Dao De Jing Nr 6: Der Geist des Tales

谷神不死
是謂玄牝。
玄牝之門
是謂天地根。
綿綿若存,
用之不勤。
gu shen bu si,
shi wei xuan pin.
xuan pin zhi men,
shi wei tian di gen.
mian mian ruo cun,
yong zhi bu qin.
Der Geist des Tales stirbt nicht -
das heißt: verborgene Weiblichkeit.
Das Tor der verborgenen Weiblichkeit -
das heißt: Wurzel von Himmel und Erde.

Wie durchgängig! Gleichsam anwesend.
Im Gebrauch unermüdlich.

Übersetzung: Möller

unsterblich ist der tiefe geist des tals
der dunkle mutterschoß sei er benannt
und dieses dunklen mutterschoßes pforte -
genannt wird sie die wurzel des alls

sich hinschlingend durch alles, allgegenwärtig
wirkt sie und wirkt doch mühelos

Übersetzung: Schwarz

Unsterblich ist die Fee des Tals:
So heißt es von der Mystischen Weibheit.
Der Mystische Weibheit Pforte:
So heißt man die Wurzeln von Himmel und Erde.
Endlos wallend, gleichsam gegenwärtig,
Also wirkt sie sonder Beschwerde.

Günter Debon

Die Talfee erstirbt nicht. Ich nenne sie Ur-Weibliches. Die Pforte des Ur-Weiblichen nenne ich Wurzel von Himmel und Erde. Ununterbrochen, solange sie da ist, dient sie unaufgeregt.

Übersetzung: Geldsetzer

Der Tal - Geist
Über dieses Kapitel des Daodejing ist sehr viel gerätselt worden. Was ist der Tal-Geist - 谷神, der gu shen? In einer Übersetzung heißt es die "Fee des Tales". Noch schwieriger wird die zweite Zeile.
Dort ist vom 玄牝 xuan pin, dem "mystisch weiblichen, dem dunklen "Tiergeist?" die Rede. pin - weiblich Das Schriftzeichen pin - weiblich enthält als Wurzelzeichen das Bild des Ochsen, der mit seinen Hörnern in der Siegelschrift noch gut zu erkennen ist. Man vermutete hier die Überreste einer animistischen und schamanistischen Religion, in dem ein Tier als Göttin verehrt wurde. Dass im Daodejing sehr alte Schichten vorhanden sind, die auf Schamanistisches zurückgehen, verwundert überhaupt nicht. Der Schamanismus ist heute noch in vielen Ländern Ostasiens lebendig. Wir konnten kürzlich eine schamnistische Feier in Korea besuchen. Dort sind es nahezu immer Frauen, die als Schamaninnen - vorwiegend in ländlichen Regionen - wirken. Heute noch gehen die Koreaner - allerdings meistens nur die Frauen - bei wirklich ernsthaften Gesundheitsproblemen zur Schamanin und nicht zum Arzt. Den Männern ist es eher peinlich, wenn sie zugeben müssen, dass es so etwas wie den Schamanismus in ihrem Land gibt. Aber der Schamnismus ist in Korea keine eigenständige Institution. Er ist eng mit dem Buddhismus verflochten. Jeder buddhistische Tempel in Korea hat einen kleinen Schamanentempel am Berghang. Auch die schamanistische Feier in Korea, die wir besuchten, wurde nicht von der Schamanin selbst gestaltet. Sie ist inzwischen zu alt geworden und hatte buddhistische Mönche gebeten, die Zeremonien durchzuführen.
Aber wenn man sagt, dieses Kapitel des Daodejing reicht noch in animistisch - schamanistische Uranfänge zurück, so ist das zwar sehr interessant, aber damit überhaupt nichts erklärt, weil der Text und der Inhalt nicht verstanden sind.

