Leben und Handeln im Jetzt.

In unserer Teeschule, der Urasenke gibt es eine kleine Teehütte mit dem Namen Konnichi-An, Heute - Hütte. Danach nennt sich die Urasenke auch Konnichian. Sen Sōtan hatte diese winzige Hütte von 4 Quadratmetern gebaut, um mit Zenmeistern den Tee zu genießen. Einmal hatte er einen Zenmeister eingeladen, aber der verspätete sich.
Sōtan war verärgert, legte einen Zettel hin mit den Worten: "Heute habe ich keine Zeit mehr, komm morgen wieder!"
Als der Zenmeister dann doch noch kam, schieb er als Antwort auf den Zettel: "Wie kann ein fauler Mönch wie ich wissen, was morgen sein wird?" Sōtan war beschämt und beschloss, die Hütte Heute-Hütte zu nennen als Mahnung, immer im Augenblick zu leben.

Joshu und die Reisschale

Einmal fragt ein Mönch den Zen Meister Joshu: Bitte zeige mir den Weg!
Joshu fragte: Hast du Deinen Reis schon gegessen?
Ja, den habe ich schon gegessen.
Joshu: Dann geh und wasch Deine Schale!

Da kommt einer mit einer ernsthaften Frage zum Meister: Bitte zeige mir den Weg! In einer anderen Version bittet der Mönch, ihm das Selbst oder das Wesen Buddhas zu zeigen. Der Mönch ist einer, der es ernst nimmt und sich bemüht. Vermutlich befand er sich in einem Zustand des Leidens, denn sonst wäre er nicht Mönch geworden. Im In der Koansammlung Mumonkan wird der Mönch als junger Novize bezeichnet, der gerade ins Kloster eingetreten ist. Ernsthaft macht er sich auf den Weg und eifrig fragt er, wie er üben soll und wohin der Weg geht. Und dann antwortet der Meister, er möge seine Reisschale waschen!
Aber eigentlich gibt Joshu die einzig mögliche Antwort für Zen - Leute: lebe ganz im Augenblick und frage nicht nach dem, was vielleicht morgen sein wird.

In einem anderen Gespräch mit Meister Joshu geht es genau um die Frage, wie man Buddha werden kann:

Der Mönch fragte: Was ist, wenn ich Buddha suche?
Joshu: Eine ungeheure Energieverschwendung!
Und was ist, wenn ich keine Energie auf die Suche verschwende?
Dann bist du Buddha!

Der Buddha ist einer, der ganz und gar er selbst ist ohne jeden Rest von Zweifel oder Suche. Natürlich ist er keiner, der dumpf und stumpf, vielleicht mit einer Bierflasche in der Hand in den Fernseher starrt und das für ein Leben im Jetzt hält.
Die Grundlehre des Buddhismus ist, dass das Leben Leiden ist und dass es die Erlösung vom Leiden ist, wenn wir ganz und gar im Augenblick leben können. Aber können wir das?
Solange wir leben suchen wir , und solange wir suchen leiden wir. Das ist es ja, warum wir nach uns selbst suchen - weil wir uns nicht gefunden haben.

So einfach das Beispiel zu sein scheint, so komplex und umfassend ist es. Joshu‘s Antwort sagt: Lebe im Augenblick und nicht aus Konzepten und Entwürfen heraus. Lebe im Augenblick, den du erkennen musst und handele entsprechend.
Das Konzept, nach dem der Mönch fragt, ist die Frage nach dem Weg. Er möchte seinen Lebensplan und den Entwurf für seine Zukunft aus diesem Entwurf heraus gestalten. Joshu ermittelt den Augenblick, indem er fragt: hast du deinen Reis schon gegessen. Dann gibt er eine klare Handlungsanweisung für genau diesen Augenblick: Wasch deine Schale.
Für Mönche im Kloster scheinbar eine einfache Sache, aber wir leben in einer weit komplexeren und verwirrenderen Welt. Was ist hier das Leben im Augenblick, in der Gegenwart?

