DAO - Das Namenlose

Dao De Jing Nr 1

DAO - Ursprung von Himmel und Erde.

NICHT und HABEN


無名 天地 之 始 - MU MEI   TEN CHI NO SHI
有名 萬物 之 母 - YU MEI   MAN BUTSU NO BÔ


Nicht Namen: Himmel - Erde Ursprung
Haben Name: 10 000 Dinge Mutter


Die beiden folgenden Verse sind wieder völlig parallel aufgebaut. Die beiden Zeilen beginne mit einem Gegensatz:

無名 - 有名 MU MEI - YU MEI

MU MEI - NICHT NAME, YU MEI - HABEN NAME. Hier wird bereits eine Polarität genannt. Da ist Etwas ohne Namen, dem ein Etwas mit Namen gegenübersteht.
MU - NICHT
MU - NICHT
Das Schriftzeichen für MU - Nicht kann unterschiedlich gedeutet werden. Die drei waagerechten Striche zeigen die drei Bereiche des daoistischen Weltbildes, Himmel, Erde und dazwischen den Menschen. Am Himmel ist ein kleiner Strich, der eine Dynamik der Darstellung erzeugt. Unter dem Erd-Strich sind viele kleine Striche, die als "Feuer" gedeutet werden können. Der Himmel und die Erde sind nicht einfach nur unten und oben, sie wirken sehr heftig aufeinander ein. Von der Erde treibt eine Kraft heftig nach oben, der Himmel ist viel ruhiger und klarer, aber er "antwortet" auf die Kräfte, die von der Erde aufsteigen. Antwortet er oder ruft er nicht vielmehr seinerseits die Antwort der Erde hervor?
KI - Moku : Holz
KI / Moku
Baum / Holz
Auf jeden Fall ist der Raum zwischen Himmel und Erde angefüllt von vielen Parallelen Strichen, den 10 000 Dingen, die aber durchgestrichen sind. Der Raum zwischen Himmel und Erde ist leer! Aber diese Leere ist keine nichtige Leere, sie ist erfüllt von ungeheuren energetischen Prozessen, in denen die Dinge ans Licht streben. Nach einer anderen Deutung ist der Raum zwischen Himmel und Erde angefüllt mit vielen Bäumen, die miteinander verflochten sind. Das Schriftzeichen für Baum oder Holz ist Ki . Mehrere Bäume würden sich nach dieser Deutung ihre Wurzeln unter der Erde teilen. Aber auch in dieser Deutung ergänzen sich die Äste, dargestellt durch den waagerechten Stich zu einer Negation. Die Bäume zwischen Himmel und Erde sind NICHT.

Fu - nicht
Fu - Nicht
Das Schriftzeichen MU stellt somit zunächst einfach nur eine Negation dar. Aber diese Negation "entsteht" aus der Leere zwischen Himmel und Erde, die voller Energie ist. Es gibt noch ein weiteres Schriftzeichen, das die Negation darstellt: Fu - Nicht. Dieses Nicht stammt aus einem ganz anderen Denkansatz. Es zeigt einen Vogel, der versucht, über den Himmel hinaus zu fliegen. Aber der Himmel ist oben, die Erde unten, alle Dinge sind dazwischen. Nichts kann höher sein als der Himmel. Fu ist eine Art von Unmöglichkeit, ein Verbot. Es zeigt nicht die Leere wie das Schriftzeichen Mu. MU MEI entspringt keinem Verbot oder einer Unmöglichkeit. Es entspringt der Leere.

In der nächsten Zeile ist die Rede von dem, was Namen hat, dem 有名 YU MEI .
YU - Haben
YÛ - Haben
Das Schriftzeichen für Yu - "haben" entspringt einer tiefen philosophischen Einsicht in die Wirklichkeit. Der 'Haken' an der linken Seite des Schriftzeichens zeigt eine stilisierte (linke) Hand. Die Hand versucht, den Halbmond zu greifen oder fest zuhalten. Immer versuchen wir, die Dinge zu ergreifen, in den Griff zu bekommen und fest zuhalten. Dieses Festhalten soll unser Dasein sichern. In steter Sorge um unser Sein versuchen wir, die Dinge in den Griff zu bekommen, zu sichern und fest zuhalten. Aber immer wieder erfahren wir sehr schmerzlich, wie sich alles, auch das - oder vielleicht gerade das - was wir ganz fest im Griff haben - sich entzieht.
Der Mond ist schon von seinem Wesen durch die Zeitlichkeit bestimmt. Greift man nach dem vollen Mond, so wird er sich unversehens wandeln und wieder verschwinden. Abgesehen von der Zeitlichkeit ist es ein unmögliches Unterfangen, nach diesem unbeständigen und sich stets wandelnden Himmelswesens zu greifen. Das Haben kann niemals nach einem Unmöglichen greifen, es kann niemals auf Dauer festhalten. Aber der Mond ist ein eigenartiges Ding. Der Zenmeister Dôgen vergleicht das Erwachen mit dem Mond, der sich im Wasser spiegelt:

Der Mond spiegelt sich im Wasser: Der Mond wird nicht nass und das Wasser wird nicht bewegt. Obgleich das Mondlicht groß und weit scheint (leuchtet), befindet er sich in einer winzigen Fläche Wasser. Der ganze Mond und der ganze Himmel sind in einem winzigen Tautropfen auf einem Grashalm.