gu-tani: Tal gu: Tal Siegelschrift Im der ersten Zeile ist vom Talgeist, dem 谷神 GU SHEN die Rede. Das Schriftzeichen für Tal zeigt eine Öffnung, die von steilen Berger umgeben ist. An den Bergflanken stürzen Wasserfälle in die Tiefe. In der Siegelschrift ist noch deutlich zu sehen, wie sich das Wasser am Talgrund sammelt und einen Flusslauf bildet.
Es ist das Wesen des Tales, dass es alles Wasser in die Tiefe fließen läßt und am Grund sammelt. Das Tal und das Wasser gehören untrennbar zusammen. Die Berghöhen sind trocken und unfruchtbar, weil alles Wasser nach unten in den Talgrund fließt. Im Daodejing Nr 8 ist die Rede vom Wasser und seiner "Güte".
上善若水。
水善利萬物而不爭,
處眾人之所惡,
故幾於道
shang shan ruo shui.
shui shan li wan wu er bu zheng,
chu zhong ren zhi suo wu,
gu ji yu dao.
Das höchste Gute gleicht dem Wasser.
Des Wassers Gutsein: Es nützt den zehntausend Dingen ohne Streit;
Es weilt an Orten, die die Menge der Menschen verabscheut.
Darum ist es nahe dem Dao.

Das "Gute" des Wassers ist keine moralische Güte. Es ist eine verwirklichte Tauglichkeit für Etwas. Platon diskutiert in seinen frühen Dialogen immer wieder die άρητη - arete, die "Tugend". Die Tugend eines Hammers ist seine Tauglichkeit zum Hämmern, die Tugend einer Axt ist ihre Tauglichkeit zum Hacken. Schwieriger ist die Frage nach der Tugend des Menschen zu beantworten. Die Tugend des Feldherrn ist seine Tauglichkeit, einen Krieg zu gewinnen, aber was ist seine Tugend als Mensch? Später nennt Platon die höchste der Ideen das Agathon, das "Gute" eine Art der höchsten und all-gemeinen Tauglichkeit. Das Agathon ist Vor- und Leitbild für alles Seiende, dass sein Maß der "Güte" am Agathon nimmt.
Die "Güte" des Wassers ist es, den 10.000 Dingen zu nutzen ohne zu streiten. Das Wasser teilt seine Güte mit alle Dingen ohne eines oder das andere vorzuziehen oder zu benachteiligen. Diese Güte kann das Wasser verwirklichen, wenn es unauffällig immer zum tieften Ort strebt, dem Ort, den die Menschen im allgemeinen verabscheuen. Deshalb strebt das Wasser immer nach unten.
Das Wasser kann sich in den verschiedensten Erscheinungsformen zeigen, als Quelle, Bach, Flußlauf oder als das unendliche Meer. So ist das Wasser wie das Dao ständig in Bewegung, im Fluß. Nur das große Meer nimmt eine Sonderstellung ein. Im Kapitel "Herbstfluten" des Zhuangzi spricht der Herr des Nordmeeres:

Unter allen Gewässern am Himmel gibt es keines, das größer wäre als der Ozean. Die Myriaden Flüsse kehren unaufhöhrlich in ihn zurück, und doch wird er niemals voll; durch einen Abfluss an seinem Grunde läuft er ständig ab, und doch wird er niemals leer.Ob Frühling oder Herbst, er ändert sich nie und weiß nichts von Fluten und von Dürre

Das Tal ist ähnlich wie der Ozean - das Wasser fließt ständig zu, aber das Tal wird niemals voll, ständig fließt das Wasser am Talgrund ab, aber niemals wird das Tal leer. Im Daodejing Nr. 15 werden die Weisen des Altertums mit dem Tal verglichen, sie sind 曠兮其若谷 kuàng xī qí ruò gǔ; weit und offen wie das Tal.
An seiner Oberseite ist das Tal weit und offen wie der Himmel, dem es sich öffnet, aber der Talgrund ist dunkel, feucht und fruchtbar.
Excurs: Nymphen in Griechenland - Kalypso
In der griechischen Mythologie ist dies der Ort, an dem die Nymphen leben. Sie lieben dunkle, feuchte Orte, die ein Quell des Lebens sind. In der Odyssee beschreibt Homer einen solchen Ort in eindringlichen Bildern. Hermes sucht die Nymphe Kalypso auf, um ihr die Ankunft von Odysseus zu melden. Drin in der Grotte geht Kalypso singend am Webstuhl hin und her mit goldenem Schiffchen.

