RAINER MARIA RILKEKLANG UND STILLEIm letzten Jahr haben wir ein kleines Dorf in Griechenland entdeckt. Die alten Häuser mit geschützten, Kieselsteinmosaik gepflasterten Innenhöfen und prächtigen Eingangstoren, der Sala - dem großen Wohnraum mit Kamin, dem riesigen gemauerten Bogen und den hohen Betten – strahlen eine harmonische Schönheit aus. Im Ort gibt es viele Quellen, so daß sich dichte Schilfwälder den Hang bis zum Bachbett herunterziehen. Der Bach entspringt im Gebirge hinter dem Dorf und er schlängelt sich im tief eingeschnittenen Tal bis zum nahen Meer. Gräser, Bäume und Büsche leuchten und flirren im hellen Licht Griechenlands.Am beeindruckendsten aber ist die Stille. Es ist keine tonlose Stille. Wie der Atem der Erde weht pausenlos der Wind. Er singt im Schilfrohr, und seufzt in den Felsen und heult im Kamin. Er macht das Geräusch von sprudelndem Wasser oder sirrenden Pfeilen, schreiend, keuchend, rufend, weinend, lachend, grollend. Die erste Boe macht Ho-uu, die zweite Ya-iii (Zhuangzi). Frühmorgens gurren die Tauben, erst ganz in der Nähe, dann von weit her wie ein Echo, von hier, von dort und wieder ganz nah. Es ist, als würde ihr Gurren die Weite des Himmels öffnen. In den Sträuchern lärmen Spatzen und kleine Vögel. Ihr Zwitschern ist wie ein Strauß von Frühlingsblumen am weiten Strohhut des Himmels.
Tauben gurren Weite
„Höre, mein Herz, wie sonst nur Heilige hörten. ... Während der Seminar - Vorbereitung wurde ich auf zwei Texte Rilkes aus seinem Nachlass aufmerksam. Sie tragen den schlichten Titel: „Erlebnis 1“ und „Erlebnis 2“. Rilke hatte sie auf Schloss Duino geschrieben, als er an den Duineser Elegien arbeitete. Sie schildern ein meditatives Erlebnis Rilkes, aus der Zeit kurz bevor ihn die erste Duineser Elegie förmlich überfallen hatte. Der berühmte Anfang der Elegien ist ein verzweifelter Aufschrei des Menschen, der in seiner Vergänglichkeit allein und ohne Hilfe steht:
„Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
„Ach, wen vermögen wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht „hinter den Schrank trat hoch im Mantel sein Schicksal, und in den Falten des Vorhanges paßte ... seine unruhige Zukunft.“ Auch der Vater „wendet das Kind um“ aus Sorge um das Gelingen der Zukunft. „Du, der um mich so bitter das Leben schmeckte, meines kostend, Vater, den ersten trüben Aufguss meines Müssens ... immer wieder kostend“ sorgst dich um „mein bißchen Schicksal“. Ja noch heute, „seit du tot bist“ hast du „oft in meiner Hoffnung, innen in mir, Angst“. Der Sohn trägt die Sorge und die Angst des Vaters um seine Zukunft noch immer in sich, die Angst des Vaters lebt in ihm weiter und er gibt „Gleichmut auf, Reiche von Gleichmut... für ein bißchen Schicksal“. Die Vergänglichkeit ist nicht nur die Trauer um die Sterblichkeit. Alle unsere Empfindungen und die Bindungen an andere Menschen oder die Dinge sind flüchtig:
„Denn wir, wo wir fühlen, verflüchtigen; ach wir
„Dass ich dereinst, an dem Ausgang der grimmigen Einsicht,
„weil uns scheinbar
„Siehe, ich lebe. Woraus? Weder Kindheit noch Zukunft Im nachgelassenen Text „Erlebnis 1“ heißt es:
„Es mochte wenig mehr als ein Jahr her sein, als ihm im Garten des Schlosses (Duino), der sich den Hang ziemlich steil zum Meer hinunterzog, etwas Wunderliches widerfuhr. Sofort fühlt er sich „eingeruht“. Er ist zur Ruhe gekommen, still geworden und alle seine Sinne gewinnen eine Offenheit, die er nie zuvor erlebt hatte. Es ist, als wären die klaren Grenzen zwischen dem Baum und ihm verschwunden, „es war, als ob aus dem Innern des Baumes fast unmerkliche Schwingungen in ihn übergingen“. „Dazu kam, daß er in den ersten Augenblicken den Sinn nicht recht feststellen konnte, durch den er eine derartig feine und ausgebreitete Mitteilung empfing“. Die Beschränkung der Sinne scheint völlig aufgehoben