Derzeit lesen wir hier im Myoshinan das Yogasutra des Patanjali. Das ist ein wunderbares Stück indischer Philosophie.
Das Yogasutra des Patanjali beginnt mit folgenden Versen:
प्रथमः समाधिपादः
2. योगश्चित्तवृत्तिनिरोधः
3 .तदा दृष्टुः स्वरूपेऽवस्थानम्
4. वृत्तिसारूप्यमितरत्र
5. वृत्तयः पञ्चतय्यः क्लिष्टाक्लिष्टा2.yogash citta- vrtti- nirodhah
3.tadâ drashtu svarûpe‘vasthânam
4.vrtti- sârûpyam itaratra
5. vrttayah pañcatayyah klishtâ aklishtâh2. Yoga ist die Stillung der wählenden Bewegungen des Bewußtseins.
3. Dann sieht der Seher sich selbst (in seiner reinen Form)
4. In allen anderen Zuständen ist er bedingt (getrieben) durch die wählenden Bewegungen des Bewußtseins
5. Diese Regungen sind fünffach und entweder leid-frei oder leidvoll.
Yoga ist also nicht die Form der Körperverrenkungen, wie sie in den Volkshochschulen gelehrt wird. Jeder Übungsweg, der die unruhigen Bewegungen des leidvoll – wählenden Bewußtseins stillt, ist nach dieser Bestimmung eine Form des Yoga. Auf einer akademischen indischen Website habe ich 356 unterschiedliche Formen von Yoga in den alten Sanscrit Texten gefunden. Man kann mit Recht sagen, dass auch die Zenmeditation eine Form des Yoga ist, bei der als einziges Asanam – Yogaposition – der Lotossitz geübt wird. Aber auch der Teeweg hat viele Elemente, die ihn als eine Form des Yoga kennzeichnen.
Yoga ist die Stillung der Bewegungen des Bewusstseins.
Citta ist das Bewußtsein. Das Wort ist abgeleitet von cit – ’sehen, beobachten, erkennen‘. citta ist das in der Vergangenheit Gesehene, das aber unser Verhalten jetzt im Augenblick bestimmt. Citta kann also als „Bewusstsein“ übersetzt werden. Bewusstsein ist aber nicht nur der Inhalt unserer Gedanken, es bestimmt auch unser Fühlen und unser körperliches Befinden. Deshalb heißt es, dass die Regungen des Bewußtseins „leidvoll oder leid-frei sein können. Das Bewußtsein also ist es, was das Leiden erzeugt.
In den Upanishaden wird das Bewusstsein mit einem Vogel verglichen, der mit einem elastischen Band an einem Pfeiler befestigt ist. Neugierig fliegt er hinaus, mal hierhin, mal dorthin.
Wäre der Vogel nicht festgebunden, wir würden das Bewusstsein von uns selbst verlieren, weil wir immer hinaus gerissen werden zu den Dingen draußen. Aber je neugieriger der Vogel nach außen fliegt, desto stärker wird er zurückgerissen und das erzeugt Leiden. Weil er aber nirgendwo einen Halt findet, muss er immer wieder zur „Bindestelle“ zurück. Diese Bindestelle ist der Atem.
Die Bewegungen (vŗtti) des Bewusstseins ist abgeleitet von der Wurzel vŗt, wählen, vorziehen.
Ständig dringen Eindrücke auf uns ein, und unser Bewusstsein richtet sich auswählend auf eine besondere Sache. Aber es gibt ja so vieles zu sehen und zu bemerken. Alles ist interessant. Das Inter-esse ist da draußen bei den Dingen, die nicht nur wah-genommen, sondern auch besorgt sein wollen. Immer müssen wir so viel besorgen, dass wir vor lauter Sorge niemals zur Ruhe kommen. Also wird das Bewusstsein ständig in einer auswählenden Bewegung hin und her gerissen und kommt nie zur Ruhe.
Nicht nur das Bewusstsein ist hin und her gerissen, wir selbst sind so hin und her gerissen, aber zugleich sehnen wir uns nach der Stille, nach dem In-Uns-Selbst-Ruhen. Das gelingt aber nur, wenn das ständige Wählen des Bewusstseins gestillt wird. Erst dann sehen wir uns selbst so wie wir sind. In allen anderen Zuständen ist das Leiden des Auswählens und des Hin- und Her – gerissen Seins.
Die Bewegungen des Bewusstseins sind die citta vritti, die wählenden Bewegungen des Bewusstseins. Wenn diese Bewegungen zur Ruhe gekommen sind, wenn sie ge-stillt sind, dann sieht der „Seher“ (drastah) sich selbst in seiner reinen, nicht von den Dingen be-dingten Form. In allen anderen Zuständen sind wir das, was uns von außen vorgegeben ist, wir sind nur Reaktion und niemals wir Selbst.
Martin Heidegger hat geschrieben, dass wir ständig in Sorge darum sind, dass unser Sein gelingt. Er nennt das die Grundstruktur der Sorge, die aber im Alltäglichen abgleitet zum „Besorgen“. Wir müssen Dies und Das besorgen. Die Dinge schreiben förmlich danach, besorgt zu werden. Vor lauter „Be-sorgen“ haben wir keine Zeit mehr, zu uns Selbst zu finden. Aber nur wenn die Besorgungen zur Ruhe kommen, können wir uns Selbst finden.