Dao De Jing Nr 1

Wünschen und Wollen 1/ 5,6

故:
常無欲以觀其妙
常有欲以觀其徼。

gu:
chang wu, yu yi guan qi miao,
chang you, yu yi guan qi jiao.
Darum:
Immer NICHT wünschen sehen Geheimnis
Immer SEIN wünschen sehen Grenze
Beide Zeilen sind wieder parallel gebaut. Die einzige Ausnahme ist das Zeichen GU - in der ersten Zeile, das einfach als Begründung wie 'darum' oder 'also' gelesen werden kann. Um die Parallelität der beiden Zeilen deutlicher sichtbar zu machen, ist hier dieses GU in eine eigene Zeile gesetzt.
Den meisten Übersetzungen ist gemeinsam, dass von einem Wünschen und von einer Wunschfreiheit die Rede ist. Dem 常無欲 "stets Nicht Wunsch" steht das 常有欲 "stets Sein Wunsch" gegenüber. Die Freiheit von Wünschen lässt das Geheimnis erschauen, das stete Beherrscht-sein von Wünschen vermittelt nur die Grenze oder Außenseite der Dinge.

Eine neue Übersetzung von Chao-Hsui Chen interpretiert diese Zeilen:

Betrachte das Wundersame des Dao ohne Verlangen,
Prüfe sein Erscheinen voll Begierde.

Wunsch und Begehren
Es ist die Frage, wie das Zeichen YU zu lesen ist. Yu bezeichnet das Wünschen, die sehnsüchtige Begehrlichkeit, Habsucht, Habgier, Leidenschaft, heftiges Verlangen. Der Gebrauch des Wortes zeigt im allgemeinen eine starke und heftige Bewegung und ein sehr starkes Beherrscht-werden von den Wünschen.
Im Daodejing ist immer wieder davon die Rede, dass es besser ist, von Wünschen frei zu werden. In Daodejing Nr. 5 wird der Weise oder "Heilige Mensch" genannt, der "unmenschlich" und leer ist - frei von Wünschen. Im Daodejing Nr. 3 heißt es:

不見可欲, bù jiàn kě yù,
使民心不亂 shǐ mín xīn bú luàn。
Nicht schauen auf Wünsche:
Volkes Herz nicht verwirrt.

Die beiden Zustände - immer von Wünschen und Begehrlichkeiten besessen und das stets wunschfrei sein - würden in dieser Interpretation den Alltagsmenschen vom Weisen unterscheiden. Der Weise als der 'moralisch Bessere' ist stets und immer frei von Wünschen und er schaut, im Gegensatz zum wunschbeherrschten Alltagsmenschen das Geheimnis. Der Alltagsmensch sieht demnach immer nur die ausgegrenzte Außenseite der Dinge- er selbst steht immer außen.

Lutz Geldsetzer kommt zu einem völlig anderen Ergebnis, in dem die moralische Komponente verschwunden ist:

Darum will ich über das immerwährende Nichts aus diesem (Anfang) her sein Geheimnis erkunden,
und ich will über das beständige Sein aus diesem (Muttersein) her seine Grenzen erkunden.

Geldsetzer liest nicht den Gegensatz von 常無欲 "stets ohne Wünsche" und 常有欲 "stets haben Wünsche". Das Stets oder Immer und das Niemals gehört nicht zu den Wünschen. Es bezeichnet das NICHT und das SEIN: Stets NICHT und stets SEIN. Das Wünschen in der Geldsetzerschen Übersetzung ist der Wunsch dessen, der das NICHTS als das Geheimnis und das SEIN als die Grenzen erklären will.
Störend in der Übersetzung von Geldsetzer ist das ICH, denn es gibt kein Personalpronom im Chinesischen. So wie in der Übersetzung spricht nur ein deutscher Professor zu seinen Studenten: "Ich erkläre Ihnen jetzt die Welt, wie sie wirklich ist".
In antiken Texten ist es unüblich, dass der Autor sich selbst nennt. In der gesamten Odyssee z.B. gibt es nur eine einzige Stelle, in der Homer von sich selbst spricht, dies aber auch nur in indirekter Weise: "Du aber, göttlicher Sauhirte ..". Der Dichter spricht von sich selbst nur, indem er den Sauhirten anspricht. Vielmehr noch ist ein "Ich" im Daodejing befremdlich.

