Im Monatsbrief vom April habe ich über die „reissende Zeit“ und die Veränderungen geschrieben.
Die „reissende Zeit“ ist ein Wort Hölderlins. Im Hymnos an den Archipelagos, das Meer der Griechen spricht Hölderlin das Griechenmeer an:
Töne mir in die Seele noch oft, daß über den Wassern
Furchtlosrege der Geist, dem Schwimmer gleich, in der Starken
Frischem Glücke sich üb` und die Göttersprache das Wechseln
Und das Werden versteh`
Das Wechseln und das Werden in der Zeit reisst alles weg und bringt Neues hervor, ob wir es wollen oder nicht.
Der japanische Zen Meister und Philosoph Zen Meister Dōgen schreibt:
Da der Buddhaweg ursprünglich über den Unterschied von Fülle und Kargheit hinausgeht, gibt es Leben, Geburt und Entstehen und gibt es Sterben und Vergehen, gibt es Erwachen und Irren, gibt es leidende Wesen und Buddhas. Die Blütenblätter fallen nur in unseren Neigungen und das Gras wuchert nur in unserem Ärger!“
Gut, wenn wir uns ärgern, wenn die Blütenblätter fallen oder das Gras wuchert, sind wir selber schuld. Aber manchmal sind die Veränderungen schon etwas heftiger und die Zeit ist eben doch reissend, so dass „die Not und das Irrsal unter den Menschen“ zu gross wird.
Wenn die reißende Zeit mir
Zu gewaltig das Haupt ergreift und die Not und das Irrsal
Unter Sterblichen mir mein sterblich Leben erschüttert,
Laß der Stille mich dann in deiner Tiefe gedenken.
Die Stille ist die Stille in der Tiefe des Griechenmeeres. Oben toben die Stürme und reissen die Wellen alles fort, aber unten in der Tiefe ist die unerschütterliche Stille. Zwar leben wir Menschen nicht in dieser Stille, aber wir können ihrer „gedenken“ und ein wenig gelassener werden. Ein wenig stürmisch und reissend war die Zeit hier im Myoshinan schon, darum galt es, der Stille zu gedenken. Darum haben wir draussen auf der Terrasse einen Meditationssitz gebaut.
Aber Stille und Meditation in Zeiten des stürmischen Wechsels? Muss man da nicht handeln anstatt still rum zu sitzen?
In seinem sogenannten Brief über den Humanismus schreibt Heidegger:
Wir bedenken das Wesen des Handeln noch lange nicht entschieden genug. Man kennt das Handeln nur als das Bewirken einer Wirkung. Deren Wirklichkeit wird geschätzt nach ihrem Nutzen.
Aber das Wesen des Handeln ist das Vollbringen. Vollbringen heißt: etwas in die Fülle seines Wesens entfalten“
Das alltägliche Handeln ist oft ein blindes Rasen und bewirken Wollen, ein in den Griff bekommen Wollen. Über dieses blinde und wütige Machen schreibt schon Hölderlin im Archipelagos:
Aber weh! es wandelt in Nacht, es wohnt, wie im Orkus,
Ohne Göttliches unser Geschlecht. Ans eigene Treiben
Sind sie geschmiedet allein und sich in der tosenden Werkstatt
Höret jeglicher nur und viel arbeiten die Wilden
Mit gewaltigem Arm, rastlos, doch immer und immer
Unfruchtbar, wie die Furien, bleibt die Mühe der Armen.
Ans eigene Treiben sind sie geschmiedet, das heißt unfrei und in Ketten gebunden. Je hektischer und heftiger sie das eigene Treiben betreiben, desto unfreier und gefesselter an ihr Treiben sind sie. Das eigene Treiben ist ohne das Licht der Einsicht, es ist wie das Wandeln in der Nacht oder im Abgrund des Orkus, der dunkeln Unterwelt. Ans eigene Treiben geschmiedet sind sie „allein“, das heißt nicht nur allein an das Treiben gefesselt, sondern im blinden Treiben ist zugleich jeder allein und für sich. „Und SICH“ höret jeglicher nur, die Wilden, die reglos ihren Arm bewegen, aber stets fruchtlos bleiben. Erst der Schritt zurück und die Besinnung auf die Stille lässt uns wieder in die Harmonie mit dem Ganzen einkehren. Darum ist es gerade in Zeiten des heftigen Wechsels wichtig, den Schritt zurück ins Nicht – Tun und in die Stille zu machen.
Unser Meditationssitz, der nun auch auch allen Gästen des Myoshinan zur Verfügung steht, ist geschützt vor den heftigen Winden, die vom Norden her von der Hochebene der fränkischen Alp wehen. Tagsüber heizt die Sonne die Hausmauer auf und nachts kann man geschützt in der Wärme der Mauern sitzen und der Stille lauschen.Gott sei Dank liegt das Myoshinan weitab vom Verkehrslärm und anderen Lämrquellen. Nur hin und wieder hört man ein Auto oder den Nachbarn, der das Heu einfährt.
Vom Sitz aus hat man einen wunderbaren Blick in die Landschaft und auf die Kirche mit Kirchhof.
Neben dem Sitz steht der Zitronenbusch mit herrlich duftenden Blüten.
Abends, wenn die Welt still wird, beginnen die Vögel zu singen. Sie werden immer lauter – oder scheint das nur so, weil die Welt stiller wird? Die Zitronenblüten duften und dann rauscht der Bach. Seltsamerweise ist er tagsüber kaum zu hören Oder ist es auch, weil die Welt stiller wird? Der Bach murmelt immer lauter und schließlich verstummen auch die Vögel. Nur noch – STILLE!
Stilll!
Ward nicht die Welt soeben vollkommen?
Die Wiesen und der Zitronenbaum duften.
Die Glocken riefen zum Abendgebet,
die Vögel singen sich in den Schlaf.
Der Bach murmelt sein ewiges Lied – wie Sarasvati:
OM MANI PADME HUM.
Der Himmel ist weit und leer.
Das Licht sinkt hinunter.
Still!
Soben ward die Welt vollkommen!