Zeit und Gegenwart

Der Philosoph und Kirchenvater Augustinus hat in seinen „Confessiones“ eine eigenartige Analyse der Gegenwart vorgelegt. Er untersucht das Wesen der Zeit und meint zunächst, Zeit sei Bewegung. Schließlich messen wir die Zeit an der Bewegung der Gestirne oder mit der Uhr. Aber wenn die Uhr stehen bleibt oder die Töpferscheibe sich nicht mehr dreht, gibt es dann keine Zeit mehr? Offenbar aber schon. Tief in uns spüren wir, wie die Zeit verrinnt - ohne Uhr und ohne Beobachtung einer Bewegung außen. Wir spüren, das wir keine Zeit mehr haben oder dass wir uns noch unendlich viel Zeit lassen können. Manchmal vergeht die Zeit unglaublich schnell, manchmal fließt sie zäh und träge dahin - und das unabhängig von den Minuten oder Stunden, die wir mit der Uhr messen.

Was ist es dann, was wir mit der Uhr messen? Augustinus sagt, das nur das Verfließen der Gegenwart gemessen werden kann. Nur Gegenwart „IST“, Vergangenes ist nicht mehr und Zukünftiges ist noch nicht. Etwas, was nicht ist, kann man nicht messen. Also „ gibt“ es eigentlich nur die Gegenwart, denn die Vergangenheit ist nicht mehr und die Zukunft ist noch nicht. Was wir messen ist das Vorüberfließen der Zeit von der Zukunft in die Vergangenheit. Was also ist Gegenwart? Dieses Jahr? Augustinus sagt nein, denn ein Teil des Jahres ist schon vergangen und ein Teil ist noch nicht. Die Analyse setzt er fort mit dem Monat, dem Tag, der Stunde und der Minute. Aber immer ist ein Teil schon vergangen und ein Teil ist noch nicht gekommen. Damit verschwindet die Gegenwart in ein winziges, nicht mehr existierendes Nichts, denn jeder Augenblick hat einen Teil, der schon vergangen ist und einen, der noch nicht ist.

Dennoch gibt es eine Zeit, die wir „lang“ nennen können. Aber wo ist die „lange Zeit“? Nicht in der Vergangenheit, denn, so Augustinus, das Vergangene IST nicht mehr und nicht in der Zukunft, denn das Künftige IST noch nicht. Aber auch die Gegenwart kann laut Augustinus nicht lang sein, denn jeder Augenblick besteht ja aus einem Teil, der schon vergangen ist und einem Teil, der noch nicht ist.

Erleben wir aber die Zeit wirklich als diese gleichmäßige Vorüberfließen von Zukunft über Gegenwart in die Vergangenheit? Warum gibt es dann Langeweile, in der die Zeit träge und langsam dahin fließt oder den Stress, in dem wir meinen, die Zeit flöge nur so dahin und wir schaffen einfach unsere Aufgaben in der vorgegebenen Zeit nicht. Warum dehnt sich die Zeit unendlich, wenn wir ungeduldig etwas erwarten oder befürchten und warum wird die Zeit unendlich lang in einem Zustand gebannter Angst? Warum scheint die Zeit zu verschwinden oder still zu stehen, wenn wir glücklich sind? Zeit und Gegenwart sind offenbar etwas Unbestimmtes, das von unserem Gemütszustand und unseren Erwartungen abhängt.

Zeitlichkeit in unseren Vorstellungen

Augustinus fragt, ob wir Dinge, die in der Zukunft liegen vorhersehen können, obwohl sie noch nicht sind.

Ich sehe die Morgenröte, ich verkündige den Aufgang der Sonne; was ich sehe, ist gegenwärtig, was ich verkünde, ist zukünftig; die Sonne aber ist in diesem Falle nicht das Zukünftige, denn sie ist bereits da, sondern ihr Aufgang selbst, der noch nicht ist, doch auch den Aufgang könnte ich nicht vorhersehen, wenn ich mir ihn nicht im Geiste vorstellte wie eben jetzt, wo ich dies sage.
Indes ist weder jene Morgenröte, die ich am Himmel sehe, der Sonnenaufgang, obgleich sie ihm vorangeht, noch jene seelische Vorstellung; ich sehe aber beide als gegenwärtig, so daß ich jene, die noch zukünftig ist, voraussagen kann. Das Zukünftige ist also noch nicht vorhanden, und was noch nicht ist, ist überhaupt nicht, und was nicht ist, kann man auch gar nicht sehen, sondern nur vorhersagen aus dem Gegenwärtigen, das bereits ist und somit gesehen werden kann.