Das Wünschen und Begehren ist nach den meisten Übersetzung in beiden Fällen gegeben, aber es ist das Wünschen eines Subjektes, das wünscht. Entweder ist es das Subjekt, das Wünsche hat bzw. wunschfrei ist oder wie es Geldsetzer liest, das Subjekt, das wünscht zu erklären. Beide Übersetzungsmöglichkeiten sind vom vorliegenden sprachlichen Material möglich, vor allem, weil im überlieferten Text keinerlei Zeichensetzung und damit keinerlei Sinnzusammenhänge im Satz vorgegeben sind.

In der Übersetzung von Richard Wilhelm ist überhaupt nicht die Rede vom Wünschen:

Darum führt die Richtung auf das Nichtsein
zum Schauen des wunderbaren Wesens,
die Richtung auf das Sein
zum Schauen der räumlichen Begrenztheiten.

Offenbar bezieht Wilhelm ebenfalls das 'stets' auf das Nichts bzw. das Sein. Das Schauen in Richtung auf das stets NICHT läßt das Geheimnis sehen, das Schauen auf das stets Sein die Außenseite, die Begrenzung.

Das Wünschen des NICHT
Das schließt aber nicht aus, dass da ein Wünschen ist.

Liest man diesen Text mit entsprechender Zeichensetzung als:
常無: 欲 .../ Stets NICHTS: wünschen ....
常有: 欲 ... / Stets SEIN: wünschen ...
so ist wie in der ersten Zeilen vom Nichts und vom Sein die Rede und nicht vom Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein von Wünschen.

Wie man sich auch entscheidet, so ist doch die Deutung, dass es jemanden gibt, der immer und stets ohne Wunsch und Begehren ist 常無欲 - stets nicht Wünsche - eine Fiktion. Die Daoistischen Weisen, die in den Bergen leben und immer und stets im Zustand der " en Weisheit" leben, sind ein Mythos. Solange der Mensch lebt, wird er in der Welt der 10 000 Dinge mit all ihren Beschränkungen und Begrenzungen, den Wünschen, Hoffnungen und sorgen leben. Aber er wird, sofern er ein Weiser ist, immer wieder in die Welt des Geheimnisses schauen.
Sollte nicht doch eine christlich geprägte Vorstellung von der Verwerflichkeit der Wünsche und Begierden bei der Deutung der Stelle mitspielen? Alles, was zur Lust gehört, erzeugt Begierden. Nur Begierdefreiheit bringt die Erlösung.

Vermutlich ist auch überhaupt nicht das Wünschen, Wollen oder Begehren eines Menschen gemeint. Im indischen Rigveda X.129 findet sich ein Text, der vom Ursprung der Welt spricht.

Nicht existierte Nichtseiendes, noch auch existierte Seiendes damals - nicht existierte der Raum, noch auch der Himmel jenseits davon.
Ein Begehren [nach Entstehung] bildete sich da im Anfang, das als Same des Denkens als erstes existierte. Die Nabelschnur des Seienden im Nichtseienden fanden die Dichters heraus, in ihrem Herzen forschend, durch Nachdenken.

Als allererstes bildet sich im nirgendwo - es existierte ja weder Nichts noch Sein - ein Begehren. Dieses Begehren ist die Kraft, die überhaupt etwas entstehen läßt. Dieses Begehren ist kein Begehren eines Subjektes. Es ist so etwas wie ein Ur-Wille, der will, dass überhaupt etwas entsteht. Auch das Nichts ist ja bereits eine Ausformung dieses Unnennbaren, das 'wünscht'. Die Dichter, so sagt es das Rigveda, fanden "in ihrem Herzen forschend durch Nachdenken" die Nabelschnur zu diesem Urwunsch. Die Nabelschnur verbindet alle geborenen Wesen mit der Mutter. Die Nabelschnur zur leiblichen Mutter wird durchtrennt, wenn die Geborenen in die Vereinzelung entlassen sind, aber die Nabelschnur zum Uranfänglichen bleibt immer bestehen. Über diese Nabelschnur sind alle Wesen mit dem Uranfänglichen für immer verbunden. Über die Nabelschnur sind wir EINS mit dem Wünschen des Anfangs. Es macht überhaupt keinen Unterschied, ob da ein "Subjekt" wünscht oder ob es einen "objektiven" Wunsch gibt.

