Dao De Jing Nr 6: Der Geist des Tales
Der Tal - GeistÜber dieses Kapitel des Daodejing ist sehr viel gerätselt worden. Was ist der Tal-Geist - 谷神, der gu shen? In einer Übersetzung heißt es die "Fee des Tales". Noch schwieriger wird die zweite Zeile.Dort ist vom 玄牝 xuan pin, dem "mystisch weiblichen, dem dunklen "Tiergeist?" die Rede. Das Schriftzeichen 牝 pin - weiblich enthält als Wurzelzeichen das Bild des Ochsen, der mit seinen Hörnern in der Siegelschrift noch gut zu erkennen ist. Man vermutete hier die Überreste einer animistischen und schamanistischen Religion, in dem ein Tier als Göttin verehrt wurde. Dass im Daodejing sehr alte Schichten vorhanden sind, die auf Schamanistisches zurückgehen, verwundert überhaupt nicht. Der Schamanismus ist heute noch in vielen Ländern Ostasiens lebendig. Wir konnten kürzlich eine schamnistische Feier in Korea besuchen. Dort sind es nahezu immer Frauen, die als Schamaninnen - vorwiegend in ländlichen Regionen - wirken. Heute noch gehen die Koreaner - allerdings meistens nur die Frauen - bei wirklich ernsthaften Gesundheitsproblemen zur Schamanin und nicht zum Arzt. Den Männern ist es eher peinlich, wenn sie zugeben müssen, dass es so etwas wie den Schamanismus in ihrem Land gibt. Aber der Schamnismus ist in Korea keine eigenständige Institution. Er ist eng mit dem Buddhismus verflochten. Jeder buddhistische Tempel in Korea hat einen kleinen Schamanentempel am Berghang. Auch die schamanistische Feier in Korea, die wir besuchten, wurde nicht von der Schamanin selbst gestaltet. Sie ist inzwischen zu alt geworden und hatte buddhistische Mönche gebeten, die Zeremonien durchzuführen. Aber wenn man sagt, dieses Kapitel des Daodejing reicht noch in animistisch - schamanistische Uranfänge zurück, so ist das zwar sehr interessant, aber damit überhaupt nichts erklärt, weil der Text und der Inhalt nicht verstanden sind.
Im der ersten Zeile ist vom Talgeist, dem 谷神 GU SHEN die Rede. Das Schriftzeichen für Tal zeigt eine Öffnung, die von steilen Berger umgeben ist. An den Bergflanken stürzen Wasserfälle in die Tiefe. In der Siegelschrift ist noch deutlich zu sehen, wie sich das Wasser am Talgrund sammelt und einen Flusslauf bildet.
Das "Gute" des Wassers ist keine moralische Güte. Es ist eine verwirklichte Tauglichkeit für Etwas. Platon diskutiert in seinen frühen Dialogen immer wieder die άρητη - arete, die "Tugend". Die Tugend eines Hammers ist seine Tauglichkeit zum Hämmern, die Tugend einer Axt ist ihre Tauglichkeit zum Hacken. Schwieriger ist die Frage nach der Tugend des Menschen zu beantworten. Die Tugend des Feldherrn ist seine Tauglichkeit, einen Krieg zu gewinnen, aber was ist seine Tugend als Mensch? Später nennt Platon die höchste der Ideen das Agathon, das "Gute" eine Art der höchsten und all-gemeinen Tauglichkeit. Das Agathon ist Vor- und Leitbild für alles Seiende, dass sein Maß der "Güte" am Agathon nimmt. Die "Güte" des Wassers ist es, den 10.000 Dingen zu nutzen ohne zu streiten. Das Wasser teilt seine Güte mit alle Dingen ohne eines oder das andere vorzuziehen oder zu benachteiligen. Diese Güte kann das Wasser verwirklichen, wenn es unauffällig immer zum tieften Ort strebt, dem Ort, den die Menschen im allgemeinen verabscheuen. Deshalb strebt das Wasser immer nach unten. Das Wasser kann sich in den verschiedensten Erscheinungsformen zeigen, als Quelle, Bach, Flußlauf oder als das unendliche Meer. So ist das Wasser wie das Dao ständig in Bewegung, im Fluß. Nur das große Meer nimmt eine Sonderstellung ein. Im Kapitel "Herbstfluten" des Zhuangzi spricht der Herr des Nordmeeres: Unter allen Gewässern am Himmel gibt es keines, das größer wäre als der Ozean. Die Myriaden Flüsse kehren unaufhöhrlich in ihn zurück, und doch wird er niemals voll; durch einen Abfluss an seinem Grunde läuft er ständig ab, und doch wird er niemals leer.Ob Frühling oder Herbst, er ändert sich nie und weiß nichts von Fluten und von Dürre Das Tal ist ähnlich wie der Ozean - das Wasser fließt ständig zu, aber das Tal wird niemals voll, ständig fließt das Wasser am Talgrund ab, aber niemals wird das Tal leer. Im Daodejing Nr. 15 werden die Weisen des Altertums mit dem Tal verglichen, sie sind 曠兮其若谷 kuàng xī qí ruò gǔ; weit und offen wie das Tal.An seiner Oberseite ist das Tal weit und offen wie der Himmel, dem es sich öffnet, aber der Talgrund ist dunkel, feucht und fruchtbar. Excurs: Nymphen in Griechenland - KalypsoIn der griechischen Mythologie ist dies der Ort, an dem die Nymphen leben. Sie lieben dunkle, feuchte