In lieblicher Bläue blühet mit metallenem Dache der Kirchturm.
Hölderlin denkt in sinnlich erfassbaren Bildern, die unmittelbar zum Herzen sprechen. Aber diese Bilder sind so reich, dass man lange darüber nachsinnen kann. Je länger man nach – sinnt, desto reicher und inhaltsschwerer werden die Bilder.
Die Bilder erschließen sich umso mehr, je mehr ich sie von meiner eigenen Erfahrung und meinem eigenen Empfinden her verstehe.
Sind dann nicht die Bilder rein subjektiv? Ist nicht objektives Begriffsdenken weitaus genauer?
Schon ganz früh haben die drei Freunde Hegel, Schelling und Hölderlin einen „Entwurf“ für ihren künftigen philosophischen Lebensweg niedergeschrieben, in dem diese Problematik behandelt ist. Das Papier findet sich in der Handschrift Hegels in Hegels Papieren. Aber der leidenschaftliche Ton spricht eher dafür, dass Hegel eine „Rede“ Schellings mit geschrieben hat. Eine Fülle von Gedanken in diese Papier sind aber derart „poetisch“, dass sie nur von Hölderlin stammen können. Das Papier ist als „das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“ bekannt.
In dem Papier ist die Rede von Ideen zur Natur, zum „Menschenwerk“, zum Staat (von dem es „keine Idee gibt, weil er etwas Mechanisches ist“) und der Freiheit. Dann hebt der Sprecher – Schelling ? – zum Höhepunkt seines Gedenkens an:
Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischen Sinne genommen. Ich bin nun Überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist und daß Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind. Der Philosoph muß ebensoviel ästhetische Kraft besitzen als der Dichter. Die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsere Buchstabenphilosophen. Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie.
Die Idee der Schönheit vereinigt alle Ideen. Die Schönheit ist „ästhetisch“, das heißt wörtlich – sinnlich“. Im Altgriechischen bedeutet Aisthesis nichts anderes als die reine Sinnlichkeit. Der Philosoph muss also „sinnlich“ werden, seine Gedanken müssen so sein, dass sie sich nicht in der dünnen Luft des „Geistigen“ verflüchtigen.
Man kann in nichts geistreich sein, … ohne ästhetischen Sinn. Hier soll offenbar werden, woran es eigentlich den Menschen fehlt, die keine Ideen verstehen und treuherzig genug gestehen, daß ihnen alles dunkel ist, sobald es über Tabellen und Register hinausgeht.
Der Gegensatz zum Geist – reichen – wörtlich: reich an Geist – ist der Buchstabenphilosoph oder derjenige, der nur in Tabellen oder Registern denken kann, wie Schelling verächtlich sagt.
Dieses neue, sinnliche Denken in Schönheit soll „beflügelt sein, so wie Schelling auch der „langsamen, an Experimenten mühsam schreitenden Physik“ wieder Flügel geben möchte.
Dazu ist zuvor ein erzieherisches Werk nötig: die Menschen müssen wieder lernen, in Bildern zu denken. Derjenige, der in diesem Systementwurf die Aufgabe der Erziehung übernehmen muss ist der Dichter:
Die Poesie bekommt dadurch eine höhere Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit; denn es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben.
Die Poesie wird „Lehrerin der Menschheit“!?
Menschheit meint hier in Schellings Sprachgebrauch nicht die Menschen insgesamt, sondern die Menschlichkeit. Die Poesie wird zu der Lehrerin, die den Menschen hin zu mehr Menschheit führt, damit er wieder im echten Sinne ein Mensch sei. Nun, da seine Gedanken im Überschwang der Be-Geisterung fliegen, kann Schelling auch die Religion erneuern. Die neue Religion, die er fordert ist eine Religion der Sinnlichkeit. Gott und das Göttliche müssen für ihn sinnlich erfahrbar sein. Dann kann jeder Mensch Gott selbst erfahren und die Priester verlieren ihre Funktion. Im echten revolutionären Pathos heißt es:
Zu gleicher Zeit hören wir so oft, der große Haufen mßsse eine sinnliche Religion haben. Nicht nur der große Haufen, auch der Philosoph bedarf ihrer. Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst, dies ist’s, was wir bedürfen!
Monotheismus der Vernunft und des Herzens gegen Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst? Hölderlin spricht jedenfalls in seinen Gedichten von Gott und von den „Himmlischen“, also von vielen Göttern. Für ihn steht Christus gleichberechtigt neben Herakles oder Dionysos. Christus ist für ihn der letzte der antiken Götter. Nun gilt es, aus der heimatlichen Natur das Göttliche neu zu erfahren – sinnlich zu erfahren.
Innnen aus Verschiedenem entsteht ein ernster
Geist. So sehr einfältig aber die Bilder, so sehr heilig sind die, daß
man wirklich oft fürchtet, die zu beschreiben. Die Himmlischen aber,
die immer gut sind, alles zumal, wie Reiche, haben diese, Tugend und
Freude. Der Mensch darf das nachahmen. Darf, wenn lauter Mühe
das Leben, ein Mensch aufschauen und sagen: so will ich auch seyn?