Die Zukunft ist da und gegenwärtig, weil ich sie in meinem Geiste als seelische Vorstellung habe. Aber die Zukunft ist nicht unabhängig von der Vergangenheit. Wenn ich nicht oft und oft den Sonnenaufgang gesehen hätte, könnte ich ihn jetzt in der Gegenwart nicht als zukünftiges vorhersehen. Die Erwartungen des Künftigen speisen sich aus der Erinnerung an das Vergangene und aus dem Wahrnehmen des Gegenwärtigen. Wir können auch Dinge erhoffen und erwarten, die so noch nie gewesen sind: wir können uns in ein Paradies träumen, in dem wir glücklich sind, so glücklich, wie wir es noch nie zuvor waren. Aber auch diese Erwartungen speisen sich aus der Vergangenheit, wenn auch vielleicht als das Gegenteil des bisher Erlebten.

Wahrheit und Täuschung

Aber nehmen wir das Gegenwärtige wirklich wahr so wie es ist?

Drei Mönche gingen in der Nacht spazieren. Da schrie einer entsetzt auf: „Dort, eine Schlange!“ und er sprang zur Seite. Die anderen lachten: „Das ist doch nur ein Seil!“ Die Angst des Mönches hatte ihn das Seil als Schlange wahrnehmen lassen. Kurz darauf gingen die Mönche wieder in der Dunkelheit spazieren. Da schrieen die Mönche auf: “Da eine Schlange!“ und sprangen bei Seite. Unser Mönch aber lachte: „Das ist doch wieder nur ein Seil“! - und da biss ihn die Schlange.

Unsere Befürchtungen und unsere Hoffnungen zeigen uns eine Wirklichkeit, auf die wir handelnd reagieren. Der Mönch sieht eine Schlange und springt zur Seite. Aber das rechte Handeln für den Augenblick wird nur möglich, wenn wir den Augenblick so erkennen, wie er wirklich ist, unabhängig von unseren Vorstellungen. Für die "Kuttenbrüder" ist es ganz wesentlich, dass sie klar sehen, was jetzt IST - und wieviel mehr noch für uns, die wir im Getriebe der Welt leben und handeln müssen. Im Hekiganroku heißt es:

Hinter dem Zaun Hörner sehen und schon wissen: da weiden Rinder!
Hinter dem Berg Feuer sehen und schon wissen: da brennt Feuer!
sich an der einen Ecke gleich die drei anderen deutlich machen ...
das gehört für den Kuttenbruder zum täglichen Reis und Tee!

Gegenwärtig ist also nicht nur das, was sichtbar unmittelbar vor Augen liegt, sondern auch und vielleicht gerade das, was man erschließen muss. Aber um wievieles größer ist da die Gefahr einer Selbsttäuschung! Wenn wir schon das vor Augen Liegende mit unseren Konzeptionen verfälschen, wieviel mehr dann das Erschlossene!

In der Meditation und im Teeweg versuchen wir, unser Herz zu reinigen, damit wir die Dinge so wahr nehmen, wie sie sind. Dann ist unser Herz ein klarer Spiegel, der die Welt so spiegelt, wie sie ist, und die Welt spiegelt uns unser Herz zurück. Wenn wir etwa den Teelöffel nehmen, dann sind wir ganz und gar beim Teelöffel. Dann gibt es kein Vorher und kein Nachher, nur DIESEN Augenblick, in dem wir ganz beim Teelöffel sind.

Vergänglichkeit

Zenmeister Dōgen sagt, wir können nicht sagen, dass der Winter zum Frühjahr wird. JETZT ist Winter, JETZT ist Frühjahr. „Brennholz wird zu Asche und kann nicht umgekehrt wieder zu Brennholz werden. Obwohl es so ist, meint Dōgen, kann man nicht sagen, das Brennholz sei das Frühere und die Asche das Spätere. Die Asche hat ein Vorher und das Brennholz hat ein Nachher, aber JETZT ist Brennholz Brennholz und ist Asche Asche. So kann man auch nicht sagen, dass das Leben zum Tod wird. Jetzt ist Leben und JETZT ist Tod. Leben und Tod sind zwei prinzipiell unterschiedliche Dinge und es wird nicht das Eine zum Anderen. Jetzt bin ich ein alter Mann, früher war ich ein Kind. Aber ist das Kind ein alter Mann geworden? Das Kind ist nicht mehr, aber es ist das Vorher des alten Mannes. Und was ist das Nachher? Sollte das Nachher etwa Angst machen?

JETZT nehme ich den Teelöffel, JETZT die Teedose, JETZT fülle ich den Tee in die Teeschale ...