Draußen war grünender Wald rings um die Grotte gewachsen, Erlenbäume und Pappeln und duftende, dunkle Zypressen. In ihren Zweigen nisteten flügelbreitende Vögel, ... Dort auch rankte sich um die gewölbte Grotte ein Weinstock jugendlich frisch, mit prangendem Laub und strotzend von Trauben. Und vier Quellen sprudelten dort mit schimmerndem Wasser nebeneinander hervor und rannen dann hierhin und dorthin. Rings blühten da üppige Wiesen mit Veilchen und Eppich.

Die vier Quellen, die hier entspringen und dann in verschiedene Richtungen fließen, lassen vermuten, dass dieser verborgene Ort ein Ursprungsort am Nabel der Welt ist. Zugleich ist das Bild der Landschaft stark erotisch geprägt. Der Eingang zur Grotte der Kalypso wird von einem üppigen Weistock umrankt, einem Bild für Dionysos, dem Gott des Weines und der Satyroi, die ständig den Nymphen nachstellen. Auf der Wiese um die Höhle wächst reichlich Eppich, wilder Sellerie, der im Volksglauben als Aphrodisiakum gilt. In einem Arzneibuch des 15. Jhd. heißt es: "Item das dich din frouw fur al man lieb hatt, so nim epich safft mit honig gestoßen und tempteriert und schmir den zagel da mit und die hoden, so machst du als wohl, das ir kein ander fur dich liebt". Auch Volksnamen des Selleries wie Geilwurz (Baden), Böckekriut (Bockkraut; Südhannover), Hemadspreizer (Niederösterreich), Stehsalat (erectio penis) (Pfalz) weisen auf diesen Glauben hin.
Im alten Griechenland wurden die Sieger bei den Spielen von Nemea mit Eppich statt mit Lorbeer bekränzt. Der König von Nemea legte trotz der Warnung durch das Orakel von Delphi seinen Sohn Opheltes, der noch ein Säugling war auf eine Wiese mit wildem Eppich. Eine riesige Schlange, die der Seher Amphiaraos später Archemoros - Anfang des Todesgeschickes gab, erwürgte den Säugling. Zu seinem Gedenken wurden dann die Nemeischen Spiele eingeführt. Der Sellerie verbindet hier in Nemea den Anfang des Lebens - den Säugling Opheltes und den Tod. Aber in gewisser Weise wurde Opheltes durch die Stiftung der Spiele von Nemea unsterblich.

Die Nymphe Kalypso - die Verbergende - lebt an einem Ort, der zugleich der Ursprung des Lebens und des Todes ist. Sie ist die Verbergende, die Odysseus sieben Jahre lang an diesem versteckten Ort zurück hält. Sie webt an ihrem Webstuhl, so wie es alle Schicksalsgöttinen tun. Sie weben mit ihrem Faden das bunte Lebensmuster in den Brokat. Auch Penelope, die Gemahlin von Odysseus webt. Sie webt das Leichentuch für den alten König Laertes. Wenn das Leichentuch fertig ist, wird sie einen der Freier erhören und zum König machen. Aber jede Nacht trennt sie das Gewebe, das sie tagsüber gewebt hatte wieder auf. So hält sie die Zeit an und das Leben bleibt stehen.

Shen - Geist?
Geldsetzer übersetzt 谷神 GU SHEN als Talfee. In anderen Übersetzungen heißt es "Geist des Tales" oder der "tiefe Geist des Tales". Chao Hsiu Chen übersetzt in einer neu erschienenen Übersetzung: "Der Geist ist tief wie ein Tal und wird nie vergehen". Hier wird nicht vom Talgeist gesprochen, das Tal ist lediglich ein Bild für die Tiefe des Geistes. Aber was meint wirklich? Ist es der Geist? Aber was ist Geist? Ein Gespenst oder der hegelsche Weltgeist?