Man kann die Frage nicht stellen, ab WANN sich dieses Wünschen einstellte. Augustinus denkt in seinen Confessiones nach, wann die Welt entstanden ist. Für ihn ist es Gott, der die Welt geschaffen hat. Aber plötzlich taucht in seinem Gedankengang eine ketzerische Frage auf:
"Was tat Gott, bevor er die Welt geschaffen hat?"
Hat er sich vielleicht schrecklich gelangweilt und schuf deshalb die Welt? Dies ist die selbe Frage, der sich auch die Wissenschaft stellen muss, wenn sie nach Uranfängen fragt. Was war VOR dem Urknall. Woher kam die Materie, die plötzlich - und warum überhaupt - anfängt zu explodieren? Und selbst, wenn man einen Schritt weiter zurückträte, würde wieder und wieder die Frage nach dem "Woher" und "Warum" auftauchen. Diese Frage, die überhaupt nicht gestellt und die deshalb auch nicht beantwortet werden kann, beantwortet Augustinus mit einer sehr ironischen Wendung:
"Er (Gott) schuf die Höllen für diejenigen, die solche Fragen stellen!"


Hesiod, ein Zeitgenosse Homers, beginnt seine Theogonie mit einem ähnlichen Gedanken. Es ist offenbar ein Urtrieb oder Urwille, der alles zum Entstehen treibt. Am Anfang ist das Chaos - die gähnende Leere, die alles in sich verschlingt, das schlechthin Ab-Gründige. "Sogleich darauf" - αυταρ επειτα - entstand Gaia, die Mutter Erde, mit ihren breiten Brüsten ein fester Sitz für die Sterblichen und die Unsterblichen. Gleichzeitig mit ihr entsteht Eros, das Verlangen nach Vereinigung und dem Anderen. Nur durch das Wirken von Eros kommt die ganze Weltentstehung in Gang. Ohne diese Energie oder Triebkraft entstünde nichts. Das "Sogleich darauf" (autar epeita αυταρ επειτα) meint keine zeitliche Abfolge, es bezeichnet eher eine Rangfolge. "Zuerst" ist das abgründige und bodenlose Chaos. Gleich darauf die feste Erde, die den festen Grund für alles Seiende bildet. Chaos das NICHT, Gaia, des SEIN. Eros ist die Triebkraft, der Wille, der Wunsch nach Entstehen.

Im Daodejing ist es offenbar das "stets Nicht", das wünscht, sich als Geheimnis zu zeigen.
故:常無欲以觀其妙 Darum: des stets NICHT wünscht gesehen zu werden als Geheimnis.

Diesem Wunsch dessen, was stets Nichts ist, entspricht der Mensch mit seinem Wünschen. Im Rigveda heißt es dazu, dass die Dichter in ihrem Herzen forschend und nachdenkenddie Nabenschnur zu diesem wünschenden Nichtsein fanden. Die Nabelschnur ist es, die den Menschen mit der Mutter, mit seinem Ursprung rückverbindet. Der Mensch, der sich leer macht von eigenen Wünschen, vernimmt das Wünschen dessen, das sich als NICHTS und als Geheimnis zeigen möchte. Dieses Ur-Wünschen ist nicht irgend wann einmal entstanden und nun längst abgeschlosen. Es geschieht immer und stetig überall.
Die jüdische Kabbala versteht die Weltschöpfung durch Gott nicht als einen irgend wann einmal begonnenen und nun längst abgeschlossenen Prozess. Er geschieht immer wieder neu in diesem Augenblick.
Gott sprach: Licht werde - Licht ward
Die zeitliche Form für das "Gott sprach" benennt etwas, das vielleicht irgend wann einmal begonnen hat, aber immer und immer fortdauert. Gott gibt dem Licht einen Namen. Er nennt es Licht beim Namen und ruft: LICHT werde. Das Licht antwortet: Da bin ich! so wie Moses auf die Stimme aus dem brennenden Dornbusch antwortet. Dieses Rufen ist ein Herausgerufen werden aus der Anonymität, der Namenlosigkeit. Das was nun einen Namen hat, kann sagen: Da bin ich!

