MEI - NAME

Dao De Jing Nr 1

MEI - Name

名可名 非常名 - MEI KA MEI   HI JÔ MEI

Die zweite Zeile des ersten Kapitels spricht vom Namen, dem MEI. Sie ist im Aufbau völlig identisch mit der ersten Zeile, lediglich DO ist ersetzt durch MEI:

道可道 非常道。 - DÔ KA DÔ     HI JÔ DÔ
名可名 非常名。 - MEI KA MEI   HI JÔ MEI

Für die Übersetzung ergibt sich das selbe Problem wie in der ersten Zeile. Mei ist einmal als Substantiv, einmal eher verbal zu verstehen. Der NAME, den man NENNEN kann.
Das Schriftzeichen zeigt die Sichelmei - Name des Halbmondes, der hinter einem Berg hervorlugt: . Es ist also Abend bzw. Nacht. Unter dem Radikal für den Abend steht das Radikal "Mund" . Das Bild zeigt jemanden, der in der Dunkelheit den Mund öffnet und ruft. Wenn man den Namen weiss, kann man ihn auch in der Dunkelheit rufen um Den oder Das so Gerufene herbeizurufen. Darum ist es wichtig, den Namen zu kennen. Ist man im Besitzt des Namens, so hat meine eine gewisse Macht über den Namensträger. Der Schamane kann, wenn er die Namen der Geister kennt, diese herbeirufen und um Hilfe bitten. Kennt er nicht die richtigen Namen, so wird sein Ruf entweder ohne Folgen bleiben oder sogar schaden bringen, weil die falschen Geister gerufen werden.

In allen alten Kulturen werden deshalb die heiligen Namen mit größter Ehrfurcht behandelt und nur mit Vorsicht oder gar nicht ausgesprochen. "Wenn man den Teufel nennt, kommt er gerennt!" Es ist immer ein TABU, die heiligen Namen zur unrechten Zeit auszusprechen.
Darum haben die Götter oder die heiligen Dinge Ersatznamen, die man auch im Alltag aussprechen kann. In der Heiligen Schrift der Juden wird der Gottesname niemals geschrieben. Er ist ersetzt durch ein Tetragramm, das man nicht aussprechen kann, weil die Vokale fehlen: JHWH. Bei der Lesung der Texte wurde und wird immer ein Ersatztwort gelesen, etwa "Shamaim" - Himmel. Das "HIMMEL - Reich" ist also das Reich dessen, dessen Namen man nicht nennen darf oder kann. Martin Buber vermutet, dass der Name des Gottes so etwas wie ein ekstatischer Ausruf war wir: JAHUU. Die Nabiim, die keine "Propheten" waren, sondern singend und tanzend durch das Land zogen, um ihren Gott zu preisen, durften - wenn sie in einem ekstatischen Zustand waren - den Namen ausrufen, weil der Gott ohnehin anwesend war. In ihren ekstatischen Zustand wäre es wohl sogar unmöglich gewesen, das Rufen des "Namens" zu vermeiden. In diesem Zustand "spricht" sich der Name ganz von selbst. Es ist dann nicht mehr der Name, der aus eigener Machtvollkommenheit gerufen wird.

Das Tabu des Namens kann mehrere Gründe haben.

Wird der heilige Name gerufen, ohne dass sich der Mensch durch Gebete, Meditation oder Tanz vorbereitet hat, so könnte der kommende Gott oder Dämon in seiner Macht den Menschen zerstören.

Kennt man den Namen der Schutzgottheit einer Stadt, so kann man diese Gottheit anrufen und etwa im Kriegsfall beschwören um der angegriffenen Stadt zu schaden.

Wird der Name im Alltag allzuoft ohne nachzudenken und ohne entsprechende Ehrfurcht ausgesprochen, so verliert er seine heilige Wirkung. Im frühen Christentum wurde die heiligen Dinge "Brot und Wein" nicht mit den heilige Namen genannt. Im Alltag benutzte man nicht die heiligen Worte αρτος Artos und οινος Oinos sondern nahm Ersatzworte: ψωμι Psômi und κρασι Krassi, die heute noch in der griechischen Volkssprache für Brot und Wein benutzt werden.

Ein sehr "modernes" Problem mit der Nennung des Namens hat Hölderlin. In seinem Gedicht "Heimkunft - An die Verwandten" will er den Dank sprechen, damit

Eine Stunde des Tags .... und auch / solche Freude wie jetzt
Wie es gehört ... , schicklich geheiliget sei.

Wenn wir segnen das Mahl, wen darf ich nennen, und wenn wir
Ruhn vom Leben des Tags, saget, wie bring ich den Dank?
Nenn ich den Hohen dabei? Unschickliches liebet ein Gott nicht, ...
Schweigen müssen wir oft; es fehlen die heiligen Namen,
Herzen schlagen und doch bleibet die Rede zurück?

Die alten Namen, mit denen man bisher den Dank gesprochen hat, sind vernutzt, neue Namen fehlen. Hölderlin versucht, die "Engel des Jahres" oder die "Engel des Hauses" zu nennen, aber diese Namen, die eigentlich keine Namen sind - die Engel sind lediglich die Boten - reichen nicht aus. Der Dichter will nicht nur den Dank sprechen. Er ruft die "Engel" mit dem beschörenden Lockruf "Kommt! in die Adern alle des Lebens". Es ist wie der beschwörende Ruf des Priesters, der die Geister ruft, damit sie das Leben erneuern und die Adern alle erfüllen, nicht nur die der Menschen, auch die der Natur und die der Geschichte, damit eine neue, glückliche Zeit anbricht, wenn "Alle freuend zugleich" das Himmlische sich teilt.
Dann ist EINS : ALLES! und das Freudige belebt Alles.
Aber die heiligen Namen fehlen und der Ruf kann nicht gerufen werden.

Sorgen wie diese, muss, gern oder nicht, in der Seele
Tragen ein Sänger und oft, aber die anderen nicht.

Die Unmöglichkeit, den NAMEN zu nennen im Vers 2 (MEI KA MEI HI JÔ MEI) könnte noch in die schamanistischen Uranfänge des Dao De Jing reichen, als es gefährlich war, die Geister zu rufen. Es gibt aber auch philosophische Gründe für die Unmöglichkeit, den Namen zu nennen. Jeder Name, den man nennt, grenzt das Genannte von Anderem ab, das mit einem anderen Namen gerufen werden will. Dao aber ist All-gemein. Ein gesonderter Name ruft ein Einzelnes, das nicht mehr das All-gemeine ist. Dennoch gibt es im Dao De Jing eine Fülle von Namen oder Bildern für das Dao. Es sind nicht eigentlich Namen sondern Bilder, die jeweils einen besonderen Aspekt des Dao hervorheben. Solche Bilder sind das Wasser, das Tal, der Blasebalg, das Rad usw.
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