Franz Kafka: Der Hungerkünstler
In den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an den Hungerkünstlern sehr zurückgegangen. Während es sich früher gut lohnte, große derartige Veranstaltungen in eigener Regie zu veranstalten, ist dies heute völlig unmöglich. Es waren andere Zeiten. Damals beschäftigte sich die ganze Stadt mit dem Hungerkünstler, .. jeder wollte den Hungerkünstler zumindets einmal täglich sehen; an spätern Tagen gab es Abonnenten, welche tagelang vor dem kleinen Gitterkäfig saßen. ... Die Kinder sahen staunend, mit offenem Mund, der Sicherheit halber einander bei den Händen haltend zu, wie er bleich .. auf hingestreutem Stroh saß, ... vor sich hinsah mit fest verschlossenen Augen und hin und wieder ein Gläschen Wasser nippte, um sich die Lippen feucht zu halten.
Außer den Zuschauern waren auch ...Wächter da, merkwürdigerweise gewöhnlich Fleischhauer, welche ... die Aufgabe hatten, Tag und Nacht den Hungerkünstler zu beobachten, damit er nicht auf irgend eine heimliche Weise doch Nahrung zu sich nehme. ...
Nichts war dem Hungerkünstler quälender, als solche Wächter; sie machten ihn trübselig; sie machten ihm das Hungern entsetzlich schwer; manchmal überwand er seine Schwäche und sang während dieser Wachzeit solange er es nur aushielt, um den Leuten zu zeigen, wie ungerecht sie ihn verdächtigten.
Eines Tage sah sich der verwöhnte Hungerkünstler von der vergnügungssüchtigen Menge verlassen, die lieber zu anderen Schaustellungen strömte. ... Er mochte so gut hungern, als er nur konnte, und er tat es, aber nichts konnte ihn retten, man ging an ihm vorüber. Versuche, jemandem die Hungerkunst zu erklären! Wer es nicht fühlt, dem kann man es nicht begreiflich machen!
Die schönen Aufschriften wurden schmutzig und unleserlich, man riss sie herunter, niemandem fiel es ein, sie zu ersetzen. (schließlich wurde der Hungerkünstler in seinem Gitterkäfig völlig vergessen.)
Einmal fiel einem Aufseher der Käfig auf, und er fragte den Diener, warum man diesen gut brauchbaren Käfig mit dem verfaulten Stroh darinnen unbenützt stehen lasse; niemand wußte es, bis sich einer mit Hilfe der Zifferntafel an den Hungerkünstler erinnerte. Man rührte mit der Stange im Stroh und fand den Hungerkünstler darin.
"Du hungerst noch immer?" fragte der Aufseher, wann wirst du endlich aufhören?" "Verzeiht mir alle" flüsterte der Hungerkünstler; nur der Aufseher, der das Ohr am Gitter hielt, verstand ihn.
"Gewiß", sagte der Aufseher und legt den Finger an die Stirn, um damit den Zustand des Hungerkünstlers zu verdeutlichen, "wir verzeihen dir". "Immerfort wollte ich, daß ihr meinen Hunger bewundert," sagte der Hungerkünstler. "Ihr sollt ihn aber nicht bewundern!"
"Nun, warum sollen wir wir es denn nicht bewundern?" sagte der Aufseher.
"Weil ich hungern muß, ich kann nicht anders" sagte der Hungerkünstler ... "weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle."
Dies waren seine letzten Worte, aber noch in seinen gebrochenen Augen war die feste, wenn auch nicht mehr stolze Überzeugung, dass er weiter hungere.
"Nun macht aber Ordnung!" sagte der Aufseher, und man begrub den Hungerkünstler samt dem Stroh. In den Käfig gab man aber einen jungen Panther.
Es war eine selbst dem stumpfesten Sinn fühlbare Erholung, in dem so lange öden Käfig dieses wilde Tier sich herumwerfen zu sehen. Ihm fehlte nichts. Die Nahrung, die ihm schmeckte, brachten ihm ohne langes Nachdenken die Wächter; nicht einmal die Freiheit schien er zu vermissen; dieser edle, mit allem Nötigen bis knapp zum Zerreissen ausgestattetem Körper schien auch die Freiheit mit sich herumzutragen; irgendwo in seinem Gebiß schien sie zu stecken; und die Freude am Leben kam mit derart starker Glut aus seinem Rachen, dass es für die Zuschauer nicht leicht war, ihr standzuhalten.
Aber sie überwanden sich, umdrängten den Käfig und wollten sich gar nicht fortrühren.
Der Hungerkünstler war ein ehrlicher Mensch, der zu seinem Hunger gestanden hat.
Aber der Panther? Er spürte nicht einmal die Unfreiheit!
Eigentlich war der Aufseher in der Geschichte nicht nett er hat blossseine Pflicht getan!
Wenn er wirklich GESEHEN hätte, hätte er gewußt, dass die Hungerkünster die eigentlichen Menschen sind!
Nur sie bringen das Wesentliche in ihrem Hunger weiter, nur bei Kafka müssen sie scheitern. Aber diese Zeiten sind schon lange vorbei.
Heute ist der Hunger der WEG zu sich SELBST!
Wirklich?
Und was ist, wenn der Hunger so groß ist, dass er nicht auszuhalten ist?
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