Teeweg - Monatsbrief Juni 2012

Drachen ohne Ende

Eigentlich hatte ich nur ein kleines Büchlein mit lustigen oder nachdenklichen Geschichten über Drachen in China und Japan schreiben wollen. Aber nun sitze ich schon fast ein Jahr an dem Buch, das immer dicker wird. Und es scheint so, als würden die Drachen die regelmäßigen Monatsbriefe förmlich verschlingen. Auf jeden Fall nehmen sie die Gedanken und fast meine ganze Arbeitskraft gefangen, so dass neben den Drachen nicht mehr viel Zeit bleibt. Nur noch wenn Schüler der Teezeremonie oder für Meditation her kommen, wird die Arbeit an den Drachen unterbrochen. Aber das ist dann eine willkommene Abwechslung.

Inzwischen schreibe ich an Themen wie: Drachen und der Mond, Drachen als mythisches Bild der DNA, Drachen in der Chinesischen Medizin usw. Eine kurze Kostprobe aus dem Buch soll den Monatsbrief für den Juni / Juli bilden.

Drachen als göttliches Wesen und Verkörperung der Natur.

In einer Schrift, die dem chinesischen Meister Guan Zhong 管仲 (+ 614 v.Chr.) zugeschrieben wird, findet sich eine wichtige Beschreibung von Drachen. Guan Zhong war 14 Jahre lang Kanzler im Reich der Qi, nach denen China seinen Namen erhalten hat, also auch in der Politik eine wichtige Person. Die Schrift wurde aber vermutlich erst nach seinem Tod zusammengestellt. Dort heißt es:

Die Wesen, welche im Dunkel verborgen, leben oder sterben können sind: die Schafgarbe, die Schildkröte und die Drachen. Die Schildkröte wurde im Wasser geboren, aber im Feuer gibt sie preis, was sie weiß. So wird sie das erste aller Wesen, der Regler von Unglück oder Glück, Der Drache im Wasser verbirgt sich durch die fünf Farben. Deshalb ist er göttlich (shen 神). Wenn er klein sein möchte, nimmt er die Gestalt eines Seidenwurms an. Wenn er groß sein möchte, verbirgt er sich in der gesamten Welt. Wenn er zu erscheinen wünscht, streicht er durch die Wolken, wenn er verschwinden möchte, verbirgt er sich in tiefen Brunnen. Er, dessen Erscheinungen nicht durch die Tage begrenzt ist und dessen Erscheinen oder Verschwinden nicht durch die Zeit beschränkt wird, wird ein Gott (shen 神) genannt.