Alle Wesen und damit alle Menschen spüren den Ur-Wunsch in sich, das Geheimnis zu schauen. Es ist nicht ihr persönlicher Wunsch. Es ist der Wunsch, der in allem wirkt, was ist und in allem, was nicht ist!

Denken und Erkennen
Im Rigveda heißt es, das die Dichter durch NACHDENKEN die Nabelschnur zum anfänglichen Wünschen fanden. Dieses Nachdenken ist sicher kein alltägliches Grübeln oder rechnendes Denken. Im fraglichen Vers des Daodejing ist auch von einer Art Nachdenken die Rede, dem GUAN . Im Schriftzeichen ist das Radikal für Sehen, Beobachten enthalten. Als einzelnes Schriftzeichen bedeutet das Radikal jian das Sehen oder beobachten. Es kann aber auch ein geistiges Sehen bedeuten wie "Idee" oder "Hoffen".
Was dieses GUAN sein kann, gibt eine Beschreibung aus dem I Ging wieder. Das Zeichen Nr 20 heißt GUAN. Gia Fu Feng übersetzt Guan als 'Beobachten'. Im Text des I Ging zum Zeichen steht eine Beschreibung für Beobachten (Übersetzg.: Gia Fu Feng):

Beobachten die Unteren die Oberen, sehen sie eher ihre Herzen als ihre Gesichter.
Daher reagieren die Oberen auf die Unteren, indem sie sich nicht durch ihre Erscheinung, sondern durch ihren Geist (Herz) zeigen. Wird die Erscheinung gezeigt, so können nur die beobachten, die sehen können.
Der Geist zeigt sich in der inneren Feinheit, und diese ist wie die Athmosphäre eines heiligen Ortes tief im Inneren des Palastes. So können alle die Herzen der Oberen fühlen ...
Alle beobachten aufrichtig in der Stille des Schweigens und sie schauen in Ehrfurcht auf zu den Oberen, ohne zu begreifen, warum sie das tun.

Dieses Beobachten ist ein Sehen mit dem Herzen. Es schaut nicht auf die Äußerlichkeiten, sondern sieht das Innere, das Herz, den Geist. Es ist ein Beobachten in aufrichtiger Stille des Schweigens. Das Beobachten ist nicht nur einseitig. Wie es im I Ging heißt, reagieren die Oberen auf das Beobachtet werden, indem sie sich nicht durch Äußerlichkeiten, sondern durch ihr Herz zeigen. Das Beobachtete und der Beobachter werden im Vorgang des Beobachten EINS.

Ein solches Beobachten ist im Buddhismus die Einsicht in das Wesen der Dinge. Wer so das Wesen der Dinge sieht, hat prajnã (skrt.), Einsicht. Das Erlangen des prajnã ist gleichbedeutend mit der Erleuchtung, die vollkommene Einsicht - das prajnã paramita ist ein Merkmal des Boddhisattva.

Das Schriftzeichen GUAN - beobachten, nachdenken bezeichnet im Daoistischen Bereich die Meditation. Die meditative Sicht nimmt nicht nur "beobachtend" das nicht Sichtbare, das Geheimnis des Nicht, sondern ebenso die Dinge in ihren Begrenzungen wahr. Eine buddhistische "Übersetzung" ist das 般若 Hannya, von dem das Maka Hannya haramita shin gyo - das Herzsutra spricht. Das Hannya haramita ist das Hinübergehen in die Freiheit des Satori. HIer ist die Erkenntnis, dass die Erscheinungen und die Leere Eins sind (shiki soku ze ku).