Aber wie ist es im Leben? Können wir immer so im Augenblick leben? Augustinus sagt, dass JETZT in der Morgendämmerung auch der Sonnenaufgang und die Sonne schon da sind. Sie sind zwar nicht konkret am Himmel, aber sie sind in unserm Herzen und unserem Sinnen. Der Mensch ist eben ein Wesen, das immer schon vorausschaut auf das Kommende.

Heidegger: Dasein und Zeitlichkeit: Die Sorge

Martin Heidegger untersucht in seinem Werk „Sein und Zeit“ die Struktur des menschlichen Daseins. Das DA-SEIN ist nicht die blosse Existenz des Menschen, es ist der Ort, in dem sich „das Sein lichtet“, das heißt hell und bewusst wird. Die Sonne, die noch nicht am Himmel steht ist Da in unserem Sinn. Ja, der Sonnenaufgang, damals in Griechenland vor 20 Jahren, er ist DA, JETZT, wo ich mich an ihn erinnere. Ja, er ist vielleicht konkreter, als die Dinge um mich herum, die ich überhaupt nicht wahr nehme, weil ich in Gedanken und mit meinem Fühlen ganz bei dem Sonnenaufgang damals bin. Wie oft leben wir, ohne die Dinge um uns herum wahr zu nehmen, weil wir ganz in Gedanken aus der Vergangenheit oder in Träumen über die Zukunft gefangen sind.

Es ist eine Übung der Achtsamkeit, die Dinge um uns herum wahr zu nehmen, wie sie sind. Aber was nehmen wir wahr? Auch nur eine Auswahl, alles andere blenden wir aus. Wir sehen vielleicht, dass die Fenster unbedingt wieder einmal geputzt werden müssten, aber das Ticken der Uhr an der Wand oder gar den Verkehrslärm draussen haben wir ausgeblendet. Unsere Wahrnehmung ist und muss immer selektiv sein - es gibt viel zu vieles um uns herum. Einer meiner Lehrer sagte, dass wir in der Wissenschaft immer mit Konzepten und Entwürfen arbeiten müssen, wenn wir die Wirklichkeit untersuchen. Man kann eben nicht einen Wissenschaftler in einen Raum führen und sagen: „Jetzt beobachte mal!“ Er wird und er muss die Gegenfrage stellen „WAS soll ich den beobachten! Die Fliege an der Wand, das Wechseln des Lichtes am Abend, das Ticken der Uhr an der Wand?“ Aber automatisch wird dadurch die Wahrnehmung der Wirklichkeit, die er beobachtet eingeschränkt. Auch in unserem Alltag machen wir unbewusst immer eine Auswahl dessen, was wir wahr nehmen. Unser Konzept von Wirklichkeit zeigt uns eine ganz bestimmte Wirklichkeit, alles andere blenden wir aus.

Wenn wir eine Vorführung der Teezeremonie machen und ich den Teelöffel nehme, bin ich ganz und gar beim Teelöffel - ganz im Augenblick und bei den Dingen. Aber das Publikum, die Zuschauer - die nehme ich nicht wahr. Sonst könnte ich mich nicht auf den Teelöffel konzentrieren. Die Zeremonie wir ein Fluss in der Zeit: JETZT DIES, JETZT DIES. Es ist kein Konzept meines Handelns mehr da, ich tue einfach. Und dennoch gibt es ein Konzept: schließlich habe ich die Zeremonie tausende mal geübt! Das ist im Alltag schon schwieriger, wir können bestimmte Situationen nicht tausend mal üben, sie sind möglicherweise nur ein einziges Mal im Leben. Im Alltag im Augenblick sein ist unendlich viel schwieriger als in der Meditation.

Das Da-Sein ist laut Heidegger immer schon zeitlich. Die Zeit ist nichts, was wir aussen messen können, sie ist ein innerer Sinn. Kant meint, wir können das verfließen von Zeit in der Außenwelt nur beobachten, weil wir tief in unserem Inneren die Zeit und die Zeitlichkeit spüren. Die Grundstruktur der Zeitlichkeit des Da-Seins ist - so sagt Heidegger - die Sorge: ich sorge mich um mein Sein. In Sein und Zeit gibt es den schönen Satz: „Das Dasein ist dasjenige Seiende, dem es in seinem Sein um sein Sein geht“. In der Sorge geht es mit primär darum, mein Sein - Können abzusichern. Darum die Angst vor der Schlange, die mein Sein gefährden könnte. Darum auch sorge ich mich um das Abendessen und weiss, ich muss unbedingt noch zum Bäcker, sonst bekomme ich kein Brot mehr und dann muss ich hungern. So stürmen die Dinge des täglichen Lebens ständig auf uns ein und wollen „be-sorgt“ werden, eben aus der Sorge um mein Sein. Aber im Alltag wird die Sorge zum Besorgen. Ich muss dies und das besorgen und gerate immer mehr in Stress und Hektik vor lauter Soge, im Besorgen ganz wichtiges zu vergessen. Aber je mehr die Dinge schreien:"Besorg mich, tu dies, tu das!“ desto mehr regt sich das Empfinden, dass dieses Leben nicht alles sein kann. Vielleicht vergessen wir in der Hektik des Besorgens das Wichtigste! Nämlich dass mein Sein gelingt. Aber was ist es, das mein Sein gelungen sein lässt?

