Ach, wen vermögen
wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht,
und die findigen Tiere merken es schon,
daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind
in der gedeuteten Welt. Es bleibt uns vielleicht
irgend ein Baum an dem Abhang, daß wir ihn täglich
wiedersähen; es bleibt uns die Straße von gestern
und das verzogene Treusein einer Gewohnheit,
der es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht.Rilke: Duineser Elegien, Erste Elegie
„Es bleibt uns der Baum am Abhang, daß wir ihn täglich wiedersähen!“
Aber sehen wir den Baum überhaupt, an dem wir täglich vorübergehen?
Sind wir nicht immer und überall so sehr in Gedanken, dass wir die einfachen Dinge um uns herum übersehen?
In vielen Zen-Klöstern in Japan steht eine Tafel am Eingang:
„Achte auf deine Füße!“
Das meint nicht nur, dass wir darauf achten sollen, wohin wir treten. Es ist die Aufforderung, die einfachen Dinge des Lebens, die unseren Grund und Boden bilden, auf dem wir leben und sterben wahrnehmen sollen. Aber wir treten das Einfache täglich mit den Füßen, weil wir immer mit den “wirklich wichtigen Dingen” beschäftigt sind.
Da ist das Geschäft, die Steuererklärung, das Auto muss in die Werkstatt und Brot muss noch eingekauft werden.
Die Kiefer am Wegesrand? War da was?
in die wonne
deiner gegenwart
eingehüllt
wie in einen
himmlischen
gottesmantel
Irena Stasch
Der Baum, bzw. die Bäume spielen in Rilkes Spätwerk immer wieder eine wichtige Rolle.
In dem nachgelassenen Text: „Erlebnis 1“ schildert Rilke, wie sich er bei einem Spaziergang im Garten von Schloß Duino an einen Baum anlehnte.
Rilke fühlte sich in den Baum „eingeruht“, zur Ruhe, zum Frieden gebracht und in den Armen des Baumes geborgen, wie im Mutterschoß. Es ist, als wäre er ins Paradies zurückgekehrt, aber der Baum lockt nicht mehr mit seiner Frucht, er spendet die Ruhe.
In der vierten Elegie spricht Rilke von einer geradezu gegensätzlichen Erfahrung:
Wir, d.h. wir Menschen, die ’nicht sehr verlässlich zu Hause sind in der gedeuteten Welt‘ sind nicht wie die Bäume, die ihre Zeit kennen. In Winter ruhen sie ‚winterlich‘, im Frühjahr feiern sie das Fest des neuen Lebens. Wir Menschen kommen immer zur falschen Zeit, meistens zu spät. Wir sind nicht wie die Zugvögel ‚verständigt‘. Die Zugvögel kennen und wissen die Zeit. Aber wir fallen ‚überholt und zu spät‘ ein auf teilnahmslosen Teichen.
Immer zur falschen Zeit, immer zu sä¤t, immer herausgefallen aus der Einheit.
Ach wären wir doch immer ‚eingeruht‘ in die Arme der Natur.
Wir gleichen einer verloren gegangenen Gedichtzeile,
die spürt, dass sie sich auf eine andere Zeile reimt
und diese finden muss,
um zur Erfüllung zu gelangen.
Diese Suche nach dem Unerreichten
ist der starke Impuls im Menschen,
der seine besten Schöpfungen hervortreibt.
Der Mensch ist sich der Trennung
an der Wurzel seines Wesens zutiefst bewusst.
Er sehnt sich danach, sie durch Vereinigung
zu überwinden, und in seinem Innersten weiß er,
dass es die Liebe ist, die das vollbringen kann.
Rabindranath Tagore (1861-1941)
Es ist das letzte Ziel des Daseins,
zu wissen, dass Schönheit Wahrheit
und Wahrheit Schönheit ist.
Wir müssen die ganze Welt
in Liebe erkennen,
denn die Liebe gebiert sie,
erhält sie
und nimmt sie auch wieder
in ihren Schoß auf.
Rabindranath Tagore (1861-1941)
Der Mensch ist aufgerufen, aus der Trennung heraus in die Einheit mit aller Dinge Wesen zurückzukehren!
Denn macht nicht erst das Sehen des Baums, das Sphären der Mitmenschen, das Hören der Temperatur … das echte, erfüllte Mensch-sein aus?
Wo können wir es besser lernen, als in der Versenkung im Dao, in der Verbindung mit Ki, als im Teeraum, wenn mein Geist in die Teeschale eintaucht.
Ich wachte auf. Alle meine Poren waren offen in die Unendlichkeit hinein. Was sollen da noch Worte?
Der Mensch ist erst dann wirklich Mensch, wenn er in der Zeitlosigkeit als dieses bestimmte Individuum in der Zeit in der Zeit existieren kann – wenn er die beiden Aspekte als EINS erlebt – wenn er in der gleichzeitigen Erfahrung von Welle und Meer existiert.
Willigis Jäger