Das Geheimnis
Selbst der "Heilige Mensch" oder der Weise hat Wünsche. In den meditativen Situationen kann man loslassen und wunschfrei sein. In einem solchen Zustand "sieht" man das "Geheimnis". Myo: Geheimnis Es ist eine akademische Frage, ob das Wünschen, von dem im Daodejing die Rede ist, ein subjektives Wünschen des Erkennenden oder ein Wünschen dessen ist, das erkannt werden möchte. Der Mensch, der sich leer macht, reicht in die dunklen Tiefen des Nicht, er wird EINS mit dem Nicht und sieht das "Geheimnis" . Zurückgekehrt in die Welt des Alltags und der 10 000 Dinge sieht er jiao Begrenzung.

Das Schriftzeichen myo in der üblichen Schreibung zeigt das Radikal für Frau und klein, winzig . Eine frauenfeindliche Deutung sagt, das etwas schon sehr klein sein muss, damit es von den Frauen als Geheinmis gewahrt werden kann, so klein und fein, dass es eigentlich nicht mehr wahrgenommen werden kann. Aber eine andere und ältere Schreibweise setzt "Geheimnis" anders zusammen. Wieder ist es Etwas, was klein und fein, sehr subtil ist. Aber das Zeichen für Frau ist verschwunden. An dieser Stelle steht XUAN, japanisch: GEN das Dunkle und un-scheinbare.
Beiden Schreibweisen gemeinsam ist das Zeichen für das Kleine, Feine. shao - klein, wenig Es gibt zwei verschiedene Schriftzeichen für klein: und . Das erste Zeichen zeigt einen Menschen, der seine Arme hängen läßt und deshalb klein erscheint. Das zweite Zeichen shao zeigt Etwas, das gespalten, zertrümmer wird. Es ist klein und fein, weil es immer wieder aufgespalten worden ist.

In den indischen Upanishaden - den Belehrungen zu Füßen des Meisters -findet sich eine sehr berühmte Textstelle über dieses Kleine, Feine, die Wurzel des Geheimnisses.
Der Weise Aruni belehrt in langen Gesprächen seinen Sohn Shvetaketu, der in langen Lehrjahren zum Brahmanen ausgebildet worden ist. Aber Aruni bemerkt, dass seinem gelehrten Sohn die letzten Einsichten fehlen. Deshalb belehrt er in aufs Neue. Diese Belehrungen werden in vielen Khandas - Gesängen - geschildert. Immer wieder kommt die entscheidende Wendung: "TAT TVAM ASI!" - "Das bist DU!" Im zwölften Khanda heißt es:

1. "Hole mir dort von dem Nyagrodha-Baume eine Frucht."
"Hier ist sie, Ehrwürdiger." –
"Spalte sie." – "Sie ist gespalten, Ehrwürdiger." –
"Was siehest du darin?" – "Ich sehe hier, o Ehrwürdiger, ganz kleine Kerne." -
"Spalte einen von ihnen." – "Er ist gespalten, Ehrwürdiger." –
"Was siehest du darin?" – "Gar nichts, o Ehrwürdiger." -

2. Da sprach er: "Die Feinheit, die du nicht wahrnimmst o Teurer, aus dieser Feinheit fürwahr ist dieser große Nyagrodhabaum entstanden.
3. Glaube, o Teurer, was jene Feinheit ist,
aitadâtmyam idam sarvam, tat satyam, sa âtmâ, tat tvam asi, Shvetaketu
ein Bestehen aus dem ist dieses Weltall, das ist das Reale, das ist die Seele (âtmâ), tat tvam asi - das bist du, o Shvetaketu!"

