Tod - Leben / Daodejing Nr 50
Im zweiten Teil scheint die Rede von den Unsterblichen zu sein, die keine Todespunkte haben oder die, wie es Lin Yutan übersetzt 'jenseits des Todes' sind. Bereits die erste Zeile kann unterschiedlich gelesen und gedeuted werden. Der Satz besteht aus zwei Teilen, der erste spricht von Leben oder Geboren werden, der zweite vom Tod oder dem Sterben.
出生入死。 chu sheng ru si. Der japanische Dichter Kamo no Chômei schreibt im 12. Jhd. ein kleines Werk, in dem er die Vergänglichkeit des Menschen beschreibt. Es beginnt mit den Worten: Der Strom des dahinziehenden Flusses nimmt kein Ende, und doch ist es nicht das ursprüngliche Wasser. Die Schaumblasen, die auf dem seichten Wasser schwimmen, vergehen und bilden sich neu, und es gibt kein Beispiel, dass sie für längere Zeit bleiben. Geradeso verhält es sich mit den Menschen und ihren Behausung auf dieser Welt. ... .. Auch hier würden wir eher erwarten, dass es heißen würde: am Morgen geboren, am Abend gestorben. Aber der Morgen, der Neubeginn des Tages und das Wiedererwachen des Lichtes ist die Zeit des Sterbens und der Abend, wenn die Sonne schwindet und das Dunkel beginnt ist die Zeit des Geboren-Werdens. Durch diese Kontradiktion werden Tod und Geburt zu einem ewigen Kreislauf zusammengefügt. In der ersten Zeile des Daodejing 50 wird das Hauptaugenmerk nicht auf den Tag, das Licht und das Leben gerichtet sondern auf das Dunkel, das Geheimnis und den Tod. Herauskommen aus dem Dunkel der Verborgenheit ist Geborenwerden oder Leben, hineingehen in das Dunkel ist Rückkehr und Tod. Der Satz kann aber auch noch anders verstanden werden. Geldsetzer übersetzt: "Geborenwerden ist ein Eintritt ins Sterben". Nach dieser Interpretation heißt Leben, sich auf dem Durch-gang zum Tod bewegen: Leben ist Sterben.
Das Schriftzeichen für Leben oder geboren werden zeigt eine Pflanze, die aus der Erde hervorsprießt und deren erste Blätter sich entfalten.
Auch in unserer Sprache ist eine Erinnerung an diese Sicht enthalten. Altgriechischisch heißt die "Natur" Physis φύσις. Das Verb ist phyô φυω, ich wachse. Aber zum phyô gehört das entstehen, sich entfalten, reifen und sterben dazu. Phyô ist der Weg des Wachsenden, der den Weggang einschließt. Aber von der Pflanze her gesehen ist der Weggang kein endgültiges verlöschen. Die Pflanze reift und trägt Frucht und Samen, aus dem, nachdem er in das Dunkle zurückgekehrt ist, wieder neues Leben enstspringt. Noch im deutschen "ich BIN" ist die Wuzel *bheo wie im altgriechischen phyo enthalten. "Ich bin" heißt: ich werde geboren, entfalte und entwickle mich, welke und sterbe. "Ich BIN" ist der Gang aus dem Dunkel in das Dunkel. Erst unsere moderne Sichtweise hat diesen Sachverhalt aus dem Blick verloren. Bereits im lateinischen "Natura - nascendere" liegt das Augenmerk nur auf dem Vorgang des Hervorkommens. Der Blick richtet sich auf das Stetige und Bleibende. Im Zhuangzi sprechen die vier Meister Ssu, Yu, Li, und Lai (Mair übersetzt die Namen mit Meister Opfer, Kutsche, Pflug und Komm) über Leben und Tod und sie sagen: Wer immer sich Nichtsein zum Kopf zu nehmen vermag, das Leben zum Rückgrat und den Tod zur Sitzfläche, wer um die Einheit von Leben und Tod, von Sein und Nichtsein weiß , den wollen wir zum Freund haben. Kopf, Rückgrad und Sitzfläche bilden den Körper des Menschen. Der Kopf dieses besonderen Menschen, den die vier Meister zum Freund haben wollen ist das NICHT, das MU (無為首), die Sitzfläche ist der Tod (死為尻). Mit dem Kopf ist nicht nur der reale Kopf des Menschen gemeint. Der Kopf 首 ist auch ein Hauptprinzip, das Wichtigste einer Sache. Die wichtigsten Regeln des Teeweges von Sen no Rikyu sind die Hyaku - shu 百首, wörtlich die