Das Dunkel, in dem die drei genannten Wesen existieren, ist der Urgrund von allem. Nur im Dunkel verborgen bereiten sich die wichtigen Dinge vor: Das Kind im Mutterleib, der Keimling der Pflanze und alles, was entstehen will.
Das erste „Wesen“ ist die Schafgarbe, aus deren Stängel man die Stäbe für das I Ging Orakel schneidet. Das zweite Wesen, die Schildkröte, hat ebenfalls mit dem Orakel zu tun. Sie ist im Wasser geboren. Aber um das Orakel zu erhalten, erhitzte man ihren Panzer. Aus den Sprüngen, die im Feuer entstanden, schloss man auf günstige und ungünstige Vorzeichen. Darum ist die Schildkröte, „das Erste der Wesen, der Regler von Glück und Unglück.
Die Drachen sind mit dem Wasser verbunden. Sie verbergen sich im Wasser durch die „fünf Farben“. Diese Farben sind Blau, Grün, Rot, Weiß und Gelb. Sie stehen für die fünf Elemente Wasser, Holz, Feuer, Metall und Erde. Es gibt Drachen in allen diesen Farben, aber der Text meint, dass sich die Drachen verbergen, indem sie ALLE fünf Farben annehmen, das heißt, indem sie sich in den Fünf Elementen verbergen. Das heißt nichts anderes als dass sie alle fünf Elemente - oder mit anderen Worten die ganze Welt sind. Wenn die Drachen groß sein wollen, „verbergen sie sich in der gesamten Welt“. Man kann also sagen, dass die Drachen alles sind, die kleinsten Dinge, die gesamte Welt, alle Elemente und alle Wesen. Das ist eine philosophische Aussage, die in China sonst nur über das Dao selbst gemacht werden.
Alles ist Dao, das sich selbst aber immer im Dunkel verbirgt. Es erscheint lediglich in den verschiedensten Formen der Dinge der Welt. Wir sehen Berge und Täler, Wasser und Pflanzen, Menschen und Tiere, aber niemals das Dao. Aber alles ist Dao.
Der japanische Zenmeister Dōgen hat ein wunderschönes Bild gegeben, mit dem er das Wesen der Buddha - Natur beschreibt. Dieses Bild könnte vielleicht auch für den Drachen passen, wie er bei Meister Guan Zhong beschrieben wird. Im Buddhismus sagt man, alle Wesen haben Buddhanatur. Aber es ist die Frage, ob jedes Wesen dann immer nur einen kleinen Teil der gesamten Buddha - Natur hat und ob die Buddha - Natur nur vollkommen ist in der Versammlung aller existierenden Wesen.
Dōgen sagt, die Buddha - Natur ist wie der Mond, der sich in einem Tautropfen spiegelt. Nein, er spiegelt sich nicht. Dōgen sagt, der Mond »ist in dem Tautropfen«. Nicht ein Teil vom Mond, sondern der Mond ganz und gar. Und in allen Tautropfen ist der selbe Mond, ebenfalls ganz und gar. Der Mond ist im Tautropfen, aber er wird nicht nass und der Tautropfen wird nicht von der Größe des Mondes gesprengt. Alle Wesen haben Buddha - Natur, auch der Übeltäter. Dōgen schreibt, dass sich der Mond auch in einer schlammigen Pfütze befindet, aber er wird nicht schmutzig. Aber kann ein Verbrecher wirklich ein Buddha sein bzw. die Buddhanatur in sich tragen?
An einer anderen Stelle seiner Schrift untersucht Dōgen die »übernatürlichen Kräfte«. Im Buddhismus gab es Richtungen, in denen man glaubte, durch die Meditation übernatürliche Kräfte entwickeln zu können. Man hoffte, fliegen zu können, an mehreren Orten zugleich sein zu können, Gedanken lesen zu können und ähnliches. Aber Dōgen sagt, die übernatürlichen Kräfte des Buddhisten sind die Fähigkeit, Wasser zu holen oder Feuer anzuzünden, also ganz alltägliche Dinge. Ist es wirklich so alltäglich, dass wir Feuer anzünden können? Ist es nicht ein Wunder, wie sich Brennholz in Licht und Wärme verwandelt?
Jeder Mensch hat die Fähigkeit, Wasser zu holen oder Feuer anzuzünden, so wie er auch die Buddha - Natur hat. Aber wenn wir nicht zum Brunnen gehen und das Wasser holen, dann wird diese Fähigkeit nicht »verwirklicht«. Ebenso ist es mit der Buddha - Natur: sie muss verwirklicht werden. Sie wird verwirklicht durch die Übung der Meditation. Dōgen sagt, wir üben uns nicht in der Meditation, um ein Buddha zu werden. In dem Augenblick, in dem wir uns entschließen zu üben, SIND wir ein übender Buddha.

Sollte Meister Guan Zhong meinen, dass der Drache in allen Wesen ist, so wie der Mond im Tautropfen? Ist der Drache deshalb »göttlich«? Er ist nicht göttlich, weil er wie ein Gott verehrt würde. Dann müsste man Altäre bauen und zu den Drachen beten. Aber das ist niemals geschehen. Der Drache ist deshalb göttlich, weil er ein Teil der Wesensnatur von allem ist, was existiert. Jeder Mensch hätte dann die Drachennatur. Er müsste sie nur leben.

Drachen können in jeder beliebigen denkbaren Form erscheinen, nicht nur in der bekannten Form der Drachen, so wie sie meistens dargestellt werden. In einem alten chinesischen Lied heißt es:

Es gibt kein Wesen, dass weiser ist als ein Drache.
Seine segensreiche Kraft ist niemals unwahr.
Er kann kleiner sein als klein oder größer als groß.
Er kann höher sein als hoch oder tiefer als tief.
Er ist ein himmlisches Wesen, so wie das Pferd ein irdisches Wesen ist.
Wenn der Drache klein sein möchte, nimmt er die Gestalt eines Seidenwurms an. Wenn er groß sein möchte, verbirgt er sich in der gesamten Welt.

