Das Stück ist ein charakteristisches Lied aus dem Ichoken Tempel in Hakata. Es beginnt mit dunklen und leisen Tönen, die ganz langsam ansteigen. Sie schildern den Mond, der hinter Wolken verborgen ist und hin und wieder etwas aufscheint, um dann wieder zu verschwinden. Allmählich werden die Töne heller und klarer: Der Mond kommt langsam hinter den Wolken hervor und sein Licht leuchtet klar und rein. Nun glitzert das Licht auf den Wellen eines kleinen Baches und die Blätter der Bäume funkeln. Allmählich werden die Töne wieder dunkel - der Mond verschwindet schließlich vollkommen hinter den Wolken.
Früher einmal habe ich das Stück in Griechenland in einem weinumrankten Innenhof in einer Vollmondnacht gespielt.
Der Mond selbst war nicht zu sehen, aber sein silbernes Licht schimmerte sanft durch das wirr ins Dunkle gewundene Weinlaub. Die ganze Natur schien still und stiller zu werden, nur ein paar Vogelrufe waren zu hören.
Als das Stück verklungen war, lauschte ich noch lange dem Nachklang der Stille. Unwillkürlich fiel mir eine Zeile aus Rilkes Duineser Elegie ein:
„ Hast du nicht die Blätter gesehen, wie sie in tönendem Nachhall erzittern?“
Das Schriftzeichen 'Oboro 朧' im Titel wird mit einem Schriftzeichen geschrieben, das vorne den Mond zeigt und im hinteren Teil einen Drachen. Die Drachen leben im Wasser. Wenn sie aufsteigen, nehmen sie Dunst und Wolken mit auf ihrem Weg und bringen Regen. Man sagt: "Wo Drachen sind, sind auch Wolken." Geheimnisvoll und mastisch verbirgt der Drache den Mond, der selbst wie ein Drache ist.
Als Teemensch empfinde ich den verschleierten Mond als sehr verwand. Der Teemeister Murata Juko, der große Vorläufer Sen Rikyû’s hatte einmal geschrieben:
Tsuki mo kumoma no naki wa iya nite sôrô.
Den Mond ohne vorüberziehende Wolken mag ich nicht.
Damit beschrieb Murata Juko (ca. 1423 – 1502) ein ästhetisches Ideal des Teeweges. Nicht das Elegante, Glatte und Leuchtende, sondern das aus dem Verborgenen Aufscheinende ist die wahre Schönheit. So sind auch unsere Shakuhachi nicht glatt und elegant, sondern eher rau und ursprünglich. Ihre Schönheit bleibt denen, die nur das Elegante erwarten, verborgen. Sie zeigt sich erst dem geübten Blick, der sich auf das Ursprüngliche einstellt. Auch ihr Ton ist eher rau und geheimnisvoll dunkel als elegant und glatt. Aber seine raue Schönheit spricht unmittelbar das Herz an.
Vor einiger Zeit habe ich einen Text gefunden, den Myōe Shonin 明惠上人 (1173-1232) über den Mond hinter Wolken geschrieben hatte.
"Vogelnest - Myōe" meditiert in einer Baumkrone Hängerolle aus dem Kôsanji |
Eisai schenkte seinem Freund Myōe einige Teepflanzen, die er in einem Teegarten neben dem Tempel anbaute. Später kaufte Myōe – so will es wenigstens die Legende – ein Grundstück in Uji, um dort im milderen Klima Tee für seinen Tempel anzubauen. Dies ist der Ursprung des berühmten Teeanbaus von Uji.
Myōe beschrieb die „zehn Tugenden des Tee“:
Tee hat den Segen aller Götter,
er fördert die kindliche Pietät,
verjagt die Teufel,
vertreibt die Schläfrigkeit,
hält die fünf Organe in Harmonie,
stärkt die Freundschaft,
schult Körper und Geist,
zerstört die Leidenschaften
und schenkt einen friedvollen Tod.
