Lieber Herr Professor M. N.,
Danke für ihre mail. Tagsüber hatte ich chanoyu unterrichtet, dann habe ich ihre Mail gefunden. Gemeinsam mit meinen Schülern haben wir dann über Hölderlins Gedicht diskutiert, bevor wir zum Tagesabschluss in der Abenddämmerung draussen auf der Wiese, gegenüber der Kirche Chabako Tenmae gemacht und eine Schale Tee getrunken haben.
Vielen Dank für Ihren Hinweis auf das Gedicht „Frühling“. Ich hatte ihm bisher wenig Beachtung geschenkt.
Hölderlins späte Gedichte sind wie das Spiel auf der Hirtenflöte, rückwärts auf dem Ochsen reitend gespielt. Sie sind schlicht wie Kinderlieder aber sie enthalten die volle Weisheit eines Lebens.
Sie reden von einem Zustand nach der Befreiung und nach dem Erwachen, „wenn nicht der Gram an einer Seele naget“. Jede Enge ist verschwunden, der Himmel ist nicht mehr verschlossen und bleiern wie zu Beginn von „Gang aufs Land“, wo es die „bleierne Zeit“ ist:
Wie sich der Himmel wölbt und auseinanderdehnet,
So ist die Freude dann an Ebnen und im Freien.
Es ist als würde Bodhidharma von der Offenen Weite reden.
Das „Feld ist geräumiger und Wege sind weit hinaus, dass einer um sich schauet“.
Die Wege sind weit hinaus damit einer „um sich schauet“ und nicht in der Enge des gewohnten Ortes verharrt. Zwar ist am gewohnten Ort das „Heilige“, man sieht es aber erst, wenn man aus der Fremde zurückkehrt nach Hause. In „Heimkunft“ begrüßt der Dichter die Heimat, in die er zurückkehrt.
Alles scheinet vertraut, der vorübereilende Gruß auch scheint von Freunden, es scheint jegliche Miene verwand.
Das Scheinen ist vermutlich im doppelten Sinne gebraucht: es scheint nur so, ist aber ganz anders und es scheint, weil es leuchtet und strahlt. Das scheinende Vertraut-sein ist aber ein anderes, als zuvor, bevor der Dichter wieder heim kam. Vorher schien alles vertraut, weil es das Gewohnte war, aber es war nur das Gewöhnliche, das man nicht mehr wahr nimmt. Jetzt ist es das leuchtend Vertraute, das aufscheint als das, was Heimat gibt und birgt.
In seinem Brief an den Freund Böhlendorff hatte Hölderlin „nach manchen Erschütterungen und Rührungen der Seele“ geschrieben:
dass alle heiligen Orte der Erde zusammen sind um einen Ort, und das philosophische Licht um mein Fenster ist jetzt meine Freude;
Hölderlin ist jetzt an „seinem“ Ort angekommen. Aber dieser Ort ist nicht eng und bedrückend, er weitet sich derart, dass „alle heiligen Orte der Erde“ hier versammelt sind. Ein wenig erinnert mich das an das Erlebnis von Daitô Kokushi, nachdem er erwacht war und das Gedicht, das Daitô danach schrieb:
itsukai ûnkan o to kashi owari
nanbokutôsai katsuru tsûsu
sekisho chihô yû hinshû o botsu
kiyaku tô kiyakutei seifû
Ein einziges mal die Wolken-Sperre vollständig durchdringend hinübergegangen:
Süden Norden Osten Westen: lebendiger Weg weitet sich
abends am Ort, morgens spielend: Verschwinden von Gast und Gastgeber
„Fuß Kopf Fuß“ – von unten bis oben reiner Wind
Ich will damit nicht sagen, dass Hölderlin eine Art Zen-Meister war, aber seine Erfahrungen sind durchaus vergleichbar mit den Erfahrungen des Zen. Es gibt eben verschiedene Zen – Wege, nicht nur das Sa-Zen. Wir üben hier in unserem Yamazato den Cha-Zen und den Chiku-Zen der Komuso Shakuhachi. Vielleicht ist auch die Auseinandersetzung mit Hölderlins Dichtung ein neuer und moderner „Weg“?
Auch Hölderlins Idee von der „Heiligkeit“ des Alltäglichen hat Ähnlichkeit mit dem Zen. Meister Jôshu sagte auf die Frage nach dem Buddha:
Hast du Deine Reisschale schon gewaschen?
Im Gang auf Land versucht Hölderlin das gemeinsame Mahl als Erfahrung des „Heiligen“ zu beschreiben, aber dieses Mahl ist nicht mehr das Abendmahl des Christentums. Es ist das gemeinsame Speisen oben auf dem Berg, wo der verständige Wirt das Gasthaus gebaut hat, um die Gäste die Früchte des Landes kosten zu lassen. Auf dem Höhepunkt des Gedankens zerbricht das Gedicht. In der Handschrift erkennt man die Zeilen:
da, da
sie sinds, sie haben die Masken
Abgeworfen
jetzt, jetzt, jetzt
ruft
dass es helle werde,
weder höret noch sehen
Ein Strom
dass nicht zu Wasser die Freude
Werde, kommt ihr himmlischen Gratien
und der Nahmenstag der hohen,
der himmlischen Kinder sei dieser!