Orte, die ein Quell des Lebens sind. In der Odyssee beschreibt Homer einen solchen Ort in eindringlichen Bildern. Hermes sucht die Nymphe Kalypso auf, um ihr die Ankunft von Odysseus zu melden. Drin in der Grotte geht Kalypso singend am Webstuhl hin und her mit goldenem Schiffchen.Draußen war grünender Wald rings um die Grotte gewachsen, Erlenbäume und Pappeln und duftende, dunkle Zypressen. In ihren Zweigen nisteten flügelbreitende Vögel, ... Dort auch rankte sich um die gewölbte Grotte ein Weinstock jugendlich frisch, mit prangendem Laub und strotzend von Trauben. Und vier Quellen sprudelten dort mit schimmerndem Wasser nebeneinander hervor und rannen dann hierhin und dorthin. Rings blühten da üppige Wiesen mit Veilchen und Eppich. Die vier Quellen, die hier entspringen und dann in verschiedene Richtungen fließen, lassen vermuten, dass dieser verborgene Ort ein Ursprungsort am Nabel der Welt ist. Zugleich ist das Bild der Landschaft stark erotisch geprägt. Der Eingang zur Grotte der Kalypso wird von einem üppigen Weistock umrankt, einem Bild für Dionysos, dem Gott des Weines und der Satyroi, die ständig den Nymphen nachstellen. Auf der Wiese um die Höhle wächst reichlich Eppich, wilder Sellerie, der im Volksglauben als Aphrodisiakum gilt. In einem Arzneibuch des 15. Jhd. heißt es: "Item das dich din frouw fur al man lieb hatt, so nim epich safft mit honig gestoßen und tempteriert und schmir den zagel da mit und die hoden, so machst du als wohl, das ir kein ander fur dich liebt". Auch Volksnamen des Selleries wie Geilwurz (Baden), Böckekriut (Bockkraut; Südhannover), Hemadspreizer (Niederösterreich), Stehsalat (erectio penis) (Pfalz) weisen auf diesen Glauben hin.Im alten Griechenland wurden die Sieger bei den Spielen von Nemea mit Eppich statt mit Lorbeer bekränzt. Der König von Nemea legte trotz der Warnung durch das Orakel von Delphi seinen Sohn Opheltes, der noch ein Säugling war auf eine Wiese mit wildem Eppich. Eine riesige Schlange, die der Seher Amphiaraos später Archemoros - Anfang des Todesgeschickes gab, erwürgte den Säugling. Zu seinem Gedenken wurden dann die Nemeischen Spiele eingeführt. Der Sellerie verbindet hier in Nemea den Anfang des Lebens - den Säugling Opheltes und den Tod. Aber in gewisser Weise wurde Opheltes durch die Stiftung der Spiele von Nemea unsterblich. Die Nymphe Kalypso - die Verbergende - lebt an einem Ort, der zugleich der Ursprung des Lebens und des Todes ist. Sie ist die Verbergende, die Odysseus sieben Jahre lang an diesem versteckten Ort zurück hält. Sie webt an ihrem Webstuhl, so wie es alle Schicksalsgöttinen tun. Sie weben mit ihrem Faden das bunte Lebensmuster in den Brokat. Auch Penelope, die Gemahlin von Odysseus webt. Sie webt das Leichentuch für den alten König Laertes. Wenn das Leichentuch fertig ist, wird sie einen der Freier erhören und zum König machen. Aber jede Nacht trennt sie das Gewebe, das sie tagsüber gewebt hatte wieder auf. So hält sie die Zeit an und das Leben bleibt stehen.
Shen - Geist?Geldsetzer übersetzt 谷神 GU SHEN als Talfee. In anderen Übersetzungen heißt es "Geist des Tales" oder der "tiefe Geist des Tales". Chao Hsiu Chen übersetzt in einer neu erschienenen Übersetzung: "Der Geist ist tief wie ein Tal und wird nie vergehen". Hier wird nicht vom Talgeist gesprochen, das Tal ist lediglich ein Bild für die Tiefe des Geistes. Aber was meint 神 wirklich? Ist es der Geist? Aber was ist Geist? Ein Gespenst oder der hegelsche Weltgeist?
Das Schriftzeichen zeigt in der alten Schreibweise noch seine Herkunft. Das linke Wurzelzeichen zeigt eine Art Altar, auf dem etwas liegt, z.b. eine Opfergabe? Das Schriftzeichen SHI in der heutigen Schreibung 示 bedeutet etwas bekannt machen, zeigen, Zeichen, Offenbarung, Altar. Das zweite Zeichen jin 申 kann die Bedeutung haben von erklären, einem Vorgesetzten berichten. Es ist auch das Zeichen für den Affen, das neunte Zeichen im chinesischen Zodiac. Der Affe zeichnet sich durch die Beweglichkeit seines Geistes und seine ständige Neugier aus. Beiden Zeichen zusammen bedeuten "GEIST". Der Talgeist könnte dann schon so etwas wie eine Nymphe der griechischen Mythologie sein. Es wäre eben nach japanischer Auffassung ein Tal - Kami. Aber es gibt in Japan auch die Vorstellung einer Kraft oder Energie des Feldes, des Berges, des Wassers, die sich nicht als greifbare Gestalt personifizieren läßt. Diese Energie läßt das Feld oder das Tal lebendig sein um immer wieder Neues hervorbringen zu können. Diese Energie ist so etwas wie das Leben.
|