KUNST ALS ÜBUNGSWEG

Ohne weltliches Amt, ohne Einkünfte aber auch ohne Bindung an eine bestimmte buddhistische Richtung, Ordensregeln oder ein Kloster lebte er als Einsiedler nach eigenen Vorstellungen. Dies ermöglichte ihm, sich weiterhin mit der Kunst zu befassen.

"‘Am Morgen, wenn die Spanne des Daseins so kurzlebig erscheint wie die Wellenspur eines Bootes‘ schaue ich gen Okanoya auf das Kommen und Gehen der Kähne und lasse mich von diesem poetischen Bild des Mönchs Mansei zu eigenen Gedichten inspirieren. An Abenden, wenn der Wind die Blätter des Katsura-Baumes zum Singen bringt, erinnere ich mich der Geschichte vom Fluß Xinyang, wo einst Po Chü-i sein Lautenlied schrieb, und spiele meine Biwa im Stile der Katsura Schule ... Wenn ich noch Muße habe, stimme ich meine Koto nach dem Klang der Kiefernnadeln ... oder zupfe zum Tönen des Wassers auf meiner Biwa die "Melodie des fließenden Quell". Zwar ist mein Spiel eher ungeschickt, doch ich musiziere nicht, um andere zu unterhalten. Ich spiele allein, ich singe allein, und dies dient lediglich der Erquickung meines eigenen Herzens."

Das ist eine neue Erscheinung in Japan. Kamo zieht sich zurück in seine Einsiedlerklause und übt sich in den Künsten. In einem Bambusregal verwahrt er in seiner Hütte "Werke zur japanischen Poesie und Musik", daneben steht seine Koto und seine Biwa. Wenn es dichtet und musiziert, fühlt er sich der Tradition verpflichtet. Die Tradition ist aber nicht mehr ein Regelwerk und ein Spiel mit Konventionen oder Gefühlen. Vom Dichter Nôin-hôshi, der ein Reisetagebuch verfaßt hatte, erzählte man, daß er sein Haus nie verlassen hatte. Er habe sich lediglich verborgen gehalten und seine Hände zum Bräunen aus dem Fenster gehalten, damit er sie später als Beweis für seine Reise vorzeigen konnte. Tiefe Gefühle beschreibt man einfach besser, wenn man zu Hause an seinem Schreibtisch sitzt und nicht von den Beschwernissen des realen Lebens geplagt wird. Kamo dichtet nicht über seine Gefühle, er erlebt das Einsiedlerleben in aller Rauheit und Härte am eigenen Leibe.

Aber er musiziert und dichtet nicht mehr für Publikum sondern nur noch "zur Erquickung seines eigenen Herzens". Er muß nicht mehr sklavisch auf die Erfüllung der Konventionen achten. Wenn er dichtet, schaut er auf die Bilder der Landschaft, wenn er musiziert, hört er auf die Stimmen der Natur, den Wind und die Geräusche des Wassers. In der Bindung an das ALTE und dem zu-gehören auf das JETZT (kô kon – Alt Heute) gewinnt er eine neue Kreativität und Spontaneität. Das Üben der Künste – nicht das Einhalten von Ordensregeln und Geboten - wird für ihn zu einem WEG zur Befreiung und Sammlung.

Tatsächlich sind die frühen Werke Kamos eher konventionell. Jetzt, in seiner Hütte, schafft er einen neuen Stil der japanischen Literatur. In der Mischung von chinesischen Stil- und Sprachelementen und Zitaten aus klassischen Werken, gepaart mit der japanischen Umgangssprache gelingt es ihm, völlig neuartig für Japan, persönliche Gefühle in der Alltagssprache auszudrücken.

"Manchmal, einsam im Schweigen der Nacht, betrachte ich den Mond von meinem Fenster und sehne mich nach den Freunden von einst. Und beim Schrei der Affen nach ihren Gefährten benetze ich meine Ärmel mit Tränen. Das Blinken der Glühwürmchen in den Sträuchern verwechsle ich mit den Fackeln der Fischerboote im fernen Makinoshima. Und das Rauschen des Regens in der Morgendämmerung klingt gleichsam wie der Herbststurm, der durch die Blätter fährt. Höre ich den Fasan kollern, frage ich mich: Gilt’s dem Vater? Gilt’s der Mutter? Und daran, wie die Hirsche vom Gipfel sich an meine Nähe gewöhnt haben, erkenne ich, wie weit von der Welt ich mich entfernt habe.
Wenn ich wieder einmal in der Mitte der Nacht erwache, schüre ich das unter der Asche begrabene Feuer und mache es zum Gefährten der Schlaflosigkeit des alten Mannes. Dies ist kein schauriger Berg, so daß selbst der unheimliche Schrei der Eule mein Mitgefühl erregt. Die Ansichten des Berges, sich wandelnd mit jeder Jahreszeit, sind mir unerschöpflicher Reiz. Wieviel mehr noch müssen sie einem Menschen von tiefer Empfindung und erhabener Einsicht bedeuten!"