Er kann kleiner sein als klein oder größer als groß. Er kann höher sein als hoch und tiefer als tief. Das klingt wie die Beschreibung einer fraktalen Struktur, wie die moderne Wissenschaft sagt. In einem fraktalen Weltmodell wiederholt sich die selbe Struktur von der kleinsten Größe bis hin in die größtmögliche Form. Wenn man einen Blumenkohl genauer anschaut, so erkennt man immer wieder die selbe Form, vom gesamten Kohlkopf hin bis zum kleinsten Röschen. Die Struktur des Atoms wiederholt sich am Sternenhimmel in der Form von Sonnensystemen.
Der Drache erscheint als gewaltiges, sich windendes Wesen am Himmel. Im Frühjahr steigt er spiralförmig auf zum Himmel, im Herbst steigt er ab und verschwindet im Wasser. Die DNA, das Erbgut, in dem alle Lebensinformationen enthalten sind gleicht einer Doppelhelix. Der eine Teil der Helix windet sich nach oben, der andere steigt ab nach unten.
Der Drache als Bild der DNA? Konnten die Menschen des Altertums solche Zusammenhänge erkennen? Das war nicht nötig, denn sie haben die großen Erscheinungen der Natur studiert, mit den Erfahrungen ihres eigenen Lebens verglichen und die Strukturen des Lebens im Bild des Drachen geformt. Man muss ja den Blumenkohl nicht bis in das kleinste Röschen untersuchen. Es genügt, den gesamten Kopf anzuschauen und man weiss, wie die kleinsten Teile aussehen.

Shen: Gott oder Geist

Guan Zhong bezeichnet die Drachen als shen - göttlich. Aber das chinesische Wort shen 神 muss nicht unbedingt einen »Gott« bezeichnen. Das Wort wird in Japan als Shin oder Kami gesprochen. Die einheimische japanische Religion ist der Shin-Tō, der WEG der Shin. Aber niemand in Japan weiss genau, was ein Kami oder Shin ist. Es kann eine Naturerscheinung sein, ein Gras, ein Baum oder ein Felsen. Es kann eine geheimnisvolle Macht bezeichnen oder einen Vorfahren, der nun als Kami ein Schutz gewährt.
In der alten Siegelschrift sieht man links einen steinernen Altar, rechts vermutlich einen Blitz in Wolken. Der Blitz kommt vom Himmel und ist eine Energie des Himmels, eine Manifestation eines Gottes. Das Schriftzeichen zeigt vermutlich eine Opferung auf einem Altar für eine Gottheit.
Das Wort shen wird aber auch in der traditionellen chinesischen Medizin verwendet. Im Buch des Gelben Kaisers über die Medizin("Die Medizin des Gelben Kaisers“ 黃帝內經 Huángdì Nèijīng) heißt es über die Entstehung des Shen:

»Der Himmel dauert, daher haben wir Tugend. Die Erde trägt, so haben wir Qi. Wenn die Tugend fließt und das Qi sich mischt, so entsteht Leben.«

Tugend ist das chinesischen De 德 aus dem Dao - De - Jing, dem Buch vom Dao, dem WEG und dem DE, der ‚Tugend‘. Tugend ist kein moralischer Begriff. Eher passt das angelsächsische ‚virtue‘, das sowohl Tugend als auch Wirkung, Kraft meinen kann. Die Beständigkeit des Himmel, der in der steten Wiederkehr beständig ist, verleiht »Tugend«, also die Fähigkeit, etwas zu bewirken. Die Erde trägt und nährt, sie verleiht Qi. Qi ist eine »Energie«, die in der gesamten Wirklichkeit fließt, auch im menschlichen Körper.
Wenn sich das De und das Qi mischen, so entsteht Leben. Wenn Leben entsteht, so bilden sich drei unterschiedliche »geistige Kräfte«, ein Po, ein Hun und schließlich Shen. Po und Hun sind oft als »Seele« übersetzt worden. Als erstes entsteht ein Po 魄, eine »weiße Seele«. Ursprünglich war dies wohl der Mond mit seinen wechselnden Phasen. Po ist untrennbar mit dem Körper verbunden. Es ist die lebendige Form, die mit dem Tode sich langsam wieder auflöst. Der Körper ist nicht als ein totes Ding gesehen, es ist die »Po - Seele des Lebens«. Oft wird Po als animalische Seele übersetzt. Es existiert weiter, auch wenn der Mensch etwa im Koma liegt und keinerlei Bewusstsein mehr hat. Sogar bei einem Hirntod hält Po den Menschen noch am Leben. Auch wenn der Mensch gestorben ist, bleibt Po noch eine Weile erhalten bis der Körper zerfallen ist.
Als nächstes bildet sich Hun 魂,, das eher zu der abendländischen Vorstellung der Seele passt. Die Hun - Seele kann den Körper verlassen, etwa im Traum oder in der Meditation. Sie kann zum Himmel fliegen oder die Unendlichkeit genießen. Aber Hun verschwindet in dem Augenblick, in dem der Mensch stirbt.
Wenn sich Hun und Po mischen, entsteht shen 神, der »Geist«. Shen hat einen festen Sitz im Körper. Es wohnt im Herzen und in den Blutgefäßen. Es »kontrolliert die Harmonie zwischen den zehntausend Dingen und dem Herzen«. Shen gibt die Fähigkeit, die Dinge der Welt zu erkennen und zu sehen. Es lässt aber die Dinge nicht nur mit den leiblichen Augen sehen, sondern ganz besonders mit dem Herzen. Im Abendland würde man vermutlich sagen, es ist der »Geist«, das nämlich, das uns die Welt erkennen lässt und ins Bewusstsein bringt.
Shen hat seinen Sitz im Herzen, xin, Japanisch shin 心. Shin wird oft übersetzt als Herz - Geist. Das Wort sī 思 bedeutet ‚denken, nachdenken‘. Das Schriftzeichen zeigt oben ein Feld 田, darunter das Zeichen für Herz 心. Das Denken bearbeitet das Feld, auf dem dann die Ernte eingebracht wird. Aber es ist nicht nur das rationale Denken, das mit Zahlen oder kalkulierbaren Ereignissen operiert. Das Denken ist zugleich ein Empfinden und lieben oder hassen. Im Chinesischen gibt es ein Sprichwort das lautet:

飲水思源 - yǐn shuǐ sī yuán.
In der wörtlichen Übersetzung:
»Trinken Wasser - denken Quelle«, »
Wenn du Wasser trinkst, gedenke der Quellen.

Dieses Denken ist nicht nur ein Denken, dass zu Kenntnis nimmt, dass da eine Quelle oder ein Ursprung ist. Dieses Denken ist ein Ge-denken, es ist erfüllt vom Dank, einem Dank, der den Ursprung hütet und ihm immer verpflichtet bleibt. Das althochdeutsche Wort Ge-danc für den Gedanken lässt noch den Zusammenhang zwischen dem Denken und dem Danken erkennen.
Shen ist also nicht nur ein »Gott«, es ist auch das menschliche Bewusstsein und die Kraft des emotionalen Wahrnehmens. Im Buch des Gelben Kaisers gilt dem shen große Aufmerksamkeit, weil man es besonders beeinflussen kann und weil es, wenn es schwindet, Krankheiten verursacht. Rein äußerlich kann man das shen am Glanz der Augen erkennen. Wenn die Augen leuchten, deutet das auf ein lebendiges und waches shen. Wenn die Augen stumpf und glanzlos sind, ist shen schwach. Lebt man in zu großer Hektik oder hat viele Sorgen, schwächt sich shen. Nur wenn man an einem friedlichen Ort lebt und die meditative Stille pflegt, wird shen stark.

Wenn Meister Guan Zhong meint, dass die Drachen shen sind, dann sind es keine Götter oder Geister, es ist unser eigener Geist, der aus den Augen leuchtet und der uns mit dem Herzen sehen lässt. Es ist unsere geistige Lebendigkeit.

Drachen sind ALLES was existiert. Der chinesische Philosoph Huainanzi 淮南子 - Meister aus dem südlichen Huainan (180 - 122 v. Chr.) schreibt in seinem Werk über die Drachen:

Alle Wesen, ob geflügelt, behaart, mit Schuppen oder gepanzert haben ihren Ursprung im Drachen.

Also haben auch wir die Drachennatur. Wir müssen sie nur verwirklichen. Werden wir zu Drachen und lernen das Fiegen! Mindestens mit unserer Hun-Seele.

Termine

Am Sonntag, den 8.7.2012 findet die
Vernissage der Drachenausstellung
im Nürnberger Naturhistorischen Museum in der Norishalle statt.

Drachenausstellung NHG

Eintritt zur Vernissage nur mit Einladungskarte. Am Nachmittag ab 14.00 Uhr dann öffentliche Führungen durch die Ausstellung.
Weitere Führungstermine bitte der Webseite des Museums entnehmen.

Ein kleines Highlight bildet dann im Herbst das
Konzert "Gesang der Drachen"
Japanische Zen Shakuhachi, chinesische Bodenharfe und Texte aus dem Drachenbuch
Termin: 07.10.2012, 15.00 Uhr

JAPANREISE 2013

Osterferien 2013, zur Zeit der Kirschblüte.
Interessenten melden sich bitte baldmöglichst, weil die Unterkünfte in dieser Zeit in Kyoto sehr knapp sind. Wir müssen schon bald buchen!
Anfragen bitte an das Myōshinan


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Viele Grüsse an {name}

Gerhardt Staufenbiel (Teezeremonie Lehrer, Leiter des Myōshinan Dōjō)

in Zusammenarbeit mit chanomiya.com



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