zu sein. Solche Erfahrung gibt es auch in der „normalen“ Wahrnehmung. Wir sprechen oft von „warmen“ oder „kalten“ Farben. Aber in meditativen Augenblicken werden die Sinne ungeheuer empfindsam und sie überspringen oft ihre Grenzen. In der Teezeremonie kann man die Temperatur des Wassers hören, das in die Teeschale gegossen wird. Die Sinne werden so geschärft, dass man den Duft des Tee im ganzen Raum wahrnehmen kann, wenn das Wasser aufgegossen wird. „Mehr und mehr war er überrascht, ja ergriffen von der Wirkung, die jenes in ihn unaufhörlich Herüberdringende in ihm hervorbrachte: er meinte nie von leiseren Bewegungen erfüllt worden zu sein, sein Körper wurde gewissermaßen wie eine Seele behandelt und in den Stand gesetzt, einen Grad von Einfluß aufzunehmen, der bei der sonstigen Deutlichkeit leiblicher Verhältnisse eigentlich gar nicht hätte empfunden werden können“. Rilke wird durch dieses Erlebnis nicht in einen ekstatischen Zustand der Bewußtlosigkeit versetzt. Zwar heißt es, dass er „völlig eingelassen in die Natur, in einem beinah unbewußten Anschaun verweilte“, aber das Anschauen ist eben nur – gemessen an der alltäglichen Erfahrung - beinahe unbewußt.„Langsam um sich sehend, ohne sich sonst in der Haltung zu verschieben, erkannte er alles, erinnerte es, lächelte es gleichsam mit entfernter Zuneigung an, ließ es gewähren, wie ein viel Früheres, das einmal, in abgetanen Umständen, an ihm beteiligt war. Einem Vogel schaute er nach, ein Schatten beschäftigte ihn, ja der bloße Weg, wie er da so hinging und sich verlor, erfüllte ihn mit einem nachdenklichen Einsehn, das ihm umso reiner vorkam, als er sich davon unabhängig wußte.“ Was ihm abhanden gekommen war, ist das Zugreifen auf die Dinge und die bewußte Deutung des Wahrgenommenen. Der „bloße Weg“ ist ohne jede Deutung der Weg, so wie er vor ihm liegt, ohne daß er sich genötigt fühlt, ihn zu gehen. Die „Zuneigung“ ist „freundlich entfernt“, nicht durch Fürsorge oder Zugreifen – Wollen oder - Müssen geprägt.„Auch war der Zustand, (der sich) in ihm herausbildete, so vollkommen und anhaltend, anders als alles andere, aber so wenig durch Steigerung über bisher Erfahrenes hinaus vorstellbar, daß er bei aller Köstlichkeit nicht daran denken konnte, ihn einen Genuß zu nennen.“ Die Vollkommenheit dieses „Erlebnisses“ ist zwar nicht durch Steigerung des Bisherigen vorstellbar. Aber in dem später entstandenen Text „Erlebnis 2“ denkt Rilke darüber nach, daß es bereits früher andere Momente gab, „in denen die Kraft dieses einen schon, wie im Samen, enthalten war.“Jeder kennt wohl solche Augenblicke der Sammlung und Stille, sei es beim Anblick einer Landschaft, vor der man staunend steht und nur noch schaut oder beim Betrachten eines Kunstwerkes, das plötzlich „spricht“. Vielleicht mehr noch als beim Sehen kann man beim Hören ganz im Gehörten „eingeruht“ sein. So heißt es in „Erlebnis 2“: “Er gedachte der Stunden in jenem anderen südlichen Garten (Capri), da ein Vogelruf draußen und in seinem Inneren übereinstimmend da war, indem er sich gewissermaßen an der Grenze des Körpers nicht brach, beides zu einem ununterbrochenen Raum zusammennahm, in welchem, geheimnisvoll geschützt, nur eine einzige Stelle reinsten, tiefsten Bewußtseins blieb.“ Der Vogelruf ist nicht mehr „draußen“, aber ebensowenig ist er „drinnen“. Draußen und drinnen sind zu einem „ununterbrochenen Raum zusammengenommen“. Der Körper grenzt nicht mehr das Innen vom Außen ab. Der Ton des Vogelrufes ist „an einer einzigen Stelle reinsten, tiefsten Bewußtseins“ bewahrt, von der Rilke nicht mehr sagen kann, wo diese Stelle ist. Die „Wahr-heit“ des Tones ist nicht innen oder außen. Es ist das Inständige Wahr-nehmen ohne Grenzen. Darum muß auch Rilke, um nicht von irgendwelchen Grenzen gestört zu werden, die Augen schließen,„um in einer so