Während Kamo im ersten Teil dieses Textes die Erinnerung an die Vergangenheit wachruft, beschreibt der zweite Teil in völlig neuen Bildern die rauhe Schönheit des Jetzt: kô – kon, Einst und Jetzt sind es, die ihn in seiner Poesie nähren.

Dieser kurze Text enthält wesentliche Elemente das späteren wabi Ideals, das zum Leitbild des Teeweges wird: Abgeschiedenheit, Bescheidenheit, Einfachheit, Genügsamkeit, Selbstbescheidung, Anspruchslosigkeit, Kargheit, Dürftigkeit, kühle Nüchternheit.

Die Trauer, von der dieser Text durchzogen ist, wird durch eine ungeheure Ästhetik aufgehoben. Das Feuer der Leidenschaft lodert nicht mehr hell und verzehrend, es ist begraben unter der Asche und wird zum einsamen Gefährten des alten Mannes in der Kühle der Nacht. Die Freunde und die Eltern sind zwar fern, aber der alte Mann ist im Gedenken an sie nicht einsam. Der Berg ist nicht schaurig, so daß der Schrei der Eule Mitgefühl erregt, Mitgefühl mit allen Dingen, die ihn umgeben. Dies ist das alte mono no aware, das Erstaunen über die Schönheit des Vergänglichen. Aware ist ursprünglich ein Ausruf des Erstaunens: Ein Ding, eine Sache (mono) erscheint – und schon ist es wieder vorbei – Ah!

Aware setzt voraus, daß eine Sache wahrgenommen wird, man ist angerührt vom Erscheinenden und wie in einem Schreck ist es wieder vorbei. Man hat überhaupt keine Zeit mehr, in eine kühl distanzierte Haltung zurückzutreten und nach Kunstregeln zu urteilen. Unmittelbar und unwillkürlich und völlig selbstvergessen wird die Antwort ausgerufen: "Aware!" Schönheit ist aber nichts glattes und glänzendes, sondern eher rauh und abweisend: der Ruf der Eule ist nicht heimelig sondern eher schaurig, dennoch – oder vielleicht gerade deshalb ruft er einen Nachklang im eigenen Herzen hervor und erregt er das Mitgefühl. Einst brauchte er die Gesellschaft der Freunde, jetzt genügt es ihm die Schönheit der Veränderung der Berge in der Zeit zu betrachten. Diese Schönheit zeigt zwar auch die Vergänglichkeit, aber sie birgt in sich eine große Ruhe: yama shizuka no kotoschi – Der Berg ist ruhig seit alters – immer! Aber, so sagt Kamo voller Bescheidenheit, vielleicht haben Andere (Erleuchtetere?) tiefere Empfindungen und erhabenere Einsichten als ich.

Die Ästhetik dieser Trauer birgt in sich große Gefahren. Kamo hängt sein ganzes Herz an die Schönheit seiner Klause und der Abgeschiedenheit. Er wollte die Vergänglichkeit ganz und gar leben, "doch nun sind schon fünf Jahre vergangen. Meine einstweilige Herberge ist mir mit der Zeit ein liebes Zuhause geworden. Tief liegen die verwelkten Blätter in der Traufe, und das Fundament ist von Moos überwachsen." Wenn sein Weg ein buddhistischer Weg der Befreiung sein soll, darf er sein Herz nicht an irgendwelche Dinge hängen. "Die Essenz der Lehre Buddhas ist: Was immer du auch tust, an nichts hänge dein Herz! So gereicht es mit wohl selbst zum Fehler, daß ich meine Hütte liebe. Und es mag mir auch ein Hindernis für die Erleuchtung werden, daß ich an diesem Einsiedlerdasein hänge". Weit entfernt davon, sich endgültig von dieser Schönheit und dem Paradox, das sich auf dem Weg der Kunst als buddhistische Befreiung ergibt zu lösen, sagt Kamo: "Mein Leben neigt sich nun gleich dem Mond im Nachthimmel, nur wenig noch und er wird hinter dem Rand der Berge versinken. ... Welchen Sinn hätte es also, jetzt meine Taten zu beklagen?"

Warum sollte er, jetzt noch im Alter von 60 Jahren auf seinem Befreiungsweg den Sinn für die Schönheit fahren lassen?

"Mein Herz vermag mir keine Antwort zu geben. So setzt sich nun meine Zunge in Bewegung, und ich begnüge mich damit, den Namen Amida Buddhas, ohne Ansinnen, zwei- dreimal zu singen".

Als wir zur Regenzeit in einem Kloster in Kyôtô als Gäste meditierten, wurden wir zum Sesshin eingeladen. Der alte Mönch sagte: "Jetzt ist Regenzeit und Vollmond. Es ist so wunderschön, wenn wir beim Meditieren auf das regenglänzende Moos schauen, auf dem sich der Mond spiegelt!" "Man soll aber doch beim meditieren nicht auf die Schönheit der Dinge achten!" "Ja schon – aber trotzdem!"


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