In lieblicher Bläue – Reflektion und Innigkeit

Das Gedicht „In lieblicher Bläue“ beginnt im naiven Tonfall und endet mit dem tragisch leidenden Oidipus, der ein Fremdling in Griechenland ist.
Das Naive ist wie die Schilderung eines Paradieses:

In lieblicher Bläue blühet mit metallenem Dache der Kirchturm.
Den umschwebet Geschrei der Schwalben, den umgibt die rührendste Bläue.
Die Sonne gehet hoch darüber und färbet das Blech, im Winde aber oben stille krähet die Fahne.

Das metallene Dach des Kirchturms blüht? Im mittleren Teil des Gedichtes heißt es:
Auch eine Blume ist schön, weil sie blühet unter der Sonne. Das metallene Dach des Kirchturms blüht, weil die Sonne es „färbt“. Das Licht der Sonne, die hoch darüber geht, färbt das Dach, weil das Dach das Licht der Sonne reflektiert. Von der Reflektion ist mehrfach im Gedicht die Rede:

Wenn einer in den Spiegel siehet, ein Mann, und siehet darin sein Bild, wie abgemalt; es gleicht dem Manne. Augen hat des Menschen Bild, Licht hingegen der Mond.

Die Reflektion ist die Spiegelung. Der Kirchturm mit seinem metallenen Dach spiegelt das Licht der Sonne, so wie auch der Mond das Sonnenlicht spiegelt. Das Licht ist die Vermittlung zwischen Himmel und Erde. In einem Brief an Leo von Seckendorf schreibt Hölderlin über ein demnächst erscheinendes Buch mit „pittoresken Ansichten des Rheins“. Hölderlin ist „begierig“, wie sie ausfallen werden, ob sie „rein und einfach aus der Natur gehoben sind“ und ob

„Die Erde sich in gutem Gleichgewicht gegen den Himmel verhält, so daß auch das Licht, welches dieses Gleichgewicht in einem besonderen Verhältnis bezeichnet, nicht schief und reizend täuschend sein muß“

Wenn das Licht „reizend“ ist, so ist es aufreizend und erregend. Es ist interessant und reizend gestaltet, damit das Interesse des Betrachters geweckt werde. Dann ist aber die Ansicht nicht rein aus der Natur gehoben, sondernd reizend täuschend – es gibt anderes vor, als in Wirklichkeit da ist. Die Reflektion ist dann nicht rein, sondern durch besondere Effekte „interessanter“ , reizend und eben auch täuschend.
Der Mensch ist in ganz besonderer Weise das Wesen, das reflektiert. Wir schauen ständig in den Spiegel im Versuch, uns selbst zu erkennen. Aber wir sehen immer nur das Bild. Wird die Reflektion „rein und aus der Natur gehoben“, so zeigt sich das Spiegelbild rein und einfach. Aber wie oft verschauen wir uns, wenn wir uns anschauen. So geht es auch Oidipus, der „ein Auge zuviel vielleicht“ hat.

Der Kirchturm mit dem metallenen Dache blüht in lieblicher Bläue, weil er rein und unverfälscht von der rührendsten Bläue des Himmels gefärbt ist. Damit ist die Erde im „guten Gleichgewicht“ mit dem Himmel. Beide brauchen einander – die Sonne damit sie sich im Dach des Kirchturms spiegeln kann, der Kirchturm, der mit seinem Dach dem Himmel entgegenstrabt bracuht den Himmel, damit er „blühen“ kann. Aber keiner von beiden hat das Übergewicht gegenüber dem Anderen, keiner überwindet das Andere, um es ganz und gar in sich einzuverwandeln.

Der Kirchturm strebt mit seinem Dach gegen den Himmel. Er ist fast wie der Mensch, der aufschaut und sagt: „So will ich auch sein!“ Aber der Kirchturm ist ohne Eingennutz, ganz im Gegensatz zum Menschen, dem die „Freundlichkeit, die Reine am Herzen“ abgeht. So sehr der Kirchturm nach oben streben mag, so sehr ruht er doch auf der Erde:

Wenn einer unter der Glocke dann herabgeht, jene Treppen, ein stilles Leben ist es, weil, wenn abgesondert so sehr die Gestalt ist, die Bildsamkeit dann herauskommt des Menschen.

Der Mensch, der dieses stille Leben „unter den Glocken“ führt ist bildsam. Er ist gebildet nach dem Bilde, dass er schaut, wenn er aufschaut zum Himmel und sagt: „So will ich auch sein“ und er ist „ein Bild der Gottheit“. Aber wie sieht das Bilde der Gottheit aus? Hölderlin sagt:

Doch reiner ist nicht der Schatten der Nacht mit den Sternen, wenn ich so sagen könnte, als der Mensch, der heißet ein Bild der Gottheit.