Besondere Beziehung hatte Myōe zum Mond. Schon sein Name 明惠 enthält vielleicht eine solche Beziehung. 明 Myô – das Leuchten, das klare Licht und 惠 e – Gnade, Gunst, Segnung. Die Wolken, die den Mond verschleiern, waren für Myōe die Illusionen und Träume, die unser ganzes Leben prägen. Der klare Mond ohne Wolken steht für den Zustand des Erwachens aus den Träumen und Illusionen.
Das alltägliche Leben vor dem Erwachen als Traum und Rausch ist ein altes buddhistisches Thema, das schon im Iroha, dem japanischen Silbenalphabet gestaltet ist, das in Gedichtform aufgeschrieben wurde:
iro.ha nioedo chirinuru.o wa.ga yo tare zo tsune naran
ui.ga yo tare zo tsune naran
ui.no oku yama kyô koete
asaki yume miji ehi.mo sezu
Die Farben sind noch frisch,
doch sind die Blätter, ach, schon abgefallen!
Wer denn in unserer Welt wird unvergänglich sein?
Die Berge fernab von den Wechselfällen (des Lebens) heute überschreitend,
Werde ich keinen seichten Traum mehr träumen,
bin auch nicht berauscht.
Myōe schrieb über fast vierzig Jahre seine Träume und Visionen auf, vielleicht weil er in der Rückschau auf seine Visionen seinen persönlichen Weg ins Licht und die Klarheit zurückverfolgen wollte. Dieses Werk - Kōben Yume-no-Ki - findet heute wieder große Beachtung. Auch Psychologen interessieren sich für die Träume eines buddhistischen Mönches aus der frühen Kamakura Zeit, um Rückschlüsse auf die menschliche Natur zu ziehen. Über den Mond und die vorüberziehenden Wolken schrieb Myōe einen Text, der mir immer wieder zu Herzen geht. Manchmal erscheint mir dieser Text fast wie die Vorlage für unser Stück Oborotsuki.
Myōe schildert, wie er in der einsamen Bergwelt seines Tempels in der Winternacht meditierte. Das Datum, das er angibt, ist sicherlich ein symbolisches Datum. Die 12. Nacht des 12. Monats des Jahres 1224, wobei der zweite Teil der Jahreszahl wieder 2 x 12 ist.
Als er aus der Meditationshalle kam, erschien der Mond hinter den Wolken, die Illusionen waren verschwunden und er hatte zur Klarheit des Erwachens gefunden. Nicht einmal das Heulen der Wölfe bereitete ihm noch Furcht. Aber der Mond verschwand wieder hinter den Wolken, als er ins alltägliche Leben im „unteren Quartier“ zurückkehrte, so wie wir in den Wirren des Alltags wieder in die Wolkenwelt eintauchen. Erst, als Myōe erneut aus den unteren Räumen ‚überwärts’ nach oben in die Meditationshalle ging, kam der Mond wieder hinter den Wolken hervor. Es ist, als würde Myōe aus den Tiefen der Träume und Illusionen hinaufsteigen in die Klarheit des Erwachens. Als er dann oben angekommen war in der Meditationshalle, verschwand der Mond endgültig hinter den Bergen um einzugehen in die endgültige Klarheit des endlosen Dunkels, ins Nicht.
Oborotsuki - der verschleierte Mond
In der Nacht des zwölften Tages des zwölften Monats des Jahres 1224
War der Mond hinter Wolken verborgen.
Ich saß in Zen Meditation in der Kakyu Halle.
Als die Stunde der Nachtwache um Mitternacht kam
beendete ich die Meditation, verließ die obere Halle und ging in die unteren Quartiere.
Als ich so ging,
kam der Mond hinter den Wolken hervor.
Der Schnee leuchtete auf
und der Mond war mein Wegbegleiter
und nicht einmal das Heulen des Wolfes im Tal
ließ Furcht aufkommen.
Später, als ich noch einmal aus dem unteren Quartier kam,
war der Mond wieder hinter den Wolken verborgen.
Ich ging hinauf zum Hügel
und der Mond sah mich auf meinem Weg.
Ich trat ein in die Meditationshalle,
und der Mond, die Wolken vertreibend,
versank hinter den Gipfeln.
Und es schien mir, er bewahre das Geheimnis unserer Gemeinschaft.
Dies schrieb Myōe Shônin, Abt des Kôzanji Tempels in Kyôto