Genau darum geht die besorgte Frage unseres Mönches an Meister Joshu: bitte zeige mir den Weg. Und was antwortet der? Besorge das, was unmittelbar vor dir ist, wasch Deine Reisschale.

Im Kloster ist es recht leicht, sich auf das unmittelbar Nächstliegende zu beschränken. Ich werde schon nicht verhungern, dafür sorgt dann schon die Gemeinschaft der Mönche. Also müssten eigentlich alle Mönche glücklich und gelassen sein? Sind sie aber nicht. Die Geschichte des Buddhismus ist voll von Streit und Neid - meine Reisschale ist sauberer als deine und meine Erleuchtung ist aber besser als deine. Darum ist meine Lehre die richtige und deine die falsche!
Ja, wenn ICH in einer bestimmten Weise übe und ein anderer kommt und sagt, dass sei ganz falsch, dann löst das eine Fülle von Emotionen aus. Sollte der Andere recht haben? Dann bin ich auf dem falschen Weg! Dann war all mein Bemühen um den WEG umsonst und meine Sorge um das gute Gelingen meines Seins möglicherweise falsch! DAS KANN NICHT SEIN! Also ist der Andere unbedingt mein Gegner, der mich aus der Sicherheit meines Tuns herausreisst. Der unbekannte Dichter Kanshan schrieb einmal: "Neid und Missgunst haben ganze Tempel nieder gebrannt!"

Dasein entwirft sich immer schon in der Sorge in die Zukunft voraus. Aus diesem Entwurf gestalten wir das Jetzt. Wenn ich heute Abend Brot essen will, dann muss ich JETZT einkaufen gehen! Wenn ich im Alter von meiner Rente leben will, dann muss ich JETZT Geld verdienen um später versorgt zu sein. Der Alltag funktioniert immer aus diesem Vorausentwurf, der das Jetzt bestimmt.

Kairos: der rechte Zeitpunkt

Aber manchmal wird die Sache noch schwieriger. Es gibt den richtigen Augenblick, um eine bestimmte Sache zu tun. Wenn ich mit 60 anfange, an meine Rente zu denken, dann ist das zu spät. In der alten griechischen Philosophie gibt es den Begriff des Kairos. Kairos ist der genau richtige Augenblick, eine bestimmte Sache zu tun. Es gibt die rechte Zeit, um den Weinstock zu bescheiden und den genau rechten Augenblick, die Reben zu ernten. Es gibt den rechten Zeitpunkt, das Korn zu Säen und den, es zu ernten. Verpassen wir diesen Kairos, ist es zu spät. Beim Wein und beim Getreide ist das relativ einfach. Auch da muss ich den rechten Augenblick bestimmen, indem ich in die Zukunft schaue. Morgen wird es regnen, darum muss das Getreide heute eingefahren werden. Es wäre zwar besser, wenn es noch ein wenig mehr reifen würde, aber es wird eine Regenperiode kommen. Auch in unserem Beispiel von Meister Joshu geht es um die rechte Zeit. Joshu bestimmt die rechte Zeit für ein bestimmtes Tun durch die Frage: Hast du deinen Reis schon gegessen? Ja, dann ist JETZT die Zeit, die Schale zu waschen!

Aber bei den wirklich wichtigen Dingen unseres Lebens ist diese Entscheidung nicht ganz so einfach. Für Politiker ist es oft eminent wichtig, den richtigen Zeitpunkt zu kennen, in dem sie sich um ein bestimmtes Amt bemühen. Wenn die Zeit nicht reif ist, kann eben niemand Bundekanzler werden. Und vielleicht geht der richtige Zeitpunkt einfach an mir vorüber. Ich hätte zwar die entsprechenden Talente, aber da sitzt JETZT jemand anders. Wann ist der richtige Zeitpunkt, den richtigen Partner zu finden? Und WER ist der richtige Partner? Wann ist der richtige Zeitpunkt sich zu trennen? Wann einen ungeliebten Job aufzugeben?