Diese rhythmisierte und singbare Formel, die in einer Art Alliteration von sarvam - satyam - atma - tat tvam auf das Tat tvam asi zuläuft, ist die Brahmanische Formel, in der gesagt wird, dass "DU" ist nicht verschieden von ALLEM. Im zwölften Khanda ist lediglich ein besonderer Aspekt hervorgehoben, nämlich die Identität mit dem Kleinen, Feinen, Unsichtbaren, das Überall ist. Dieses Kleine, immer wieder aufgespaltene, fast atomisierte Unsichtbare, das bist Du und das ist Âtmâ, die (Welten-)'Seele', die Überall ist.
In moderner physikalischer Sprache könnte man sagen, dass der Weise Aruni das fraktale Prinzip erklärt. Die selbe Struktur zieht sich vom Großen und Sichtbaren bis hin in da Kleinste, Feinste und Unsichtbare. In der DNA, dem Samenkorn, dem Blatt und dem ganzen Baum verwirklicht sich die selbe Struktur. Wenn ein Baum die Möglichkeit hat, sich ungestört als Solitär zu entfalten, nimmt er in seiner gesamten Gestalt die Form des einzelnen Blattes an. Selbst mehrere Bäume der gleichen Art, die in einer Gruppe zusammenstehen, wachsen als Gesamtgruppe in der Form des Blattes. Dies erkennt man nur im Wechsel des Blickes. Die kleine Struktur ist nur zu erkennen, wenn man ganz nahe herangeht bis ins Kleine, Feine, die Gesamtgestalt erkennt man nur im Zurücktreten und aus dem Abstand. Kennt man die kleine Form nicht, so erkennt man im Abstand auch nicht die Ähnlichkeit der Gesamtgestalt mit diesem Kleinen und umgekehrt. Nur im ständigen Wechsel der Sichtweise erkennt man sowohl das Große als auch das Kleine, man erkennt das Kleine, Feine, das sich im Gesamten wiederfindet.

In den anderen Khandas werden andere Aspekte des Âtmâ, des 'Tat tvam asi' besprochen. Das elfte Khanda sagt, das Âtmâ ist das Leben, das dreizehnte gibt im Beispiel von Salz, das in Wasser aufgelöst wird, scheinbar verschwunden aber überall anwesend, ist die Allgegenwärtigkeit des Âtmâ.

Durch die beiden möglichen Schreibweisen für 'Geheimnis', einmal mit dem Radikal für Frau in der üblichen Schreibung und in der Schreibung mit der Schreibung als Myo: Geheimnis verbindet diese beiden Verse in einer besonderen Weise mit den Versen davor und danach. Vorher war die Rede vom Ursprung von Himmel und Erde , später ist die Rede vom Dunklen, dem . Die Schreibung des 'Geheimnisses mit dem Radikal für Frau verbindet es mit dem Ursprung, die Schreibung mit dem Radikal für das Dunkle mit der späteren Aussage über das allgemeine Tor zum Geheimnis, dem 玄之又玄 - xuan zhi you xuan, japanisch: gen mata gen.
Der Ursprung von Himmel und Erde ist "weiblich", die 10 000 haben eine "Mutter".

myo - Geheimnis Sehr deutlich wird die Bedeutung des "Geheimnisses" in der anderen Schreibweise.wuan-gen: unscheinbar Das Radikal auf der linken Seite bezeichnet das Dunkle, Un-scheinbare, über das in den späteren Versen noch ausführlich gesprochen wird.

Das Schriftzeichen für das Unscheinbare ist ursprünglich der Kokon einer Seidenraupe. Im Inneren des Kokon, von außen völlig unsichtbar geschieht die Verwandlung der Seidenraupe zum Schmetterling. Im Unscheinbaren wirkt eine geheimnisvolle Kraft, die ALLES werden und zur gegebenen Zeit ins Sein hervorkommen läßt. Im Inneren des Unscheinbaren reift ein Werdendes heran, dass dann später in voller Schönheit an das Licht hervortreten wird. Dieses Geheimnis wird sichtbar, wenn sich der Betrachter meditierend in die Stille zurückzieht und das Nichts als das Geheimnis allen Seins erfährt.

Die Außenseite und die Dinge
Im zweiten Vers dieses Verspaares ist die Rede von der Außenseite.