Der Tautropfen versucht nicht, des Mondes habhaft zu werden und ihn festzuhalten. Dennoch ist er ganz und gar vom Mond erfüllt - nicht nur von einem winzigen Teil, wie es der Größe des Tropfens entsprechen würde. Der GANZE Mond ist im Tautropfen. So ist auch "das was Namen hat" ganz und gar erfüllt vom Dao und der Name ge-hört ganz und gar zum Einzelnen. Aber dennoch kann sich der Name ändern, so wie sich auch der Mond ändert. Nur derjenige, der genau an DIESEM Namen festhält, wird ihn immer verfehlen.

SEIN und NICHTS

無名 天地 之 始 - MU MEI   TEN CHI NO SHI

Die Rede ist vom Ursprung von Himmel und Erde. Das Zeichen Shi ist aus zwei Wurzelzeichen zusammengesetzt. Das erste Zeichen ist die Frau , das zweite zeigt ein Gestell, ein Dai wie man es benutzt, um Gegenstände aufzustellen oder zu präsentieren. Das Weibliche ist der Beginn dessen, was sichtbar sich zeigt. Himmel und Erde, 天地 Ten Chi, stehen für das Ganze. Sie sind mit dem Genitivpartikel no - mit dem Ursprung verknüpft. Die Rede ist also vom Ursprung, dem Anfang, dem Ursprung von Himmel und Erde. Problematisch ist die Lesung des Satzanfangs. 無名 MU MEI kann in unterschiedlicher Weise verstanden und gelesen Werden. Aus der Satzkonstruktion ist es nicht ersichtlich, ob es heißt: MU MEI - "kein Name" oder "NICHT: Name". Sollte das MU als Substantiv gelesen werden, so würde es etwa heißen:

MU ( DAS LEERE): Name des Ursprungs von Himmel und Erde.

Gehört das MU als Adjektiv zum Mei, dem Namen, so müsste man lesen:

"Das Ohne-Namen, das Namenlose: Ursprung von Himmel und Erde.

Das Ohne-Namen ist das Unnennbare, dessen einer Name (der hier nicht genannt wird) DAO ist. Dieses Namenlose ist der Ursprung von Himmel und Erde. Diese grammatische Unklarheit ist vielleicht beabsichtigt. Das Nichts als der Name des Ursprungs von Himmel und Erde hat ja auch keinen Namen, es sei denn, man nimmt "Nichts" als seinen Namen. Erst nachdem die Dinge her-vor-gekommen sind, kann man sie mit Namen belegen. Das Nichts ist kein Ding, das irgendwo vorfindbar wäre, kann also auch keinen Namen haben. Es ist hier nicht von einer Schöpfung aus dem NICHTS die Rede. Dasjenige, was den Ersatznamen "Nichts" trägt, ist nicht als leer und nichtig zu denken.

Im Biblischen Schöpfungsbericht ist auch nicht von der Schöpfung aus der wüsten Leere die Rede. Am "Anfang" war es nicht "wüst und leer", wie Luther übersetzt. Am Anfang war das "Tohuwabohu", das wüste Durcheinander. "Gott sprach: 'Licht werde!' - Licht ward!". Dies ist keine Schöpfung aus der Leere. Gott ruft das Licht bei seinem Namen und es antwortet, "Da bin ich!", so wie Moses am brennenden Dornbusch getan hatte. Moses, der ein Niemand ist und der nicht weiß, was er als nächstes tun soll, sieht den brennenden Dornbusch. Als er hinzutritt, ruft die Stimme: "Moshe! Moshe!" und Moses antwortet: "Da bin ich!". Jetzt ist er herausgerufen von Gott, jetzt bekommt er seine Aufgabe - das Volk aus Ägypten heraus zuführen. Jetzt erst ist er "Moshe!"

In dem "Augenblick" wo Himmel und Erde benannt sind, treten sie heraus aus dem Namenlosen und mit Ihnen tritt das Nichts, das jetzt einen Namen hat heraus.

Wenn man diese Stelle so liest, dann ist nicht vom Namenlosen und dem Namen-habenden die Rede, sondern vom NICHTS und vom SEIN. Das Zeichen YU kann im Kontext als 'haben' oder auch als 'Sein' gelesen werden. Die beiden Verse wären dann mit entsprechender Interpunktion zu lesen:

NICHTS: der Name des Urspunges von Himmel und Erde
SEIN:     der Name der Mutter der 10 000 Dinge


weiter  |   zurück  |