Kairos - die rechte Zeit

Der Kairos ist der richtige Zeitpunkt, an dem man HANDELN muss. Das Dasein besteht eben nicht nur aus Reflexion und besinnlichem Denken. Wir müssen Handeln. Aber jede Handlung ruft eine Reaktion hervor, das Karma. Wenn ich jetzt nicht zum Einkaufen fahre, dann ist es mein Karma, dass ich heute abend nichts zum Essen habe. Zum richtigen Handeln gehört es nicht nur, das Richtige zu tun, wir müssen es auch zum richtigen Zeitpunkt tun. Unser Mönch fragt nach dem Weg. Joshu fragt dagegen: Hast du deinen Reis schon gegessen? Dann ist JETZT der richtige Zeitpunkt, für die richtige Handlung, nämlich die Schale zu säubern. Dann treffen das richtige Denken, das richtige Tun und der richtige Zeitpunkt zusammen. Wer das vermag, ist Buddha! Aber die Dinge sind nicht immer so einfach, wie das Reinigen einer Reisschale.

Bhagavadgita: Handeln und Karma

Im indischen Epos Bhagavadgita zieht der König Arjuna auf das Schlachtfeld, um die letzte Entscheidungsschlacht zu schlagen. Zusammen mit seinem Wagenlenker fährt er zwischen die Kampflinien und da sieht er auf der Gegenseite seine früheren Freunde, seine Familie, lauter tapfere und gute Männer, die er töten muss, um die Schlacht zu gewinnen. Nun weiß er nicht mehr, was er tun soll. Soll er aufgeben - dann würde sich das ihm bestimmte Schicksal nicht erfüllen. Soll er kämpfen - dann fallen drüben viele gute Männer und frühere Freunde. Da gibt sich sein Wagenlenker in seiner wahren Gestalt erkennen als der Gott Krishna und er belehrt Arjuna, dass alle Dinge ihre Zeit des Entstehens und des Vergehens haben und das letztlich Alles Eins ist. Sein Wagenlenker gibt sich als Gott Krischna zu erkennen und belehrt ihn über die Folgen des Handelns und das Karma.

Arjuna_Krishna

Arjuna und Krishna mitten im Schlachtfeld des Lebens

Arjuna sprach:
­ Durch das Wort, was du aus Gefälligkeit zu mir gesprochen hast zum höchsten Geheimnis, welches das Überselbst genannt wird, ist meine Verwirrung verschwunden.
Vom Entstehen und Vergehen der Wesen habe ich ausführlich von dir gehört, Lotusäugiger, und auch von deiner unvergänglichen Majestät,
In der Art, wie du dich selbst beschreiben hast, o höchster Gebieter, möchte ich deine göttliche Gestalt schauen, o höchstes Wesen.

Der Herrliche sprach:
Schau meine Gestalten, zu Hunderten, und nun zu Tausenden, die vielfältigen, himmlischen, von verschiedener Farbe und Gestalt.
Schau hier jetzt zu einem vereint das ganze Universum, mit belebtem und unbelebten Wesen, in meinem Körper, Arjuna, und was du sonst noch zu schauen wünscht.

Nachdem der große Herr des Yoga, Hari, so gesprochen hatte, o König, zeigte er dem Arjuna die höchste göttliche Gestalt.
Mit zahllosen Mündern und Augen, mit zahllosen wundervollen Anblicken, mit zahllosen himmlischen Schmuckstücken, mit vielen himmlischen hochgehaltenen Waffen.
Himmlische Girlanden und Gewänder tragend, mit himmlischen Wohlgerüchen gesalbt, den aus allen Wundern bestehenden unendlichen Gott mit überallhin gewandtem Antlitz.
Wenn am Himmel das Licht von tausend Sonnen gleichzeitig aufgestiegen wäre, das wäre vergleichbar mit dem Glanz dieses großen Wesens.

