Dao De Jing Nr 1

DAO - Ursprung von Himmel und Erde und die 10 000 Dinge


DAO - Himmel und Erde

無名 天地 之 始 - MU MEI   TEN CHI NO SHI
有名 萬物 之 母 - YU MEI   MAN BUTSU NO BÔ


NICHTS: Name des Himmel - Erde Ursprungs
SEIN:    Name der 10 000 Dinge Mutter


Himmel und Erde treten hervor aus dem Namenlosen Nichts. Sie sind die Beiden, die den gesamten Kosmos eröffnen. Der Himmel ist im chinesischen Denken nicht der Sitz der Götter oder des Gottes. Der Himmel kann auch nicht für sich allein abgetrennt von allem Anderen existieren. Der Himmel ist nur Himmel als Gegenpart der Erde, die Erde ist nur Erde als Gegenpart des Himmels. Beide haben ihr eigenes Dao.

Das Dao ist leer und ohne Eigenschaften, aber Himmel und Erde entfalten sich in vielen Hinsichten und Eigenschaften. Der Himmel ist hell und beständig. Aber er ist nicht "ewig" im Sinne der Unveränderlichkeit. Seine Beständigkeit ist von der Art, dass der Gang der Zeiten beständig ist. Seine Beständigkeit ist der gleichmäßige Rhythmus seines Ganges. Er ist es, dessen Bewegung die Zeit strukturiert. Die Zeit wird aber weniger vom Tageshimmel als vielmehr vom nächtlichen Himmel strukturiert. Der Wechsel von Tag und Nacht und der gleichmäßige Wechsel des Mondes mit seinem Rhythmus von 28 Tagen gibt die Zeit. Der Mond ist zugleich in einen größeren Rhythmus eingebunden. Am Ende von 12 Mondperioden steht er anders am nächtlichen Himmel im Bezug zu den Sternen, als am Beginn der Mondperioden. Erst nach 28 Jahren stimmen die Sterne und die Sonne in ihrem Gang wieder mit den Mondphasen zusammen.
Die Erde antwortet auf den Gang des Himmels, indem sie zu den verschiedenen Zeiten des Jahres Blüten hervorbringt, Früchte reifen lässt, die Ernte ermöglicht und immer wieder in Stille ruht. Ihr Gang ist die Antwort auf den Gang des Himmels. In dem Aufenblick, in dem Himmel und Erde hervorgetreten sind aus dem namenlosen Nichts, gibt es die Polarität. Die gesamte Wirklichkeit ist nach diesen Polaritäten strukturiert - im Yin und Yang 陰 陽.
Himmel und Erde sind zusammen ein Paar, das die Polarität des Ganzen eröffnet. Mit ihrem Hervortreten ist die EINS zu ZWEI geworden. Aber diese Dualität besteht nicht nur im Paar von Himmel und Erde. Auch der Himmel ist in sich sowohl hell als auch dunkel, sowohl fest als auch stets sich verändernd. Seine Festigkeit besteht im gleichmäßigen Rhythmus der Veränderungen.
Die Erde ist nicht nur feucht und dunkel, sie formt auch die Berge und Hügel, die weithin klar sichtbar sind. Sie ist die Hervorbringende aber auch die Zurücknehmende. Die entläßt alle Wesen aus dem Dunkel ihres Schoßes, sie nimmt aber auch Alle wirde dorthin zurück. Ist erst einmal die Dualität hervorgetreten, so ist ALLES in dieser Dualität und Jedes Seiende trägt in sich die Dualität.
Das Ur-Paar Himmel und Erde sind in ihrer Dualität sehr fruchtbar. Ist erst einmal die Dualität entstanden, so so erzeugt dies die Drei und die 10 000 Dinge. Im Daodejing 42 heißt es:

道生一。
一生二。
二生三。
三生萬物。
萬物負陰而 抱陽,
沖氣以為和。
dao sheng yi,
yi sheng er,
er sheng san,
san sheng wan wu.
wan wu fu yin er bao yang,
chong qi yi wei he.

DAO lebt EINS
EINS lebt ZWEI
ZWEI lebt DREI
DREI lebt ZEHNTAUSEND DINGE
ZEHNTAUSEND DINGE: tragend YIN, haltend YANG
Qi unendlich offen : das gewährt Harmonie

Die Polarität von Erde und Himmel erzeugt automatisch die Dreiheit. Es ist der Mensch der auf der Erde unter dem Himmel sein Dasein lebt.
Der Himmel ist hell und klar, er scheint mühelos und ohne Rücksicht auf Andere seinen Gang zu gehen, er gibt die offene Weite, die Beständigkeit und in seinem Rhythmus die Zeit. Die Erde ist dunkel und geheimnisvoll. Sie hat Zeiten der Feier, der Mühe und der Trauer. Der Mensch lebt ZWISCHEN beiden, indem er von der Erde getragen und genährt wird und indem er zum Himmel aufschaut. Hölderlin schreibt in einem Fragment:
"Darf, wenn lauter Mühen das Leben, der Mensch aufschaun zum Himmel und sagen so will ich auch sein ?"