großmütigen Erfahrung durch den Kontur seines Leibes nicht beirrt zu sein, und es ging das Unendliche von allen Seiten so vertraulich in ihn über“. „Der Kontur“ des Leibes ist möglicherweise ein Wortspiel Rilkes. Einerseits ist es ein Anklang an die Französische Sprache „le conture“ – der Kontur. Dieser „elegant“ frankophone Ausdruck bezeichnet einfach die äußere Kontur des Leibes, die ihn von seiner Umgebung absondert und zu einem in sich stehenden Einzelnen macht. Der Gesichts-Sinn trennt weitaus stärker das Außen vom Innen, als das Hören. Darum schließt er die Augen, um sich ganz dem Gehörten hinzugeben und es ganz einzulassen.Andererseits könnte der Ausdruck auch eine Anspielung an Mozarts Don Giovanni sein. Der Komtur steht wie ein innerer Ruf immer wieder vor Don Giovanni. Er ist wie eine eingepflanzte Angst, ein Getrieben-sein, das jeden Augenblick seines Lebens durchzieht und jede Wahrnehmung bestimmt, das ihn letztendlich in seinen Untergang treibt. Mozart hat dieses hektische Getriebensein als die mahnende Angst erlebt, die ihn stets zur Arbeit gezwungen hat. Auch Rilke kennt einen solchen Komtur: es ist – wie bei Mozart - die Angst des Vaters:
„der du, mein Vater, seit du tot bist, oft „die dringend von früh an wringt ein wem, wem zu Liebe - niemals zufriedener Wille“. Niemals geht es darum, in Gelassenheit die Dinge so zu tun, wie sie ihrer Natur nach getan werden wollen, noch wie sie für Mich recht sind. Immer sind wir abhängig vom Beifall der Anderen, gewrungen vom Müssen. Dieses Wringen ist ein gewaltiger Druck, der stetig presst und zwingt, die Luft zum freien Atmen nimmt und das Letzte aus uns heraus presst – stets einem Wem zu Liebe. Oft bleibt sogar das Subjekt des "Wem" unentdeckt. Das was bleibt, ist lediglich der Druck, der zwingt.Bei den Fahrenden Leuten wird es vielleicht nur ein wenig deutlicher, weil sie abhängig sind vom Beifall des Publikums, das andernfalls nicht zahlt. Aber ist der Unterschied wirklich so groß? Der Wille, anderen zu gefallen ist niemals zufrieden: „er wringt sie, biegt sie, schlingt sie und schwingt sie, wirft sie und fängt sie zurück“, bis sie von ihren Kunststücken wieder auf den Teppich, der ihr Lebensmuster trägt, zurückgeworfen werden, den„von ihrem ewigen Aufsprung dünneren Teppich, diesen verlorenen Teppich im Weltall.“ Aber dieses stets gepresste Bemühen bleibt fruchtlos. Der „Ort, ... wo sie noch lange nicht konnten“ wo sie Lernende und Übende waren, „wo die Gewichte noch schwer sind“, dieses „mühsame Nirgends“ verschwindet ganz plötzlich und unversehens. Die Frucht des gewrungenen Lernens und Bemühens ist nicht das Aufbrechen der Freude über das endlich Gelungene und recht Getane. „Das reine Zuwenig unbegreiflich verwandelt – (springt um) in jenes leere Zuviel“. Jetzt ist nur noch gelangweilte und leere Routine die nicht befriedigt oder erfüllt. Das leere Zuviel ist die alltägliche Plage des routinierten Müssens.Auch die Zuschauer empfinden keine echte Freude über das Vorgeführte, können keinen echten Beifall spenden. Sie sind letztlich gar keine Zuschauer, weil sie stets in ihrer eigenen unerfüllten Langeweile verharren – „von dem eigenen blühenden Staub getroffen“, der niemals Frucht tragen kann, sondern zur Scheinfrucht ... der Unlust befruchteten“. Die Unlust ist nicht deutlich sichtbar, sie ist unter dünnster Oberfläche verborgen „ihre niemals bewußten, - glänzend mit dünnster Oberfläche leicht scheinlächenden Unlust“. Sie wird nicht nur vor den Anderen Verborgen, sie ist und bleibt stets: nicht bewußt. Unter dünnster Oberfläche verborgen, bleibt sie immer bestimmend und kann jederzeit voll zum Vorschein kommen. Der Beifall, den diese Zuschauer geben können ist die „scheinlächelnde Unlust“, nicht das „wahrhafte Lächeln .. auf gestilltem Teppich“ oder die „ewig gültigen Münzen des Glücks“.
