Immer wenn wir nach Kyoto kommen, führt uns ein erster Spaziergang zum Kiyumizu-Dera, dem „Tempel der Quelle reinen Wassers“. Berühmt ist der Kiyumizu für seine große hölzerne Plattform, die weit über den steilen Berghang hängt. Es gibt das japanische Sprichwort „清水の舞台から飛び降りる kiyomizu no butai kara tobioriru“ – „die Terasse des Kiyumizu herunterspringen“ und das bedeutet, dass man endlich einen festen Entschluss gefasst hat.
In der Edozeit war es wohl Sitte, dass man bei Problemen von der Terasse aus in die Tiefe sprang. Wer den Sprung überlebte, dem gelang dann Alles. Weil unterhalb der Terasse hohe Bäume stehen, überlebten wohl 86 % den Sprung in den Abgrund.
Der Kiyumizu ist für mich so etwas wie der Inbergiff einer wichtigen Seite der japanischen Kultur, nämlich einer unglaublichen religiösen Toleranz.
Der Kiyumizu ist zwar eigentlich ein buddhistischer Tempel und die Hauptfigur ist eine Kannon, die allerdings nur alle 38 Jahre zu sehen ist, aber eigentlich ist er einer der belebtesten Plätze Kyôtos.
Der Tempel entstand wohl als ein Heiligtum um eine berühmte Quelle reinen Wassers, die immer noch mitten im Tempelgelände fließt. Damit ist die Wurzel im Shinto, der einheimischen Volksreligion Japans zu suchen.
Wer „tiefe Religiosität“ im Shinto sucht, wird vergebens suchen. Shinto ist eine vergnügte und lustige Sache. Zwar ist die gesamte Natur „heilig“, aber die Verehrung findet eher in wilden Festen, den Matsuri statt als in tiefen Frömmigkeit. Und so ist denn auch die Athmosphäre am Kiyumizu eher wie auf einem Volksfest. Entlang der Straße, die zum Temepl führt, gibt es viele bunte Geschäfte, die nicht nur den üblichen Schund anbieten. Überall kann man zuschauen, wie Kyohashi, die Süßigkeiten im Kyotostil hergestellt werden und die frisch zubereiteten Süßigkeiten probieren.
Einfach zum Reinbeissen appetitlich!
Überall sieht man fröhliche Menschen. Vor allem Schulklassen aus ganz Japan. Jeder Japaner muss wohl wenigstens einmal während seiner Schulzeit die alte Kaiserstadt besuchen und der Kiyumizu gehört nun mal zum Besuchsprogramm. Darum wimmelt es zu gewissen Zeiten von Schulkindern.
Natürlich gehört in Japan das Shasshin, das Photo als Erinnerung dazu. Kein Schulausflug ohne Shasshin!
Wer ein rechter Krieger für das Vaterland ist – so verstehen sich die Schüler in ihren Schuluniformen, die der preußischen Kadetten Uniform nachempfunden ist, der läßt sich auch gern mal mit „echten“ Samurai auf die Platte bannen.
Aber auch, wenn man nicht mit der Schulklasse unterwegs ist und gerade kein professioneller Photograph zur Stelle ist, wird photographiert, was auf die Festplatte geht.
Dass die alten Traditionen noch weitergepflegt werden, sieht man sogar an den Hunden, die aber in Japan echt „arme Schweine sind“, besonders, wenn sie als Ninja durch die Gegend ziehen müssen.
Die echten Traditionen werden allerdings auch noch gepflegt. So ist der Bereich um den Kiyomizu ein beliebter Ort für den Bettelgang, den die Mönchen als religiöse Übung absolvieren müssen. Und wie es sich gehört, sind es die Gaijin, die Ausländer, die diese Übungen hoch halten.
Man sieht immer wieder Mönche auf dem Bettelgang, aber am Kiyomizu habe ich – wenigsten nach meiner Erinnerung – noch niemals einen japanischen Mönche betteln gesehen, immer sind es die Ausländer, die geduldig hier stehen und ihrer Übung nachgehen.
So ist die bunte Mischung rund um den Kiyumizu ein Ausdruck der Lebensfreude und der Toleranz. Niemand stört sich daran, wenn Ausländer als Mönche ihren Bettelgang machen, niemand stört sich an Ninjahunden oder filmreifen Pseudosamurai.
Ja, es soll sogar Menschen geben, die am Kiyomizu ihren Gebeten nachgehen!