Ja. So lange die Freundlichkeit noch am Herzen, die Reine, dauert,
misset nicht unglüklich der Mensch sich mit der Gottheit. Ist unbe-
kannt Gott? Ist er offenbar wie der Himmel? Dieses glaub‘ ich eher.
Des Menschen Maaß ist’s.
Gott ist offenbar wie der Himmel!?
Der Himmel zeigt sich in „lieblicher Bläue“ oder verdeckt mit „Gesangeswolken“.
Wechselt die Ansicht Gottes, so wie die Anblicke des Himmels wechseln in den Zeiten und Wettern? Die liebliche Bläue ist dann das „monotheistische“ des Himmels. Sie ist der offene, klare Himmel, der sich rein und unverhüllt zeigt. Aber er ist damit auch zugleich die reine lichte Leere, oder wie man im Buddhismus sagt, das Ku – die Leere des Himmels.
Der nächtliche Himmel dagegen ist nicht leer, gerade auch, wenn er rein und klar sich zeigt. Mit seinen Sternen und dem Gang des Mondes, des „Schattens der Erde“ gibt gerade er das Maß der Zeit.
In dem Systementwurf fährt Schelling mit einem neuen Gedanken fort:
Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die, soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist : wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden.
Ehe wir die Ideen ästhetisch, d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse; und umgekehrt, ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen.
Schelling führt den Gedanken nicht weiter aus. Was ist das „Mythologische“? Der Mythos fasst die Erfahrungen der Götter in Geschichten, die sinnlich erfassbar und nachvollziehbar sind. Die Erfahrung des Güttlichen wird nicht in abstrakte Gedanken oder Systeme gefasst. Aber die Mythologie, die Schelling meint, muss eine neue Mythologie werden. Die Zeit der alten Götter ist endgültig vorbei. Aber da beginnt ein nahezu unüberwindliches Problem. In „Heimkunft“ schreibt Hölderlin:
Wenn wir segnen das Mahl, wen darf ich nennen, und wenn wir
Ruhn vom Leben des Tags, saget, wie bring ich den Dank?
Nenn ich den Hohen dabei? ….
Schweigen müssen wir oft; es fehlen heilige Namen,
Herzen schlagen und doch bleibet die Rede zurück?
Die alten Namen tragen nicht mehr, aber neue Namen fehlen. Wie soll man dann den Dank sprechen?
Aber vielleicht genügt eine einfache Geste. In der Teezeremonie verbeugen wird uns mit der Teeschale in der Hand als Zeichen des Dankes, bevor wir den Tee trinken. Dank für wen? Für Gott, für das Wetter, für die Sonne, die den Tee reifen ließ? Da fehlen die Worte. Aber die einfache Geste geht tief zu Herzen, wenn sie mit echter Aufrichtigkeit ausgeführt und nicht nur ein einfaches, unverstandenes Ritual ist. Hölderlin gibt einen Lösungsansatz, der in eine ähnliche Richtung geht:
Aber ein Seitenspiel leihet jeder Stunde die Töne,
Und erfreuet vielleicht Himmlische, welche sich nahn.
Für den alten Meister Kong, den wir meistens als Konfutius kennen, war es gleichgültig, ob es die Göttlichen gibt oder nicht, welche Namen sie haben oder wie sie in ihren eigentlichen Wesen sind. Wichtig war ihm, dass die Menschen die Göttlichen in Ritualen, Musik und Tanz verehren. Diese Verehrung stiftet Rituale und Bräuche, die Rituale und Bräuche stiften Gemeinschaft unter den Menschen. Damit stiften die Göttlichen, wer oder was auch immer sie seine, gleichgültig ob sie existieren oder nicht, Gemeinschaft un Harmonie unter den Menschen.
Hölderlin, der Poet, dessen Poesie Lehrerin der Menschheit sein soll, sieht die Probleme der Namenlosigkeit und er sucht nach neuen Ansätzen. Als Poet hat er eine herausragende Stellung:
Sorgen wie diese, muß, gern oder nicht, in der Seele
Tragen ein Sänger und oft, aber die anderen nicht.
Der „Sänger“ muss Sorge tragen, dass sein Gesang rein ist und nicht durch persönliches gefärbt. Wie oft sind Revolutionen getragen von persönlichem Hass oder Leiden, das auf die Allgemeinheit übertragen wird. Der Sänger muss rein sein, aber er hat nicht die Aufgabe des Priesters oder Weisen, der das Volk von oben her belehrt. Er fasst seine Erfahrung in reine Bilder und gibt sie an die Menschen weiter, die so ebenfalls sinnlich die Erfahrung des Göttlichen nachvollziehen können. Der Systementwurf endet:
Dann herrscht ewige Einheit unter uns. Nimmer der verachtende Blick, nimmer das blinde Zittern des Volks vor seinen Weisen und Priestern. Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen. Keine Kraft wird mehr unterdrückt werden. Dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister! Ein höherer Geist, vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte, größte Werk der Menschheit sein.