Dieser vielfältige "Kontur", falls er überhaupt eine offene Wahrnehmung zuläßt, falls er nicht schreit: „Keine Zeit, völlig falsch, was soll das!“ oder sie durch gelangweilte Unlust färbt und verstimmt, verbiegt oder verstellt alle Wahrnehmung. „ging das Unendliche von allen Seiten so vertraulich in ihn über, daß er glauben durfte, das leichte Aufruhn der inzwischen eingetretenen Sterne in seiner Brust zu fühlen“. Das Wahr-Nehmen des Tones ist nicht mehr nur ein Hören. Der Kontur des Leibes ist verschwunden, der Ton ist „geheimnisvoll geschützt“, weder innen noch außen, sondern an „eine(r) einzige(n) Stelle reinsten, tiefsten Bewußtseins“. Zugleich verliert sich jede Enge, das Unendliche geht in ihn über und er spürt förmlich die Sterne in seinem Herzen, obwohl er die Augen geschlossen hat, ja wie„Alles in der klaren Lösung seines Herzens so vollkommen aufging, das der Geschmack der Schöpfung in seinem Wesen war“. Diese scheinbar nutzlosen Augenblicke, die keinerlei praktische Verwendbarkeit in sich tragen, verändern den Dichter dennoch, sein Verhalten gegenüber den Menschen wird freier.„Was ihn selbst anging, so verlieh erst sie ihm eine gewisse Freiheit gegen die Menschen - der kleine Anfang von Anmut, um den er leichter war, gab ihn unter diesen aneinander Hoffenden und Besorgten, in Tod und Leben Gebundenen, eine eigene Beweglichkeit.“ Der „Anfang von Anmut“ gibt ihm eine Leichtigkeit, die ihn von der Schwere der im „Tod und Leben Gebundenen“ unterscheidet. Befreit von der Schwere des Schicksals und des gebundenen Lebens möchte er diese Freiheit an die anderen Menschen weitergeben:„noch war die Versuchung in ihm, ihrem beschwerten sein Leichtes entgegenzuhalten“. Aber er hat seine Leichtigkeit nicht aus der Auseinandersetzung mit den Bindungen und Schicksalen der Menschen gewonnen, „nicht in der schweren Luft ihres Herzen“, ... „sondern draußen, in einer menschlich so wenig eingerichteten Geräumigkeit, daß sie es sich nicht anders als ‚das Leere‘ nennen würden“. Wollte er den anderen Menschen seine Art von Freiheit anempfehlen, so würde sie meinen, daß er ihnen ihr Schicksal, ihre Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit rauben wollte. Das was er anempfehlen würde, wäre so wenig „eingerichtet“, gesichert und gedeutet - ja, nicht einmal deutbar - daß es aus der Alltagssicht die reine Leere wäre. Er hat auch keine neue „Botschaft“ und keine neue „Religion“, die er Fahnen schwenkend und von Fanfaren begleitet künden könnte.„Alles, womit er sich an sie wenden durfte, war vielleicht seine Einfalt; es blieb ihn aufbewahrt, ihnen von der Freude zu reden, wo er sie zu sehr in den Gegenteilen des Glückes befangen fand, auch wohl ihnen einzelnes aus seinem Umgang mit der Natur mitzuteilen, Dinge, die sie versäumten oder nur nebenbei in Betracht nahmen.“ Lachania, Juni 2003 |