Im Daoistischen Denken wird diese Dreiheit von Himmel, König Mensch und Erde zu einem wesentlichen Prinzip. Der Mensch hat in dieser Dreiheit eine besondere Stellung. Er ist es, der das Gleichgewicht stören kann und auch ständig stört. Damit die Dreiheit nicht auseinander fällt und der Mensch etwa versucht, seine Gewalt auf die Erde auszuüben und den Himmel zu verändern, indem er sein will wie Gott und die Nacht zum Tag macht, bedarf es eines besonderen Menschen, der diese Drei zusammenhalten kann. Dieser besondere Mensch ist der König, der die drei Ebenen miteinander verbinden kann. Ist erst einmal die Dreiheit entstanden, so entwickeln sich die 10 000 Dinge in ihrer Vielfalt.

Die 10 000 Dinge

有名 萬物 之 母 - YU MEI   MAN BUTSU NO BÔ

Die 10 000 Dinge sind Alle Dinge. Dinge sind alles, was IST, nicht nur Felsen Bäume, butsu: Dinge Flüsse, das Meer, der Mensch die Tiere, sondern auch das Glück, das Begehren, das Leiden, das Herz, der Geist und der Körper. Das Schriftzeichen für 'Ding' ist zusammengesetzt aus dem Zeichen für einen Ochsen oder Wasserbüffel und dem Verneinungszeichen . Der Ochse ist deutlich aus der Vogelperspektive zu erkennen. Man sieht den langestreckten Rücken und querstehend die Schulter- und Hüftgelenke. An der Vorderseite ist ein stilisiertes Horn zu sehen. Die "Dinge" sind offenbar das, was KEIN Ochse ist.
Es ist aber nicht etwa so, daß Ochsen keine Dinge wären. Der weibliche Wasserbüffel ist das Bild für das Dao selbst. Laotse, der auf dem Büffel reitet, ist eins mit dem Ochen - dem Dao - geworden. Für die Menschen Ostasiens ist der Wasserbüffel vieleicht das wichtigste Haustier, das sie überall in ihrem Leben antreffen. Er nährt die Menschen mit seiner Milch und seinem Fleisch, er hilft bei der Arbeit und beim Reispflanzen. Er ist nahezu allgegenwärtig, wie das Dao selbst. In der japanischen Sprache gibt es zwei Lesungen für das Ding oder die Dinge: mono in der japanischen Lesung oder butsu in der sinojapanischen Lesung. Butsu ist gleichklingend mit der japanischen Lesung für Buddha - Butsu.

Alles Seiende ist ein Ding. Jedes Ding gehört zum Dao, aber es IST nicht das Dao, das selbst kein Ding ist. Vielleicht zeigt das Schriftzeichen diesem Zusammenhang zwischen dem Dao und dem Ding.

MAN: 10 000 Das Schriftzeichen für 10 000 zeigt einen Scorpion. Aus der Vogelperspektive ist der Panzer und die Zangen am Kopfende und der Schwanz zu sehen. Dieses Zeichen ist durchaus nicht angsteinflößend oder abstoßend. Vielmehr ist es sehr glückverheißend. In vielen Nomadenteppichen wird ein stilisierter Scorpion eingeknüpft, der offenbar das Böse abwehrt und somit Schutz gewährt. Der Scorpion ist eines der vielen apotropäischen Zeichen, die vor den bösen Dämonen oder Geistern schützen und damit indirekt Glück gewähren.
In Japan dekoriert man gern zum Neujahr die Schmucknische des Raumes mit einem gekochten Hummer, der eine ähnliche Gestalt hat wie der Skorpion. Er steht hier für das Schriftzeichen 10 000 - MAN und soll langes Leben gewährleisten.
Die 10 000 steht damit allgemein für die Fülle und Dauer schlechthin. Die 10 000 Dinge sind die Fülle all dessen, was ist. Sie sind nicht hervorgekommen aus einem verborgenen Urgrund, sie haben eine "Mutter", sie sind "geboren" worden. Die "Mutter" ist der Hervorbringende und wieder Bergende Ursprung der Dinge. Das Schriftzeichen für Mutter zeigt zwei Brüste. Die Mutter bringt nicht nur hervor, sondern sie nährt und birgt das Hervorgebrachte. Hesiod, der griechische Dichter und Zeitgenosse Homers bezeichnet die Erde als "breitgebrüstet". Sie nährt und birgt die Dinge an ihrer Brust, die für alle Platz hat. Sie ist die Bergend - Tragende. Die Dinge erzeugen einander und in ihren steten Wechsel und Vergehen, die ihrerseits niemals aufhören, gewährleisten sie die Fülle des Da-Seins.