Es ist ein fast ekstatisches Rufen: „Da, da“ und „jetzt, jetzt“. Wer ist dort anwesend im Gasthaus, wer hat die Masken abgeworfen? Offenbar doch die Göttlichen, die jetzt die Masken abgeworfen haben und sich als das zu erkennen geben, was sie sind. Aber ein paar Zeilen später der Zweifel:
Doch was sollen Gotter im Gasthaus?
Das Gasthaus ist ein beinahe alltäglicher Ort. Nicht ganz alltäglich, denn dort versammelt man sich an den Feiertagen des Frühlings, aber es ist eben kein sakraler Ort der Feier des Gottes. Das was dort gefeiert wird, ist die Natur in ihrer Natürlichkeit. Was sollen Götter an diesem Ort?
Rikyu antwortete auf die Frage nach dem Sinn von Chanoyu:
Man bringt Wasser herbei, sammelt Brennholz, erhitzt das Wasser und bereitet Tee.“
Das ist Alles. Ganz einfache Dinge des alltäglichen Lebens, nichts „Heiliges“. Aber Zenmeister Dôgen schreibt über die Jinzû, die übernatürlichen Kräfte, sie sind „wie das Teetrinken und Essen im Haus des Buddha“ und er zitiert den chinesischen Laien Hô-on:
Wasser holen und Brennholz tragen,
welch übernatürliche Kraft
und welch wunderbares Wirken
Die eigentlich „übernatürlichen“ Kräfte des Buddhisten sind nicht anderes, als die aller alltäglichsten Handlungen.
Hölderlin versucht im „Gang aufs Land“ etwas Ungeheures: das Mahl ist die Feier des Lebens in seiner Natürlichkeit. Das Göttliche ist „nur noch“ Maske, die dem Menschen den Anblick der Natur selbst verwehrt. Jetzt kommt die Natur selbst zum Vorschein in natürlicher Alltäglichkeit des Tun’s.
Genau so sehe ich den tieferen Sinn des Teeweges. Für mich ist es keine japanische Folklore, es ist die Feier des Lebens in ganz alltäglichen Dingen: Wasser holen, Feuer entzünden, Tee schlagen und gemeinsam trinken. Trinken in Harmonie und stiller Freude. Welch „übernatürliche“ Kräfte.
Hölderlin hatte Erfahrungen gemacht, die er verzweifelt versucht, in Worte zu fassen, aber die Sprache versagt sich ihm. An den Rand der unvollendeten Verse im Gang aufs Land schreibt er quer zum Text:
Last der Freude
Singen wollt ich leichten Gesang, doch nimmer gelingt mirs,
Denn es machet mein Glück nimmer die Rede mir leicht.
Hölderlin wollte „leichten Gesang singen“, aber es gelingt nicht. Zu einfach und zu alltäglich ist es, was er sagen wollte. Wenn er Rikyû gekannt oder wenn er Kenntnis vom Zen gehabt hätte, würde er vielleicht geschrieben haben: „Wasser holen, Brennholz tragen“, aber im Abendland seiner Epoche fehlen die Worte für dieses Einfache. Zu sehr waren die Menschen auf „Höheres“ gerichtet, zu sehr ging ihr Streben nach dem Göttlichen. Ihr Bestreben ging immer überwärts, so dass sie ihre eigenen Fußspuren niemals erkennen konnten, die sie auf dem Boden des alltäglichen Lebens hinterließen. Der Ochsenhirte findet den Weg zu sich selbst auch erst, als er lernt, auf den Boden zu schauen, auf den er seine Füße setzt.
Niemals hätten die Zeitgenossen des Dichters diese einfachen Worte verstanden.
Nur die „braunen Frauen in den Gärten von Bordeaux gehen an Feiertagen auf „seidenem Boden“. Der Boden ist vielleicht deshalb „seiden“, weil die Frauen ihre Füße achtsamer auf die Erde setzen, auf der sie leben und sterben. Und nicht allzu sehr überwärts schauen? Ist dies deshalb, weil die „südlichen Menschen, in den Ruinen des antiken Geistes“ gelernt haben, achtsamer mit den Elementen des Himmels umzugehen als wir? In „Heimkunft“ setzt sich der Dichter mit ähnlichen Problemen auseinander:
Wenn wir segnen das Mahl, wen darf ich nennen wie bring ich den Dank?
Schweigen müssen wir oft; es fehlen die heiligen Namen, Herzen schlagen und doch bleibet die Rede zurück?
