Mein lieber Schwan!

Eigentlich wollte ich ja nur einen Text über Hölderlins ‚Hälfte des Lebens‘ (Hälfte des Lebens) überarbeiten und zum Druck vorbereiten. Aber das ist ja dann immer so eine Sache, wenn man alte Texte überarbeiten will. Es kommen so viele neue Ideen, dass es dann doch ein neues Buch wird.

schwaene
Das kleine Gedicht von gerade einmal 14 Zeilen – oder wenn man den Titel mitzählt 15 – scheint ganz naiv und sinnlich zu sein. Darüber ein ganzes Buch schreiben? Aber wenn man anfängt, den Text genauer zu untersuchen, dann tauchen ganz viele Fragen auf.

Hälfte des Lebens
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
klirren die Fahnen.

Warum zum Beispiel hängt das Land mit gelben Birnen und nicht mit goldenen Äpfeln oder roten Kirschen in den See? Die erste Strophe ist ja ganz auf die Liebe gestimmt. Die Schwäne sind trunken von Küssen. Also müssten doch die Früchte eher Äpfel sein, denn das sind die Früchte der Liebesgöttin Aphrodite. Aber nein, Hölderlin will unbedingt gelbe Birnen haben!
Gut, goldene Äpfel passen vom Rhythmus nicht, aber wie wäre es mit der Zeile:

Mit roten Äpfeln hänget…

Und dann die Schwäne! Sie sind trunken von Küssen, aber in der griechischen Mythologie sind es doch die heiligen Vögel von Apollon, dem genauen Gegenteil der Trunkenheit!
Ja, ich weiß schon, die Dichter galten in der Antike als Schwäne, jedenfalls waren beide sehr eng miteinander verwandt. Schließlich singen die Schwäne ganz wunderschön. Sagen jedenfalls die Griechen. Hat jemand schon einmal einen Schwan singen hören? Ich jedenfalls nicht, es ist eher ein wildes Kreischen, was sie hervorbringen.
Aber da gibt es ja doch den Singschwan, vielleicht ist der das Vorbild für die Dichter? Fehlanzeige! Singschwäne kommen im Süden nicht vor, sie sind ausgesprochen nordische Tiere. Die Griechen können also keine Singschwäne gekannt haben.
Man sagt, dass der Sänger Orpheus, nachdem er gestorben war, zu einem Schwan wurde. Schon, aber erst in der Unterwelt. Und dann auch noch, wie es in Platons Staat steht, weil er die Frauen hasste und nicht von einer Frau geboren werden wollte. Also wählte er einen Schwan als Mutter.
Sokrates erzählt kurz vor seinem Tod die Geschichte vom Schwanengesang. Die Schwäne sollen so schön singen, wenn sie ihren Tod heran nahen fühlen. Aber dann gehen sie weit weg, wo sie niemand hören kann.
Immer wieder der Zusammenhang von singenden Schwänen und dem Tod!

Mein lieber Schwan, man kommt ganz schön ins Schwitzen, wenn man dem Hölder zu dicht auf die Feder schaut! Wie lautet das schöne Sprichwort?
Wenn’s dem Esel zu wohl ist, schreibt er ein Buch über den Hölder!

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