einhundert 'Köpfe' oder Hauptregeln. Wenn das MU, das NICHT zum Haupt und der Tod zur Sitzfläche, zu dem auf dem Alles aufruht wird, ist der Mensch ausgespannt zwischen einem zweifachen NICHT. Dazwischen spannt sich als die Gestalt tragende Wirbelsäule das Leben 生為脊. Diese besonderen Menschen wissen um die Einheit von Leben und Tod, Bewahren und Verlieren (知生死存亡之一體者). Die beiden Zeichen 存亡 können wiederum als Leben und Tod verstanden werden. Genauer aber könnte man sie als Bewahren und Verlieren übersetzen. Leben und Tod, Bewahren und Verlieren sind Eine Existenz, ein "Körper". Im ersten Abschnitt des 6. Kapitels des Zhuangzi ist die Rede von den "wahren Menschen des Altertums":Der wahre Mensch des Altertums kannt weder die Liebe zum Leben noch die Angst vor dem Tod; er freute sich nicht hervorzutreten, noch widersetzte er sich der Rückkehr. Beiläufig ging er dahin, beiläufig kam er wieder. Er vergass nicht, was sein Ursprung war, und suchte nicht zu wissen, was sein Ende sein würde. Fröhlich nahm er an und sich selbst vergessend, kehrte er zurück. Hervorkommen und Zurückgehen, Leben und Tod sind die beiden Pole der Existenz und die Wahren Menschen wissen um ihre Einheit. Darum haben sie weder Liebe zum Leben noch Angst vor dem Tod. Das Schriftzeichen für Tod 死
Nach chinesischer Auffassung ist die Dauer des Lebens vorgegeben. Allerdings ist es durch leichtsinniges Verhalten möglich, die vorgegebene Zeitspanne des Lebens zu verkürzen. Ein kriminelles Vergehen etwa, das mit Todesstrafe geahndet wurde, ist ein leichtsinniges Verhalten, das die vorgegebene Lebensspanne verkürzt und kein vom Schicksal vorgegebenes Ende. Auch wer frühzeitig hart und fest wird, zerbricht zu früh. Man könnte meinen, dass es die Aufgabe des Menschen ist, durch Gesundheitsvorsorge seinen Körper geschmeidig zu halten und ein langes Leben in Gesundheit zu sichern. Aber das entspricht nicht der frühen Auffassung der Daoisten. Die Geschichte von den vier Meistern, die denjenigen, der um die Einheit von Leben und Tod, Bewahren und Verlieren wissen zum Freund haben wollen, zeigt, dass es selbst Daoistischen Meistern nicht gelingt, ihr Leben immer in voller Gesundheit zu leben, wenn sie nur achtsam genug sind. Sie waren sich einig, dass sie alle vier diese Einheit erkannt hatten. Dennoch wurde Meister Yu sehr krank: Sein Rücken war zu einem Buckel aufgewölbt. Seine fünf Organe waren nach oben verkehrt, sein Kinn senkte sich in den Bauchnabel, seine Schultern lagen höher als der Scheitel seines Kopfes, seine Nackenwirbel ragten zum Himmel auf. Seine Yin-Yang Lebensenergie war völlig aus dem Gleichgewicht. Und doch war sein Herz gelassen und nicht verwirrt. Weit entfernt davon, mit seinem Schicksal zu hadern, dass ihn mit solchem Missgeschick und Krankheit geschlagen hatte, ist das Herz von Meister Yu ruhig und gelassen. Er weiss sogar aus jedem seiner Missgeschicke einen Vorteil zu ziehen. Angenommen, mein linker Arm würde zu einer Henne, dann würde ich mir einen Hahn suchen, der die Stunden der Nacht ausrufen kann. Angenommen mein rechter Arm würde zu einer Armbrust, dann wollte ich nach einer Eule suchen, die ich als Braten schießen könnte. Angenommen mein Hinterteil würde zu Rädern und mein Herz zu einem Pferd, dann wollte ich sie besteigen. Wozu brauchte ich dann noch ein anderes Gefährt? Auch Meister Lai wird nach einiger Zeit krank und liegt im Sterben. Frau und Kinder beklagen das Schicksal und weinen an seinem Krankenbett. Meister Lai tröstet sie: Der große Klumpen belädt mich mit form, bringt mich dazu, mich durchs Leben zu mühen, besänftigt mich im Alter und lässt mich im Tod ausruhen. Das also, was mein Leben gut macht, ist auch das, was meinen Tod gut macht. |