Dao De Jing Nr 1Wünschen und Wollen 1/ 5,6
Den meisten Übersetzungen ist gemeinsam, dass von einem Wünschen und von einer Wunschfreiheit die Rede ist. Dem 常無欲 "stets Nicht Wunsch" steht das 常有欲 "stets Sein Wunsch" gegenüber. Die Freiheit von Wünschen lässt das Geheimnis erschauen, das stete Beherrscht-sein von Wünschen vermittelt nur die Grenze oder Außenseite der Dinge. Eine neue Übersetzung von Chao-Hsui Chen interpretiert diese Zeilen:
Betrachte das Wundersame des Dao ohne Verlangen, Wunsch und BegehrenEs ist die Frage, wie das Zeichen YU 欲 zu lesen ist. Yu bezeichnet das Wünschen, die sehnsüchtige Begehrlichkeit, Habsucht, Habgier, Leidenschaft, heftiges Verlangen. Der Gebrauch des Wortes zeigt im allgemeinen eine starke und heftige Bewegung und ein sehr starkes Beherrscht-werden von den Wünschen.Im Daodejing ist immer wieder davon die Rede, dass es besser ist, von Wünschen frei zu werden. In Daodejing Nr. 5 wird der Weise oder "Heilige Mensch" genannt, der "unmenschlich" und leer ist - frei von Wünschen. Im Daodejing Nr. 3 heißt es:
不見可欲, bù jiàn kě yù, Lutz Geldsetzer kommt zu einem völlig anderen Ergebnis, in dem die moralische Komponente verschwunden ist:
Darum will ich über das immerwährende Nichts aus diesem (Anfang) her sein Geheimnis erkunden, Störend in der Übersetzung von Geldsetzer ist das ICH, denn es gibt kein Personalpronom im Chinesischen. So wie in der Übersetzung spricht nur ein deutscher Professor zu seinen Studenten: "Ich erkläre Ihnen jetzt die Welt, wie sie wirklich ist". In antiken Texten ist es unüblich, dass der Autor sich selbst nennt. In der gesamten Odyssee z.B. gibt es nur eine einzige Stelle, in der Homer von sich selbst spricht, dies aber auch nur in indirekter Weise: "Du aber, göttlicher Sauhirte ..". Der Dichter spricht von sich selbst nur, indem er den Sauhirten anspricht. Vielmehr noch ist ein "Ich" im Daodejing befremdlich. Das Wünschen und Begehren ist nach den meisten Übersetzung in beiden Fällen gegeben, aber es ist das Wünschen eines Subjektes, das wünscht. Entweder ist es das Subjekt, das Wünsche hat bzw. wunschfrei ist oder wie es Geldsetzer liest, das Subjekt, das wünscht zu erklären. Beide Übersetzungsmöglichkeiten sind vom vorliegenden sprachlichen Material möglich, vor allem, weil im überlieferten Text keinerlei Zeichensetzung und damit keinerlei Sinnzusammenhänge im Satz vorgegeben sind. In der Übersetzung von Richard Wilhelm ist überhaupt nicht die Rede vom Wünschen:
Darum führt die Richtung auf das Nichtsein Das Wünschen des NICHTDas schließt aber nicht aus, dass da ein Wünschen ist.
Liest man diesen Text mit entsprechender Zeichensetzung als:
Wie man sich auch entscheidet, so ist doch die Deutung, dass es jemanden gibt, der immer und stets ohne Wunsch und Begehren ist
常無欲 - stets nicht Wünsche - eine Fiktion. Die Daoistischen Weisen, die in den Bergen leben und immer und stets im Zustand der "
en Weisheit" leben, sind ein Mythos. Solange der Mensch lebt, wird er in der Welt der 10 000 Dinge mit all ihren Beschränkungen und Begrenzungen, den Wünschen, Hoffnungen und sorgen leben. Aber er wird, sofern er ein Weiser ist, immer wieder in die Welt des Geheimnisses schauen. Vermutlich ist auch überhaupt nicht das Wünschen, Wollen oder Begehren eines Menschen gemeint. Im indischen Rigveda X.129 findet sich ein Text, der vom Ursprung der Welt spricht. Nicht existierte Nichtseiendes, noch auch existierte Seiendes damals - nicht existierte der Raum, noch auch der Himmel jenseits davon.