Arjuna sah dann das ganze vielfältig unterteilte Universum dort vereinigt im Körper des Gottes der Götter. Obwohl der Gott Krischna das gesamte Universum ist, ohne Anfang und Ende, zeigt er sich in vielfältigen Gestalten in der Zeit. JETZT ist die Zeit für Arjuna gekommen, die Schlacht zu schlagen und der große König zu werden. Einige Jahre später kann er unternehmen, was er will, alles schlägt fehl - SEINE Zeit ist vorbei.

Aber wer kennt schon den richtigen Zeitpunkt, wer weiss schon, ob jetzt SEINE Zeit ist? Nur der Erwachte! In Indien sagt man, dass der Weise die Zeit besteigt, wie man ein wildes Pferd besteigt. Arjuna hat einen göttlichen Wagenlenker, der ihm sagt, was er tun muss, aber wir normalen Menschen haben keinen Lenker und Führer für unser Handeln.

In der Ilias ist das Schicksal von Achilleus fest mit dem seines Gegners Hektor verbunden. Achilleus kennt sein Schicksal, weil er ein Halbgott ist. Seine Mutter ist die Meeresgöttin Thetys, die ihm gezeigt hat, dass er ruhmvoll vor Troja fallen wird, wenn er Hektor tötet, dass er im anderen Fall aber alt und unbekannt in der Heimat sterben würde. Achilleus entscheidet sich, Rache für den Tod seines geliebten Freundes Patroklos zu nehmen und Hektor zu töten. Bevor er aber in den Kampf zieht, schneidet er sich seine Haare ab und opfert sie den Flußgott seiner Heimat, weil er weiss, dass er die Heimat nie wieder sehen wird. Wir anderen handeln und wir müssen handeln, ohne dass wir die Möglichkeit haben, die Konsequenz unseres Handeln wirklich voraus zu sehen. Wir hoffen, dass es schon gut gehen wird.

Das Irrsal und die "reissende Zeit"

Wir Sterblichen sind in den Zeiten des Wandels und des „Wechsels in der Not und der Irrsal“, wie Hölderlin schreibt. Die “reissende Zeit” ist ein Wort Hölderlins. Im Hymnus an den Archipelagos, das Meer der Griechen, spricht Hölderlin das Griechenmeer an:

Töne mir in die Seele noch oft, daß über den Wassern Furchtlosrege der Geist, dem Schwimmer gleich, in der Starken Frischem Glücke sich üb` und die Göttersprache das Wechseln Und das Werden versteh`

Das Wechseln und das Werden in der Zeit reisst alles weg und bringt Neues hervor, ob wir es wollen oder nicht. Der Schmimmer kennt die Gefahren über dem Abgrund und er genießt das Glück des Wechselns und Werdens, wir anderen haben oft Angst vor der unbekannten Tiefe.

Der japanische Zen Meister und Philosoph Zen Meister Dōgen schreibt:

Da der Buddhaweg ursprünglich über den Unterschied von Fülle und Kargheit hinausgeht, gibt es Leben, Geburt und Entstehen und gibt es Sterben und Vergehen, gibt es Erwachen und Irren, gibt es leidende Wesen und Buddhas. Die Blütenblätter fallen nur in unseren Neigungen und das Gras wuchert nur in unserem Ärger!”

Gut, wenn wir uns ärgern, wenn die Blütenblätter fallen oder das Gras wuchert, sind wir selber schuld. Aber manchmal sind die Veränderungen schon etwas heftiger und die Zeit ist eben doch reissend, so dass “die Not und das Irrsal unter den Menschen” zu gross wird.

Wenn die reißende Zeit mir
Zu gewaltig das Haupt ergreift und die Not und das Irrsal
Unter Sterblichen mir mein sterblich Leben erschüttert,
Laß der Stille mich dann in deiner Tiefe gedenken.

Die Stille ist die Stille in der Tiefe des Griechenmeeres. Oben toben die Stürme und reissen die Wellen alles fort, aber unten in der Tiefe ist die unerschütterliche Stille. Zwar leben wir Menschen nicht in dieser Stille, aber wir können ihrer “gedenken” und ein wenig gelassener werden. Ein wenig stürmisch und reissend war die Zeit hier im Myoshinan schon, darum galt es, der Stille zu gedenken. Darum haben wir draussen auf der Terrasse einen Meditationssitz gebaut.

