So geht es, wenn man anfängt, sich sehr intensiv mit einer Sache zu beschäftigen: man steigt immer tiefer in die Materie ein. Das gilt ganz besonders, man wen sich mit bildhaften Denken befasst. Die Bilder haben die Eigenheit, immer mehr sich miteinander zu verbinden und neue Muster im Gehirn zu bilden.
Bisher habe ich mich ’nur‘ mit Hölderlins Gedicht ‚Hälfte des Lebens‘ befasst. Aber nun untersuche ich die Veröffentlichungsgeschichte. 1803 bittet der Frankfurter Verleger Wilmans um einige Gedichte zu Liebe und Freundschaft, wohl auch um ‚Nachtgesänge‘.
Nachtgesänge waren damals die ganz große Mode. Der englische Pastor Edward Young’s ‚Klagen oder Nachtgedanken über Leben, Tod und Unsterblichkeit in neun Nächten‘. Sein Buch war in ganz Europa ein Bestseller. Jeder, der auf sich hielt, hatte es gelesen. Aber heute liest niemand mehr diese Nachtgedanken. Das Werk ist heute nur noch digitalisiert zu finden unter Goethe schrieb einen Nachtgesang und 1800 erschien von Novalis die Hymne auf die Nacht. Hölderlin selbst hat eine große Hymne auf die Nacht im Gesang ‚Brot und Wein‘ geschrieben. Sogar Hegel versucht sich als ‚Lyriker‘ mit einem Text über die Nacht:
»Der Mensch ist diese Nacht, diß leere Nichts, das alles in ihrer Einfachheit enthält – ein Reichtum unendlich vieler Vorstellungen, Bilder, deren keines ihm gerade einfällt -, oder die nicht als gegenwärtige sind. Diß die Nacht, das Innre der Natur, das hier existirt – reines Selbst, – in phantasmagorischen Vorstellungen ist es rings um Nacht, hier schießt dann ein blutiger Kopf, – dort eine andere weiße Gestalt plötzlich hervor, und verschwindet ebenso. Diese Nacht erblickt man wenn man dem Menschen ins Auge blickt – in eine Nacht hinein, die furchtbar wird, – es hängt die Nacht der Welt hier einem entgegen.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Naturphilosophie und Philosophie des Geistes.
Auch in der Musik wurden Nocturnes modern. Einer der ersten Komponisten, der Nocturnes schrieb, war der Ire John Field, der wunderschöne Musik für das Klavier geschrieben hat.
Die Nachtgedanken von Edward Young waren auf neun Nächte verteilt. Hölderlin hat neun Gedichte geschrieben, die er Nachtgesänge nannte. Die ersten sechs sind Oden im klassischen griechischen Stil. Das erste Gedicht in scheinbar völlig freiem Rhythmus ist:’Hälfte des Lebens‘.
Hölderlin beginnt sich hier, von der Diktatur des antiken Vorbildes zu lösen. Und ‚Hälfte des Leben‘ ist KEIN Liebensgedicht, wie immer behauptet wird.
Übrigens sind Liebeslieder immer müder Flug, denn so weit sind wir noch immer, trotz der Verschiedenheit der Stoffe; ein anderes ist das hohe und reine Frohlocken vaterländischer Gesänge.
Hölderlin an den Verleger Wilmans
Es ist der Übergang in eine vollkommene und scheinbar leichte kleine Form. Vermutlich wären nun von Hölderlin Gedichte gekommen, die wie im Zen rückwärts auf dem Ochsen reitend zu singen wären. Aber was kam dann?
Sinclair stürzt in eine unglückselige homoerotische Affaire, gerät in einen Finanzskandal und wird wegen republikanischer Umtriebe angezeigt. Und Hölderlin gleich mit. Um Hölderlin zu schützen, schreibt er an das Tribunal, dass sein Freund verrückt ist. Immerhin stand damals auf das ‚Verbrechen der republikanischen Gesinnung‘ für Bürgerliche der Tod auf dem Schafott. Dann doch besser in die Autenriethsche Klinik.
Nach der ‚Behandlung‘ durch den Herrn Dr. Autenrieth mit der autenriethschen Maske.
Es gab aber im Klinikum die Autenriethsche Maske, vom Leiter des Instituts gegen das Schreien seiner Patienten erfunden. Sie bestand aus Schuhsohlenleder und umfaßte unten mit einer Art Boden das Kinn. Dem Mund gegenüber befand sich auf der inneren Seite ein weich ausgepolsterter Wulst von feinem Leder. Je eine Öffnung war für Nase und beide Augen bestimmt. Mit zwei Riemen, die über und unter den Ohren von vorn nach hinten liefen, wurde die Maske am Hinterkopf befestigt, während ein dritter breiter Riemen, durch lederne Bügel an den Seiten der Maske gehalten, unten den Boden der Mundhöhle quer faßte und oben auf dem Scheitel zusammengeschnallt wurde. Dadurch war das zu weite Öffnen des Mundes verhindert. Die Lippen drückte der Lederwulst von vorn gegeneinander. Damit der Kranke die Maske nicht herunterreißen konnte, wurden ihm die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. In dieser Zwangslage ließ man die Patienten manchmal für Stunden, und nach den Versicherungen Autenrieths, schrien sie später nicht mehr, selbst wenn man ihnen die Maske abgenommen hatte.
(Gerhard Wolf: Der arme Hölderlin. In: Christa Wolf, Gerhard Wolf: Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht: Projektionsraum Romantik. Berlin: Insel 2008, S. 17.)
Wer nach einer solchen Behandlung noch schreit, möge sich bitte melden!
Hölderlin hat jedenfalls nicht mehr geschrien.
Aber gedichtet.
Der Schreinermeister Zimmern nahm ihm waschkörbeweise beschriebene Papiere weg und sorgte dafür, das der ‚Wahnsinnige‘ weder Papier noch Tinte in die Finger bekam. Danach dann war Hölderlin still.