Hier ein kleiner Text aus dem Buch über japanische Legenden, das gerade hier entsteht:
Mukashi mukashi: – einmal vor langer langer Zeit waren ein alter Mann und eine alte Frau. Die waren bitterarm und lebten in den Bergwäldern in einer halb zerfallenen Hütte. Das Stroh auf dem Dach war schon fast ganz verwittert, aber sie hatten kein Geld, um neues Stroh zu kaufen.
Eines Nachts regnete es ganz furchtbar. Niemand in unserm Land kann sich vorstellen, wie heftig der Regen in Japan niederprasseln kann. Kein Wunder also, dass die beiden Alten bei einem derartigen Regen so recht große Angst um ihr Dach hatten. Besorgt schaute der alte Mann hoch zum Dach und sagt zu der alten Frau: »Es regnet so schrecklich in dieser Nacht, dass ich fürchte, unser Dach wird nicht länger halten. Nicht einmal vor dem Tiger habe ich so viel Angst wie vor dem Mori!« Mori bedeutet in der japanischen Sprache ein Loch oder eine undichte Stelle.
Zufällig schlich gerade ein Tiger um das Haus. Als der hörte, dass der alte Mann den Mori mehr fürchtete, als ihn den Tiger, dachte er, das muss ein gar fürchterlicher und starker Mori sein, dass der Alte vor dem mehr Angst hat, als vor mir! Mori kann nämlich in Japan auch ein Wald oder ein Familienname sein. Und so dachte der Tiger, der Herr Mori muss gar furchtbar stark sein.
Zur gleichen Zeit saß ein Räuber auf dem Dach, der noch ärmer war als die alten Leute und er versuchte, durch die Lücke im Dach auszuspähen, was er denn stehlen könnte, als er die Worte des alten Mannes hörte. Wie der Tiger dachte er, dass Mori vielleicht der Steuereintreiber oder der Polizist aus der Stadt sein könnte, und erschrocken drehte er sich zur Flucht. Da sah er unten am Haus den Schatten eines Pferdes und sprang ihm auf den Rücken. Aber er hatte den Tiger in der Dunkelheit für ein Pferd gehalten.
Als der Dieb mit einem Krach auf dem Rücken des Tigers landete, dachte der vor Schreck: »Jetzt hat mich der Mori am Nacken!« Er rannte, was er konnte, und schüttelte schließlich seinen Reiter ab. Der Räuber aber merkte, dass er einem Tiger auf den Rücken gesprungen war, und als der ihn abgeschüttelt hatte, versteckte er sich voller Furcht in einem tiefen Erdloch, damit ihn der Tiger nicht angreifen konnte.
Der Tiger aber rannte im Wald umher und berichtete allen Tieren, dass ihm der fürchterliche Mori in den Nacken gesprungen war. Der Affe, neugierig wie immer, rannte sofort los, weil er unbedingt den schrecklichen Mori sehen wollte. Aber der saß offenbar in dem tiefen Erdloch. Der Affe wäre kein Affe gewesen, wenn ihn nicht seine Neugier geplagt hätte. Also hängte er seinen langen Schwanz in das tiefe Erdloch.
Der Räuber in dem Loch dachte, dass nun sein letztes Stündlein geschlagen hätte, weil ihn der Tiger mit seinem Schwanz aus dem Loch ziehen und sicherlich auffressen würde. Voller Angst und mit letzter Kraft biss er dem vermeintlichen Tiger den Schwanz ab.
Der Affe aber rannte kreischend davon. Seit jener Zeit haben die japanischen Affen nur noch einen kurzen Stummelschwanz.
Und die alten Leute haben immer noch Angst vor einem Loch im Dach, obwohl es schon längst aufgehört hat zu regnen, der Tiger vor dem Mori,der stärker ist als er, der Räuber vor dem Tiger und der Affe vor dem Räuber. So geht es, wenn man sich in seiner Vorstellung fürchterliche Dinge einbildet, statt einmal in Ruhe zu überlegen, was denn nun wirklich sein kann.
Warum sollten der Tiger, der Räuber, der Affe und die alten Leute Angst vor einem Loch im Dache haben?
Oder haben wir etwa alle ein Loch im Dach?
Spätestens zum Japanfest im Mai in Eschenau soll das Buch fertig werden. So wie es jetzt aussieht, wird es viele Volkslegenden und literarische Überlieferungen, z.B. Nacherzählungen von im Westen weitgehend unbekannte Noh – Theaterstücken enthalten. Das Buch wird etwa 200 Seiten habe und ist reich illustriert.
Voraussichtlich gibt es eine Luxusausgabe mit farbigen Bildern und eine kostengünstige Paperback-Ausgabe mit schwarz weiß Abbildungen.