常有欲以觀其徼 chang you, yu yi guan qi jiao.
Stets Sein wünscht erkannt werden als Außenseite.

In der üblichen moralisierenden Deutung heißt dies, dass derjenige, der immer von Wünschen und Begierden besessen ist, immer nur die Außenseite der Dinge - und niemals das Geheimnis - sieht. Aber ist wirklich von der Außenseite die Rede? Das Schriftzeichen jiao kann zwar die Grenze, die Außenseite bedeuten, aber es hat einen weit größeren Bedeutungsumfang. Es kann heißen: umhergehen, inspizieren, besuchen, Weg, Pfad, letze Bestimmung, Punkt der Wiederkehr aber auch Glück, Glücksfall, glücklich, glücklicherweise, unverdientes Glück. Das vordere Radikal zeigt das Bild einer Straßenkreuzung und bezeichnet im Wesentlichen die Bewegung, das Fließen. Das Zeichen zeigt aber auch eine starke Prägung von Glück und glücklich sein. Das ergibt genau das Gegenteil der moralischen Bedeutung, für die es ein Unglück und ein Leiden ist, niemals das Geheimnis, sondern immer nur die Außenseite zu sehen. Der Vers spricht vom freien und glückhaften Umherwandern im Bereich des immer Seienden und die freudige Wahrnehmung der 10000 Dinge in ihren Begrenzungen.
Es ist keine Rede von einem geradezu sträflichen Behaftet sein mit Wünschen in dessen Folge man nur die - negative - Außenseite sieht. Die 10.000 Dinge sind nur, wenn sie sich voneinander abgrenzen. Die Abgrenzung verleiht ihnen ihre Individualität. Beide Seiten, das NICHT mit seinem Geheimnis und das SEIN mit seiner begrenzten Außenseite bedingen einander. Das Eine kann ohne das Andere nicht sein.

Der Holländer Duyvendak übersetzte 1949 die beiden Verse vom NICHT und dem SEIN:

For, indeed, it is through the constant alteration between Non-being and Being that the wonder of the one and the limitation of the other will be seen.




Anmerkungen:
Hesiod, Theogonie:
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ή τοι μὲν πρώτιστα Χάος γένετ', αυτὰρ έπειτα
Γαι' ευρύστερνος, πάντων έδος ασφαλὲς αιεὶ
....
ηδ' Ερος, ὸς κάλλιστος εν αθανάτοισι θεοισι,
λυσιμελής, πάντων δὲ θεων πάντων τ' ανθρώπων
δάμναται εν στήθεσσι νόον καὶ επίφρονα βουλήν.

Hä toi men prôtista Chaos genet, autar epeita
Gai' eurysternos, pantôn edos asphales aiei ...
ed' Eros


GUAN - beobachten, nachdenken
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Den Hinweis auf die mögliche Übersetzung als Hannya 般若 verdanke ich Wulf Dietrich und seiner schönen Seite über das Daodejin in Siegelschrift. W. Dietrich teilte mir folgede Hinweise mit:
Einsicht, verkörperte Weisheit skr prajna , gibt auch Rüdenberg Stange Seite 319 bei Zeichen 4333 als Übersetzung für 般若
so auch Ricci Volume IV 821 #8481 pinyin bo1re3 mit Bezug auf buddhistisch mahayana - désignant une sagesse intuitive immédiate et non une sagesse abstraite soumise à l'intellect.
Bei Zeichen 2573 Seite 199 gibt Rüdenberg Stange für wie in meinem online-Lexikon die Übersetzungsalternative prajna Ricci Volume III #6286: bei den Taoisten hat guan die Bedeutung contempler - méditer... bei den Buddhisten aus dem sanskrit vipasyana: intelligence, clairvoyance, connaissance intuitive des 'Trois signes distinctifs' de l'existence, à savoir: le caractère éphémère (anitya 無常 wu2 chang2), douloureux (duhkha ku3) et impersonnel (anatman 非我 fei1 wo3 et 吾我 wu2 wo3)
Dao De Jing in Siegelschrift


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