Man kann die Frage nicht stellen, ab WANN sich dieses Wünschen einstellte. Augustinus denkt in seinen Confessiones nach, wann die Welt entstanden ist. Für ihn ist es Gott, der die Welt geschaffen hat. Aber plötzlich taucht in seinem Gedankengang eine ketzerische Frage auf: Hesiod, ein Zeitgenosse Homers, beginnt seine Theogonie mit einem ähnlichen Gedanken. Es ist offenbar ein Urtrieb oder Urwille, der alles zum Entstehen treibt. Am Anfang ist das Chaos - die gähnende Leere, die alles in sich verschlingt, das schlechthin Ab-Gründige. "Sogleich darauf" - αυταρ επειτα - entstand Gaia, die Mutter Erde, mit ihren breiten Brüsten ein fester Sitz für die Sterblichen und die Unsterblichen. Gleichzeitig mit ihr entsteht Eros, das Verlangen nach Vereinigung und dem Anderen. Nur durch das Wirken von Eros kommt die ganze Weltentstehung in Gang. Ohne diese Energie oder Triebkraft entstünde nichts. Das "Sogleich darauf" (autar epeita αυταρ επειτα) meint keine zeitliche Abfolge, es bezeichnet eher eine Rangfolge. "Zuerst" ist das abgründige und bodenlose Chaos. Gleich darauf die feste Erde, die den festen Grund für alles Seiende bildet. Chaos das NICHT, Gaia, des SEIN. Eros ist die Triebkraft, der Wille, der Wunsch nach Entstehen. Im Daodejing ist es offenbar das "stets Nicht", das wünscht, sich als Geheimnis zu zeigen.
Diesem Wunsch dessen, was stets Nichts ist, entspricht der Mensch mit seinem Wünschen. Im Rigveda heißt es dazu, dass die Dichter in ihrem Herzen forschend und nachdenkenddie Nabenschnur zu diesem wünschenden Nichtsein fanden. Die Nabelschnur ist es, die den Menschen mit der Mutter, mit seinem Ursprung rückverbindet. Der Mensch, der sich leer macht von eigenen Wünschen, vernimmt das Wünschen dessen, das sich als NICHTS und als Geheimnis zeigen möchte. Dieses Ur-Wünschen ist nicht irgend wann einmal entstanden und nun längst abgeschlosen. Es geschieht immer und stetig überall. Alle Wesen und damit alle Menschen spüren den Ur-Wunsch in sich, das Geheimnis zu schauen. Es ist nicht ihr persönlicher Wunsch. Es ist der Wunsch, der in allem wirkt, was ist und in allem, was nicht ist! Denken und ErkennenIm Rigveda heißt es, das die Dichter durch NACHDENKEN die Nabelschnur zum anfänglichen Wünschen fanden. Dieses Nachdenken ist sicher kein alltägliches Grübeln oder rechnendes Denken. Im fraglichen Vers des Daodejing ist auch von einer Art Nachdenken die Rede, dem GUAN 觀. Im Schriftzeichen ist das Radikal 見 für Sehen, Beobachten enthalten. Als einzelnes Schriftzeichen bedeutet das Radikal jian das Sehen oder beobachten. Es kann aber auch ein geistiges Sehen bedeuten wie "Idee" oder "Hoffen".Was dieses GUAN 觀 sein kann, gibt eine Beschreibung aus dem I Ging wieder. Das Zeichen Nr 20 heißt GUAN. Gia Fu Feng übersetzt Guan als 'Beobachten'. Im Text des I Ging zum Zeichen steht eine Beschreibung für Beobachten (Übersetzg.: Gia Fu Feng):
Beobachten die Unteren die Oberen, sehen sie eher ihre Herzen als ihre Gesichter. Ein solches Beobachten ist im Buddhismus die Einsicht in das Wesen der Dinge. Wer so das Wesen der Dinge sieht, hat prajnã (skrt.), Einsicht. Das Erlangen des prajnã ist gleichbedeutend mit der Erleuchtung, die vollkommene Einsicht - das prajnã paramita ist ein Merkmal des Boddhisattva. Das Schriftzeichen GUAN 觀 - beobachten, nachdenken bezeichnet im Daoistischen Bereich die Meditation. Die meditative Sicht nimmt nicht nur "beobachtend" das nicht Sichtbare, das Geheimnis des Nicht, sondern ebenso die Dinge in ihren Begrenzungen wahr. Eine buddhistische "Übersetzung" ist das 般若 Hannya, von dem das Maka Hannya haramita shin gyo - das Herzsutra spricht. Das Hannya haramita ist das Hinübergehen in die Freiheit des Satori. HIer ist die Erkenntnis, dass die Erscheinungen und die Leere Eins sind (shiki soku ze ku). Das GeheimnisSelbst der "Heilige Mensch" oder der Weise hat Wünsche. In den meditativen Situationen kann man loslassen und wunschfrei sein. In einem solchen Zustand "sieht" man das "Geheimnis". Es ist eine akademische Frage, ob das Wünschen, von dem im Daodejing die Rede ist, ein subjektives Wünschen des Erkennenden oder ein Wünschen dessen ist, das erkannt werden möchte. Der Mensch, der sich leer macht, reicht in die dunklen Tiefen des Nicht, er wird EINS mit dem Nicht und sieht das "Geheimnis" 妙. Zurückgekehrt in die Welt des Alltags und der 10 000 Dinge sieht er jiao 徼 Begrenzung.Das Schriftzeichen myo 妙 in der üblichen Schreibung zeigt das Radikal für Frau 女 und klein, winzig 少. Eine frauenfeindliche Deutung sagt, das etwas schon sehr klein sein muss, damit es von den Frauen als Geheinmis gewahrt werden kann, so klein und fein, dass es eigentlich nicht mehr wahrgenommen werden kann.