Shen: Geist shi: bekannt machen Das Schriftzeichen zeigt in der alten Schreibweise noch seine Herkunft. Das linke Wurzelzeichen zeigt eine Art Altar, auf dem etwas liegt, z.b. eine Opfergabe? Das Schriftzeichen SHI in der heutigen Schreibung bedeutet etwas bekannt machen, zeigen, Zeichen, Offenbarung, Altar. Das zweite Zeichen jin kann die Bedeutung haben von erklären, einem Vorgesetzten berichten. Es ist auch das Zeichen für den Affen, das neunte Zeichen im chinesischen Zodiac. Der Affe zeichnet sich durch die Beweglichkeit seines Geistes und seine ständige Neugier aus. Beiden Zeichen zusammen bedeuten "GEIST".
Die einheimische japanische Religion, der Shintô 神道 ist der Dô, der Weg der Shin - die japanische Aussprache von Shen, Geist. Man muss also nur den japanischen Shintô studieren um zu verstehen, was Shen, der Geist ist? Leider gibt es aber keine einheitliche shintoistische "Theologie", auf die man zurückgreifen könnte. Die Shin oder wie sie in der japanischen Aussprache genannt werden die KAMI haben eine vielfältige Erscheinungsform. Das Schriftzeichen SHIN wird nur im Namen für die Religion SHIN - TÔ ausgesprochen, wenn das Zeichen allein steht, spricht man es KAMI. Eigentlich hat Kami die Bedeutung - oben, die Oberen, Die dort oben. "Die dort oben" sind die Mächtigen, die Herren oder Schutzkräfte. Aber was die Kami genau sind, weiß kein Shintôpriester. Es können Urahnen sein, die als längst Verstorbene zu den Schützern des Clans geworden sind. Der hoch gelehrte Minister zur Linken Michizane wurde durch eine Intrige zu Unrecht in die Verbannung geschickt, wo er unglücklich starb. Kaum war die Nachricht von seinem Tode in der Hauptstadt Kyôtô eingetroffen, als schwere Unwetter mit Gewittern, Sturm und Hagel die Stadt verwüsteten. Man nahm an, daß Michizanes Totengeist Rache nahm und man besänftigte ihn durch den Bau eines Schreines. Seither ist er der Schutz - Kami für alle, die studieren und lernen und denen Prüfungen bevorstehen. Auf dem Gelände von Michizane Schrein werden aber noch viele andere Kami verehrt, etwa ein abgestorbener Baum der durch einen niedrigen Zaun abgetrennt und durch ein Seil aus Reisstroh als Kami gekennzeichnet ist. Auch die Unzahl von Rehen, die die Innenstadt von Nara bevölkern und die man mit Keksen füttert, die am Straßenrand verkauft werden sind Kami. Leider hat Konrad Adenauer in Unkenntnis dieser Tatsache das Futter für diese Kami selber gegessen. Dadurch war dann die gesamte japanische Delegation gezwungen, ebenfalls das Götterfutter zu essen. Sicher waren die Kami nicht sehr erfreut darüber. Aber es ist nicht bekannt, ob dieser Vorfall irgendwelche bleibenden Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Deutschland und Japan hatte.
KAMI: Zwei Felsen im Meer Ein Kami kann ein Baum, eine Quelle, ein Fluss oder die Sterne, ja sogar alle Gräser sein. Dabei ist dann eventuell jedes Gras, jeder Käfer ein Kami. Die Milchstraße wird als ein breiter und flacher Fluss gesehen, der den Himmel durchquert. In diesem Fluss liegen eine Unmenge Felsen, auf denen jeweils ein Kami sitzt. Diese Kami kann man von der Erde aus als kleine Lichter sehen. Zwei Felsen im Meer können Kami sein. Sie werden durch ein Reisstrohseil als Kami kenntlich gemacht. In der Religionswissenschaft bezeichnet man den Shintô als animistische Religion, weil Alles und Jedes "beseelt" und ein Kami sein kann.

Der Talgeist könnte dann schon so etwas wie eine Nymphe der griechischen Mythologie sein. Es wäre eben nach japanischer Auffassung ein Tal - Kami. Aber es gibt in Japan auch die Vorstellung einer Kraft oder Energie des Feldes, des Berges, des Wassers, die sich nicht als greifbare Gestalt personifizieren läßt. Diese Energie läßt das Feld oder das Tal lebendig sein um immer wieder Neues hervorbringen zu können. Diese Energie ist so etwas wie das Leben.


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