Der Schatten der Nacht? Das Bild des Gedichtanfangs mit dem im Sonnenlicht blühenden Dach des Kirchturms hat sich ins Dunkle gewandelt. Was ist der Schatten der Nacht? Der Schatten, den die Dinge im Dunkel der Nacht werfen oder der Schatten, den die Nacht selbst wirft? Der Schatten der Nacht ist das Dunkle im Dunklen, das Nichts!
Der letzte Satz des Gedichtes lautet:

Leben ist Tod und Tod ist auch ein Leben

Leben und Tod sind zwar Gegensätze, aber sie gehören zusammen. Leben ist Tod meint, dass alles Lebende stets und jeden Augenblick auch stirbt. Das Leben spiegelt den Tod, der Tod spiegelt das Leben.
In den „Anmerkungen zur Antigonä“ schreibt Hölderlin einen schwierigen Satz:

Die tragische Darstellung beruht … darauf, daß der unmittelbare Gott, ganz Eines mit dem Menschen … und der Gott in der Gestalt des Todes gegenwärtig ist.

Der „unmittelbare Gott“ ist nicht der Gott, der durch Vermittlung erfahren wird, also etwa durch den Verstand erfaßt, reflektiert und verstanden und so erfahren wird als das ganz Andere. Der unmittelbare Gott wird erfahren in der „unendlichen Begeisterung“. In der Be-Geisterung wird der Mensch vom Geist durchdrungen, er wird be-geistert.
Das Unendliche ist in der Hölderlinschen Sprache dasjenige, bei dem sich die beiden Enden in der Reflektion derart spiegeln, daß Jeder sich vollkommen im Anderen spiegelt und beide Enden sich derart durch die Spiegelung verändern, daß sie in der Spiegeling nicht mehr das Selbe sind wie vorher. Der Himmel spiegelt sich im Dach des Kirchturms, der Kirchturm spiegelt sich in der lieblichen Bläue. Der Himmel wird erst als Himmel erfahren, indem er sich im Turm spiegelt, der Turm ist erst der Turm, wenn er mit seinem Dach blüht. So heben sich die beiden Enden ineinander auf, sie heben sich auf, indem sie nicht mehr so sind wie vorher und sie heben sich auf, indem sie jetzt aufgehoben sind zu einem höheren Sein. Sie heben sich auch auf, indem sie enander bewahren, aber nicht mehr im Sinne des eigensinnigen Bestehens auf das Eigene. Sie haben, würde man im Zen sagen, ihr Selbst verloren.

Der Kirchturm blüht mit dem metallenen Dach. Das Metall weist ebenso wie der Hahn, der oben auf dem Turm kräht auf das kriegerische, das Revolutionäre. Der Hahn kräht und zeigt mit seinem Krähen den neuen Tag an, den Tag der Revolution und der kriegerischen Erneuerung. Das Metal ist das Metall der Waffen.

Aber der Kirchturm hat sich ebenso wie die Wetterfahne verwandelt. er klirrt nicht mehr im metallischen Galnz der Waffen, er blüht. Auch der Hahn, die Wetterfahne ist gestillt:

„im Winde aber droben stille krähet die Fahne“.

Der Wind ist es, der die Fahne zum krähen bringt. Es ist der Geist, der weht. In Brot und Wein heißt es:

Jetzt auch kommet ein Wehn und regt die Gipfel des Hains auf.

Das Wehn ist der Othem Gottes, das im heiligen Hain weht und die Gipfel „aufregt“.
Sie sind aufgeregt, weil sie das Kommen des Neuen in der Nacht ahnen. Aber in der „lieblichen Bläue“ ist die Aufregung ganz zu Anfang bereits gestillt, ins Stille gesammelt und eingeruht. Der Gegensatz im Waffengang ist aufgehoben, gestillt ins Stille des Blühens.

In den „Anmerkungen zur Antigonä“ führt Hölderlin fort:

„die unendliche Begeisterung (ist) unendlich, das heißt in Gegensätzen, im Bewußtsein, welches das Bewußtsein aufhebt, heilig sich scheidend, sich faßt“

Die Gegensätze sind im Bewußtsein. Sie sind notwendig, damit sich das Gegensätzliche jeweils erkennt. Aber die Gegensätze werden in der unendlichen Begeisterung im Bewußtsein aufgehoben. Das Bewußtsein muß trennen in die Gegensätze, damit Erkenntnis möglich ist, es neigt aber zugleich „zur Innigkeit“, zur Aufhebung der Gegensätze.

Dennoch sind Himmel und Erde noch in ihrer Eigenheit da, aber so, daß sie nur gemeinsam das sind, was sie sind. Sie sid „heilig sich scheidend“. Das Scheidende ist nicht das Trennende, sondern es ist Heilig geschieden, es ist heil geworden, geheilt ins Innige im Gegensatz zum Zustand der vollkommenen Trennung.

Oder: Gott ist Mensch geworden – nein: Mensch ist Gott geworden

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