Dies ist wohl das Problem des Abendländischen. Wir sind abhängig von der gültigen Rede. In Japan weiss man um die Unsagbarkeit von Erfahrungen. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, Brücken zu schlagen zwischen beiden Welt. Muß das Abendland neue „unsagbare“ Erfahrungen gewinnen, und muss Japan lernen, Worte für das Unsagbare zu finden?
Wenn der Dichter nicht die rechten Worte finden kann, so ist das „die Last von Scheitern auf den Schultern“, die der Dichter zu tragen hat, wie er in „Mnemosyne“ schreibt.
Aber in Zukunft vielleicht führen über einen Bach wohlgebaute Stege, damit die Menschen hinübergehen und zurückkehren können, ohne der Gefahr des Scheiterns ausgesetzt zu sein.
Ja, die „wohlgebauten Stege“ sind von Menschen gebaut, so wie das Bleibende von den Dichtern gestiftet ist. Es sind die Menschen, die sich aufgemacht haben in der Gefahr wie die Söhne der Alpen, von denen es in Patmos heißt, dass sie „furchtlos gehn über den Abgrund weg auf leichtgebaueten Brücken“. Die Söhne der Alpen sind es gewohnt, sich in der Gefahr zu bewegen, deshalb genügen ihnen „leichtgebaute Brücken“, aber wir anderen brauchen „sichergebaute Steg“.
Vielleicht sind die Wege Japans auch solche Stege. Am Tee – Weg hat aber nicht nur Rikyû gebaut, viele Generationen von Teemeistern haben mitgebaut, damit wir heute diese Wege gehen können und eigene Erfahrungen sammeln, nämlich die Erfahrung des „Wasser Holens und Tee Schlagens“.
Insofern haben sie, wie die Dichter das Bleibende gestiftet. Dichter sind ja nicht nur diejenigen, die Verse schreiben: „dichterisch wohnet der Mensch auf Erden“. Dichterisch wohnet der Mensch, der aufschaut zum Himmel, Maß nimmt und sinnend an den Stegen baut.
Die Stege führen über Bäche, nicht über die großen Ströme, die Schicksalsströme der Nationen sind, wie der Rhein, der mehrfach gebrochen seine ursprüngliche Richtung nach Süden, nach Italien wohin die Sehnsucht der Deutschen geht, umkehrt und nach Norden fließt oder die Donau, die verkehrt herum zurück in den Ursprung fließt. Die Bäche fließen „wo bekannt blühende Wege mir sind“ und wo der Neckar durch das Heimatliche und Gewohnte fließt.
Aber heute neigen wir dazu, die Stege auszubauen zu gewaltigen Autobahnbrücken, auf denen der Verkehr strickt geregelt ist und jedweder Verstoß gegen die Regeln geahndet wird. Ein wenig habe ich das Gefühl, dass dies auch in der japanischen Wegen geschieht, wo die Iemotos strikt auf die Einhaltung der Verkehrsregeln und Gesetze achten. Aber es geht um die ganz einfachen und schlichten Dinge des alltäglichen Lebens.
Heute leben wir in einer Zeit des Brückenbaus. Wir können heute weitaus besser als früher den Dialog zwischen den Völkern und Kulturen führen. Ich sitze hier in meinem fränkischen Yamazato und kann über das Internet jederzeit auf die japanischen Klassiker zurückgreifen, ja ich finde sogar eine übersetzung von „Lieblicher Bläue“ ins Japanische.
Hölderlins Gedicht „Der Frühling“ spricht von einer Zukunft, „wenn die Stunden wieder tagen“, wenn es also die Zeit ist, in der das Licht wieder zunimmt nach der langen Nacht des Winters. Es ist nicht mehr Herr Hölderlin, der spricht, darum hat er sich auch geweigert, die Gedichte der späten Zeit mit seinem Namen zu kennzeichnen. Hat heute diese Zukunft begonnen?
Ich fürchte nein! Vielleicht wird es auch niemals eine reale politische Zukunft sein. Vielleicht kann es nur ein Zukunft in unseren Herzen sein. Und die kann jeden Augenblick ganz plötzlich Realität werden.
Drum, da gehäuft sind rings
Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten
Nah wohnen, ermattend auf
Getrenntesten Bergen,
So gib unschuldig Wasser,
O Fittiche gib uns, treuesten Sinns
Hinüberzugehn und wiederzukehren.
Mögen wir niemals ermatten auf den getrennten Gipfeln! Bauen wir an Stegen, die hinüber und zurück führen.
Sollte Sie Ihr Weg einmal nach Deutschland führen, so sind Sie herzlichst eingeladen, mit uns zusammen eine Schale Tee zu trinken.
Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen so viele unfertige Gedanken schreibe, aber in Deutschland sagen wir: wenn das Herz voll ist, geht der Mund über oder wie Hölderlin sagt:
Der Mensch, der oft sein Inneres gefraget,
Spricht von dem Leben dann, aus dem die Rede gehet
Herzlichst Ihr
G. S.
PS.: Grüssen Sie mir mein geliebtes Kyoto