lesen als »Alle Wesen SIND Buddhanatur.« Das Schriftzeichen 有 zeigt eine Hand, die den Halbmond hält. Es ist eine Illusion, dass wir den Mond greifen und festhalten könnten. Selbst wenn wir die Hand so halten, dass sie scheinbar den vollen Mond greift, so ändert sich der Mond dennoch ständig, ja, manchmal scheint er völlig zu verschwinden. So ist es eine Illusion, dass wir immer die Selben sind und uns niemals verändern. Ebenso ist es eine Illusion, dass wir durch Besitz die Beständigkeit unseres Selbst sichern könnten.
Wir SIND was wir HABEN? In einer Weise schon. Ein Reicher mit einem schönen Hause, einem großen Garten, einem schicken Auto und einer schönen Frau und Kindern ist anders als der Landstreicher auf der Straße. Jemand mit einem wichtigen öffentlichen Amt wird von seinem Amt geprägt, genauso wie der Landstreicher von seiner Situation geprägt wird. Aber unabhängig davon können beide entweder glücklich oder unglücklich sein. Und in beiden ist die Sehnsucht nach der Ganzheit.
Für Dōgen erhebt sich die Frage, wozu wir üben müssen, wenn doch ohnehin alles Buddhanatur ist. Genauso haben alle Menschen die Fähigkeit, zur Quelle zu gehen und Wasser zu schöpfen so wie sie die Buddhanatur `haben`. Aber wir müssen unsere Wesen verwirklichen und es TUN! Wenn wir nicht zur Quelle gehen, bleibt diese Fähigkeit ungenutzt und wir erfahren niemals das Glück, frisches Wasser aus der Quelle zu trinken. Alle Menschen SIND Buddhanatur, aber wir müssen sie leben!
Die Buddhanatur ist ebenso wie der Geist bei Hölderlin ‚allem gemein und jedem zu-eigen‘. Nicht nur ein kleiner Teil davon, sondern der volle Geist und die volle Buddhanatur. Dōgen erzählt die Geschichte eines chinesischen Beamten, der einen Zenmeister fragt:
»Ein Regenwurm wurde entzweigeschnitten. Beide Teile bewegen sich. Ich frage mich, in welchem Teil nun die Buddhanatur ist!«
Ist die Buddhanatur nur in einem der beiden Hälften oder ist in jedem nur die halbe Buddhanatur? Dōgen erklärt, dass der Regenwurm nicht ursprünglich aus einem Teil und nun aus zwei Teilen besteht. Er ist immer EINS und die Buddhanatur ist ungeteilt in Allem.
Im Kapitel Genjokōan hat Dōgen ein wunderbares Beispiel für das Erwachen:
Der Mensch erlangt Erwachen, so wie sich der Mond im Wasser aufhält. Der Mond wird nicht nass, das Wasser nicht gebrochen. … Der ganze Mond und auch der volle Himmel halten sich auf im Tau am Gras und auch in einem Tropfen Wasser.
Der Mond ist das Bild für die Buddhanatur. Es ist immer der ganze Mond im Tautropfen und nicht nur ein winziger Teil davon. Und selbst in einer schmutzigen Wasserpfütze ist der Mond, ohne dass er beschmutzt wird. So ist auch im Verbrecher die Buddhanatur, ohne dass sie davon beschmutzt würde. Sogar unser Nachbar oder Arbeitskollege, der den ganzen Tag nervt ist Buddhanatur! Wir können niemanden verachten, aber wir können ihm aber helfen, seine Buddhanatur zu leben. Aber zuvor müssen wir selbst die Buddhanatur verwirklichen, indem wir üben. Wir üben nicht, um Buddha zu werden, sondern um die Buddhanatur in ständigem Vollzug zu leben.
Das meint auch Hölderlin in seinem Text ‚wenn einmal der Dichter ..‘:
» … wenn er die gemeinschaftliche Seele, die allem gemein und jedem eigen ist, gefühlt und sich zugeeignet, sie festgehalten, sich ihrer versichert hat …
Es ist also offenbar nötig, sich des Geistes zu versichern nachdem man ihn ‚gefühlt und zugeeignet hat. Im weiteren Text spricht Hölderlin davon, dass es einen steten Prozess gibt, in dem der Geist sich verwirklicht und notwendig wieder in die Trennung geht. Dieser Wechsel ist ein stetiger Prozess, der sich immer wiederholt. Es ist nicht so, dass der Geist, einmal angeeignet ein für alle mal mein eigen ist. Er muss immer wieder angeeignet werden.
Dōgen beendet das Kapitel Genjokōan mit einer Geschichte: Ein Mönch fragte seinen Meister, warum der seinen Fächer benutzt wo es doch die Natur der Luft ist, dass sie ohnehin überall ist. Der Meister antwortet wortlos, indem er seinen Fächer benutzt!
Wird fortgesetzt.
Termine
Übersicht über die nächsten Termine und Veranstaltungen:
Tanabata
Nach alter Tradition feiern wir wie jedes Jahr das Tanabatafest mit vielen Vorführungen und Gästen. Eigene Beiträge sind willkommen.
Tanabata Sternenfest
Myoshinan Teehaus 09.07.2016
Taiko – Japanische Trommeln – Workshop
Taiko Workshop
Rainer Rabus, Gerhardt Staufenbiel
Myoshinan Teehaus 10.07.2016
Meditatives Konzert mit Shakuhachi und Rezitationen: Blüten und Einsichten
Blüten und Einsichten
Shakuhachi: Gerhardt Staufenbiel, Texte und Rezitationen: Carola Catoni
Myoshinan Teehaus 24.07.2016
Haiku und Zen – Wege zur Achtsamkeit
Seminar am Benediktushof
Benediktushof Holzkirchen
15.07. – 17. 07. 2016
Japanreise Frühjahr 2017
Auch im nächsten Frühjahr zur Kirschblüte wird es wieder eine Reise nach Japan geben. Schwerpunkte sind die alten Kaiserstädte Kyoto und Nara und deren Umgebung. Es liegen bereits jetzt Anmeldungen vor. Kyoto ist zu dieser Zeit völlig ausgebucht, deshalb habe ich schon jetzt Unterkünfte reserviert. Aber es gibt nur eine beschränkte Anzahl von Plätzen. Bitte frühzeitig buchen!
Unterricht über Internet
Es besteht die Möglichkeit, Unterricht in Shakuhachi und / oder Teezeremonie über Internet zu bekommen. Einige Schüler, die weit vom Myoshinan entfernt wohnen, nutzen diese Möglichkeit bereits. Bei Interesse nehmen Sie bitte Kontakt mit mir auf.