Aber eine andere und ältere Schreibweise setzt "Geheimnis" anders zusammen. Wieder ist es Etwas, was klein und fein, sehr subtil ist. Aber das Zeichen für Frau ist verschwunden. An dieser Stelle steht 玄 XUAN, japanisch: GEN das Dunkle und un-scheinbare.
In den indischen Upanishaden - den Belehrungen zu Füßen des Meisters -findet sich eine sehr berühmte Textstelle über dieses Kleine, Feine, die Wurzel des Geheimnisses.
1. "Hole mir dort von dem Nyagrodha-Baume eine Frucht." In moderner physikalischer Sprache könnte man sagen, dass der Weise Aruni das fraktale Prinzip erklärt. Die selbe Struktur zieht sich vom Großen und Sichtbaren bis hin in da Kleinste, Feinste und Unsichtbare. In der DNA, dem Samenkorn, dem Blatt und dem ganzen Baum verwirklicht sich die selbe Struktur. Wenn ein Baum die Möglichkeit hat, sich ungestört als Solitär zu entfalten, nimmt er in seiner gesamten Gestalt die Form des einzelnen Blattes an. Selbst mehrere Bäume der gleichen Art, die in einer Gruppe zusammenstehen, wachsen als Gesamtgruppe in der Form des Blattes. Dies erkennt man nur im Wechsel des Blickes. Die kleine Struktur ist nur zu erkennen, wenn man ganz nahe herangeht bis ins Kleine, Feine, die Gesamtgestalt erkennt man nur im Zurücktreten und aus dem Abstand. Kennt man die kleine Form nicht, so erkennt man im Abstand auch nicht die Ähnlichkeit der Gesamtgestalt mit diesem Kleinen und umgekehrt. Nur im ständigen Wechsel der Sichtweise erkennt man sowohl das Große als auch das Kleine, man erkennt das Kleine, Feine, das sich im Gesamten wiederfindet. In den anderen Khandas werden andere Aspekte des Âtmâ, des 'Tat tvam asi' besprochen. Das elfte Khanda sagt, das Âtmâ ist das Leben, das dreizehnte gibt im Beispiel von Salz, das in Wasser aufgelöst wird, scheinbar verschwunden aber überall anwesend, ist die Allgegenwärtigkeit des Âtmâ.
Durch die beiden möglichen Schreibweisen für 'Geheimnis', einmal mit dem Radikal für Frau 女 in der üblichen Schreibung 妙 und in der Schreibung mit 妙 der Schreibung als verbindet diese beiden Verse in einer besonderen Weise mit den Versen davor und danach. Vorher war die Rede vom Ursprung von Himmel und Erde 始, später ist die Rede vom Dunklen, dem 玄. Die Schreibung des 'Geheimnisses mit dem Radikal für Frau verbindet es mit dem Ursprung, die Schreibung mit dem Radikal für das Dunkle mit der späteren Aussage über das allgemeine Tor zum Geheimnis, dem 玄之又玄 - xuan zhi you xuan, japanisch: gen mata gen. Sehr deutlich wird die Bedeutung des "Geheimnisses" in der anderen Schreibweise. Das Radikal auf der linken Seite bezeichnet das Dunkle, Un-scheinbare, über das in den späteren Versen noch ausführlich gesprochen wird. Das Schriftzeichen für das Unscheinbare ist ursprünglich der Kokon einer Seidenraupe. Im Inneren des Kokon, von außen völlig unsichtbar geschieht die Verwandlung der Seidenraupe zum Schmetterling. Im Unscheinbaren wirkt eine geheimnisvolle Kraft, die ALLES werden und zur gegebenen Zeit ins Sein hervorkommen läßt. Im Inneren des Unscheinbaren reift ein Werdendes heran, dass dann später in voller Schönheit an das Licht hervortreten wird. Dieses Geheimnis wird sichtbar, wenn sich der Betrachter meditierend in die Stille zurückzieht und das Nichts als das Geheimnis allen Seins erfährt. Die Außenseite und die DingeIm zweiten Vers dieses Verspaares ist die Rede von der Außenseite.
常有欲以觀其徼 chang you, yu yi guan qi jiao. Es ist keine Rede von einem geradezu sträflichen Behaftet sein mit Wünschen in dessen Folge man nur die - negative - Außenseite sieht. Die 10.000 Dinge sind nur, wenn sie sich voneinander abgrenzen. Die Abgrenzung verleiht ihnen ihre Individualität. Beide Seiten, das NICHT mit seinem Geheimnis und das SEIN mit seiner begrenzten Außenseite bedingen einander. Das Eine kann ohne das Andere nicht sein. Der Holländer Duyvendak übersetzte 1949 die beiden Verse vom NICHT und dem SEIN: For, indeed, it is through the constant alteration between Non-being and Being that the wonder of the one and the limitation of the other will be seen. Anmerkungen: Hesiod, Theogonie: zurück ή τοι μὲν πρώτιστα Χάος γένετ', αυτὰρ έπειτα
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