Stille und das "rasende Handeln"

Aber Stille und Meditation in Zeiten des stürmischen Wechsels? Muss man da nicht handeln anstatt still rum zu sitzen? In seinem sogenannten Brief über den Humanismus schreibt Heidegger:

Wir bedenken das Wesen des Handeln noch lange nicht entschieden genug. Man kennt das Handeln nur als das Bewirken einer Wirkung. Deren Wirklichkeit wird geschätzt nach ihrem Nutzen. Aber das Wesen des Handeln ist das Vollbringen. Vollbringen heißt: etwas in die Fülle seines Wesens entfalten”

Das alltägliche Handeln ist oft ein blindes Rasen und Bewirken-Wollen, ein in den Griff bekommen Wollen. Über dieses blinde und wütige Machen schreibt schon Hölderlin im Archipelagos:

Aber weh! es wandelt in Nacht, es wohnt, wie im Orkus, Ohne Göttliches unser Geschlecht. Ans eigene Treiben Sind sie geschmiedet allein und sich in der tosenden Werkstatt Höret jeglicher nur und viel arbeiten die Wilden Mit gewaltigem Arm, rastlos, doch immer und immer Unfruchtbar, wie die Furien, bleibt die Mühe der Armen.

Ans eigene Treiben sind sie geschmiedet, das heißt unfrei und in Ketten gebunden. Je hektischer und heftiger sie das eigene Treiben betreiben, desto unfreier und gefesselter an ihr Treiben sind sie. Das eigene Treiben ist ohne das Licht der Einsicht, es ist wie das Wandeln in der Nacht oder im Abgrund des Orkus, der dunkeln Unterwelt. Ans eigene Treiben geschmiedet sind sie “allein”, das heißt nicht nur allein an das Treiben gefesselt, sondern im blinden Treiben ist zugleich jeder allein und für sich. “Und SICH” höret jeglicher nur, die Wilden, die reglos ihren Arm bewegen, aber stets fruchtlos bleiben. Erst der Schritt zurück und die Besinnung auf die Stille lässt uns wieder in die Harmonie mit dem Ganzen einkehren. Darum ist es gerade in Zeiten des heftigen Wechsels wichtig, den Schritt zurück ins Nicht – Tun und in die Stille zu machen.

Aber können wir nicht einfach immer in der Stille weilen? Ist es nicht unser Wünschen und Wollen, das uns in das Irrsal treibt und die Not, nicht zu wissen, was man tun soll? Können wir nicht einfach wunschlos und ohne Vorausentwurf für unsere Zukunft einfach nur im Augenblick leben?

Nein, wir müssen, wenn wir leben wollen immer wieder handeln, handeln in allem Wechsel, meistens ohne wirklich die Konsequenzen unseres Handeln voll zu verstehen. Wir handeln immer aus der Sorge und aus Entwürfen. Aber von Zeit zu Zeit ist der „Schritt zurück“ wie Heidegger sagt nötig, damit wir wieder die Stille finden.

Im Myoshinan haben wir unseren Meditationssitz draussen in der Natur gebaut. Er steht nun auch allen Gästen des Myoshinan zur Verfügung. Er ist geschützt vor den heftigen Winden, die vom Norden her von der Hochebene der fränkischen Alp wehen. Tagsüber heizt die Sonne die Hausmauer auf und nachts kann man geschützt in der Wärme der Mauern sitzen und der Stille lauschen. Gott sei Dank liegt das Myoshinan weitab vom Verkehrslärm und anderen Lämrquellen. Nur hin und wieder hört man ein Auto oder den Nachbarn, der das Heu einfährt.

Vom Sitz aus hat man einen wunderbaren Blick in die Landschaft und auf die Kirche mit Kirchhof. Neben dem Sitz steht der Zitronenbusch mit herrlich duftenden Blüten. Abends, wenn die Welt still wird, beginnen die Vögel zu singen. Sie werden immer lauter – oder scheint das nur so, weil die Welt stiller wird? Die Zitronenblüten duften und dann rauscht der Bach. Seltsamerweise ist er tagsüber kaum zu hören. Oder ist es auch, weil die Welt stiller wird? Der Bach murmelt immer lauter und schließlich verstummen auch die Vögel.

Nur noch – STILLE!  

meditation

Still!
Ward nicht die Welt soeben vollkommen?
Die Wiesen und der Zitronenbaum duften.
Die Glocken riefen zum Abendgebet,
die Vögel singen sich in den Schlaf.
Der Bach murmelt sein ewiges Lied.

Der Himmel ist weit und leer.
Das Licht sinkt hinunter.

Still!

Soben ward die Welt vollkommen!


autor: g.staufenbiel   | © myōshinan chadōjō / teeweg.de